Vor dem Aufstieg kommt die Angst. Breitet sich wie eine Plage im Körper aus. Der Mandelkern im Hirn, die Amygdala, beginnt loszufeuern. Hetzt das Herz. Befällt die Brust, bis die Luftzüge kürzer, schneller werden. Marschiert in den Bauch, der sich zusammenzieht. Greift die Beine an, die nachgeben. Das Blut: verdickt. Die Körpertemperatur: erhöht. Hunger, Durst: nicht mehr spürbar. Alles im Körper schreit: Bloß weg hier! Dreh um! Angela Nikolau dreht aber nicht um, Iwan Kusnetsow auch nicht.
Nicht, als sie in Bangkok in den Taifun geraten und Windböen den Kran schütteln, an dem sie sich festkrallen.
Nicht, als sie auf dem Dachsims in St. Petersburg Krähen aufschrecken, die mit spitzen Schnäbeln ihre Brut gegen die menschlichen Eindringlinge verteidigen.
Nicht, als sie in China oben auf einer Baustelle über Iwans quietschenden Turnschuh kichern, während sie über den Wachmann steigen, der dort schnarcht.
Roofers sind sie. Roof bedeutet Dach auf Englisch, aber die Bezeichnung Roofers hat in Russland die allersteilste Karriere hingelegt: Nirgendwo soll es so viele von ihnen geben, hier entstand der Trend. Roofers, das klingt harmlos, nach Jugendlichen, die aus Spaß über die Dächer geduckter Altbauhäuser jagen. Aber Angela Nikolau und Iwan Kusnetsow bezwingen Dächer, Brücken und Kräne in absurden Höhen – und damit ihre Angst. Packen jedes Mal den Selfiestick in den Rucksack, die Drohne, um zu filmen, das Wasser, etwas zu essen. Den Fotoapparat mit dem Teleobjektiv oder die kleine GoPro für die Tasche. Die Kleider zum Umziehen für die Fotos, mal hochhackige Schuhe, mal den Badeanzug oder das Abendkleid. Die Angst spüren sie jedes Mal bei den ersten zwei, drei Schritten. Die sind die schwersten.
Ihr Weg beginnt, wenn er für andere endet: auf dem höchsten Punkt einer Baustelle oder wenn im Hochhaus der Fahrstuhl ganz oben anhält, bing, Tür auf. Manchmal müssen sie sich verkleiden. Ziehen sich Schutzwesten und Helme von Bauarbeitern über. Oder er zwängt sich in einen Anzug, sie besorgt sich eine Uniform vom Putzpersonal. Er fällt weniger auf als sie, die jünger aussieht als ihre 25 Jahre und auffallend klein ist. Wird sie erwischt, redet sie sich raus: Hab nur das Klo gesucht! Bei Frauen sind sie nachsichtiger, bei Männern rufen sie die Wachleute, die nicht zimperlich sind. Haben sie es aber aufs Dach geschafft, klettern sie los, ungesichert. Ganz oben legen sie ihre schmalen, muskulösen Körper auf Vorsprüngen ab, nur Zentimeter getrennt vom freien Fall: 300 Meter Tiefe, klick, ein Foto. Springen mit angelernter Leichtigkeit über schmale Abgründe, klick. Lassen die Beine baumeln, unter sich die City, klick. Umschlingen einander innig auf der Spitze eines Turms, der aus den Wolken ragt. Klick, klick.
Diese Bilder werden sie später posten, auf Facebook oder Instagram. Werden Filme auf ihrem YouTube-Kanal zeigen: Den aus Hongkong, der wie ein Musikclip daherkommt. Oder den, wie sie auf einem der höchsten Gebäude der Welt auf einem Turmkran posieren. Wie sie mit einem Fuß schon im Nichts schwebt und er sie zurückzieht. Wie sie einen Flickflack am Dachrand schlägt und dann weitergeht, als sei nichts gewesen. Zigtausende werden sie feiern für diesen Flirt mit der Gefahr: like, gefällt mir!
Die Schar der Anhänger bei Instagram: Mehr als 200.000 hat er, mehr als eine halbe Million hat sie, was sie zur wohl berühmtesten Rooferin Russlands macht. Frauen sind unter den Roofers noch immer eine Seltenheit, und Angela Nikolau weiß sich zu inszenieren. Bestätigt das Klischee, während sie es bricht. "Das Mädchen mit den gefährlichsten Selfies der Welt", heißt sie in britischen Medien. Ihr Instagram-Kanal ist ein Mix aus Mode, Reisen, Erotik und einem Hauch Todessehnsucht.
Und die Angst ist der Berater, immerzu dabei, nervend: Sei vorsichtig, kenne deine Kräfte. Sie wollen nicht sterben, im Gegenteil – sie wollen das Leben spüren.
Das Netz ist voll mit Videos auf russischen Websites, die davon erzählen, wie junge Menschen ihr Leben weggeworfen haben. Anfänger aus der Provinz, die auf den Fünfminutenruhm aus sind, erfahrene Profis, die sich bloß dieses eine Mal überschätzt haben. Die Seiten tragen reißerische Namen, als ginge der Wettbewerb im Tod weiter. Jugendliche klettern auf Hochspannungsmasten, bekommen einen Stromschlag, stürzen ab. Hüpfen über der Schlucht zwischen zwei Dächern hin und her, bis sie abgleiten. Stehen am Dachrand, verlieren das Gleichgewicht. Sie glauben, alles im Griff zu haben.
Sie irren.
Kommentare
Sorry für die Klugscheißerei, Alice, aber die Irren nennen sich Roofer und nicht Roofers.
Und ich finde das alles immer noch vergleichsweise besser als Steine zu werfen, täglich den Schuss zu geben oder die Stadt mit Spraydosen und Eddings zuzuschmieren. Zumal es ihr eigenes Ding ist und sie niemanden mit reinziehen bzw. schädigen. Ich hab’s mir schon ein paar mal angesehen und selbst auf so einem kleinen Video kribbeln mir die E...
Werde irgendwie das Gefühl nicht los, dass in unserer DNA schon so eine Art Gaffer-Gen verankert ist (bei Unfällen aller Art erst recht – je fieser, desto "besser") und muss zugeben, dass es trotz allem Wahnsinn schon eine gewisse Faszination ausstrahlt.
P.S.: ... auch im Plural. (*
Wer so eine Art Gebäude Freeclimbing macht, hat halt ein riskantes Hobby. Beim Absturz stirbt man am Haus wie am Berg. Sinnvoll wäre es, dafür legale Möglichkeite zu schaffen.
Wer auf gesperrtem Gelände unter Starkstromleitungen oder durch Hochfrequenztechnik klettert, ist absolut unverantwortlich sich und im schlimmsten Fall denen gegenüber, die seine gegrillten (Strom) bzw. gekochten (Hochfrequenz) Überreste wieder wegkratzen dürfen.
Der Vergleich mit Bergsteigen habe ich quch gemacht...
Ein bisserl spinnerte Einzelgänger sind es schon... Aber irgend wie sind sie auch reizend Interessant.
Und auch was des Roofers Gegenüber angeht haben sie recht. (für des einen Selbstüberschatzung am Berg müssen andern ihr Leben riskieren).
Jedoch bezeifele ich ob legale Möglichleiten Roofer den gleichen Rausch bringen...
Ist es für sie nicht gleich wie den Berglift benützen um zum Gipfelkreuz zu kommen