Frage: Herr Nolte, überall in Deutschland bauen wir zurzeit Paläste, Kirchen und ganze Altstädte wieder auf. Besonders beliebt ist die Rekonstruktion in Ostdeutschland. Warum machen wir das?
Paul Nolte: Wir leben mitten in einem Geschichtsboom. Wir schauen lieber zurück als nach vorn. Wir wollen wissen, wer wir sind, sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft. Das war nicht immer so. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es einen Futurismusboom. Man hat die Zukunft beschworen, architektonisch, literarisch und natürlich technologisch. Wie würde das Jahr 2000 sein? Dieser Boom hat bis etwa 1970 gehalten: bis zur Mondlandung, zur Ölkrise, zur Einsicht in die "Grenzen des Wachstums", die damals zum Schlagwort wurden. Plötzlich galt die Zukunft als schwierig, problembelastet oder bereits gescheitert. Mehr als das: Wir erkannten, dass hemmungslose Zukunftseuphorie gefährlich sein konnte, sogar mörderisch. Da haben wir uns in den westlichen Gesellschaften um 180 Grad gedreht.
Frage: Gibt es Anzeichen, dass dieser Boom auch mal wieder aufhört?
Nolte: Nein. Viele dachten: Wenn das Holocaust-Mahnmal eröffnet ist, sind die großen Vergangenheitsdebatten abgeschlossen. Doch es geht weiter. Die Suche nach Erinnerung wird individueller, konkreter, subjektiver – denken Sie an die "Stolpersteine". Verblüffend – aber auch der Futurismusboom hat mehr als ein halbes Jahrhundert getragen. Dazu kommt: Wir denken jetzt weniger intellektuell als früher und mehr visuell.
Frage: Was heißt das?
Nolte: Man geht lieber in eine Ausstellung, als ein wissenschaftliches Buch zu lesen. Eben weil wir so visuell denken, entsteht auch das Bedürfnis nach Rekonstruktionsarchitektur. Wir wollen uns an die Vergangenheit erinnern, aber nicht abstrakt. Sondern an authentischen Orten. Mit der getilgten Erinnerung können wir schwer leben, deshalb bauen wir wieder auf. Das gilt auch für problematische Orte. Wo heute das Berliner Museum Topographie des Terrors steht, waren früher die Gestapo-Zentrale und das Reichssicherheitshauptamt. Das ist wirklich ein belasteter Ort, keine Frage. Aber dort gelingt Erinnerung am besten.
Frage: Sie sind seit Kurzem Vorsitzender des neuen wissenschaftlichen Beirats der Garnisonkirche in Potsdam, die wieder aufgebaut wird. Gegen die Kirche gibt es großen Widerstand, weil sie eine fatale Rolle im Aufstieg der Nazis 1933 gespielt hat. Viele Potsdamer wollen das barocke Bauwerk deshalb nicht.
Nolte: Den Gegnern möchte ich sagen: Liebe Opposition, lasst uns jetzt nicht gegen Windmühlen kämpfen. Das Projekt – der Wiederaufbau des Turms, nicht des Kirchenschiffs! – ist im Gange und wird nicht von randständigen Akteuren unterstützt, schon gar nicht im rechten Lager, sondern von den maßgeblichen Institutionen dieser Demokratie: vom Parlament, von Ministern, vom Bundespräsidenten selbst. Teufelszeug kann das also nicht sein.
Frage: Viele Menschen wollen aber nicht an die Verbrüderung der preußischen Eliten mit den Faschisten erinnert werden.
Nolte: Sie sprechen den sogenannten Tag von Potsdam an, den 21. März 1933, als Hitler Hindenburg in einer halben Verbeugung vor der Kirche die Hand gereicht hat. Wo eigentlich ist der Ort, daran kritisch und nachdenklich zu erinnern? Wir könnten statt des Garnisonkirchturms ein Denkmal errichten. Ob das besser wäre oder einfacher? Wie sähe es aus? Ein heftiger Streit wäre auch dann sicher! Wenn wir jetzt den Garnisonkirchturm errichten, tun wir außerdem Potsdam städtebaulich einen Gefallen. Die Innenstadt ist immer noch – trotz allem, was dort in den letzten Jahren getan wurde – eine zerklüftete Landschaft, eine Wunde.
Frage: Man könnte auch, statt Barockes wieder aufzubauen, etwas Neues machen, oder?
Nolte: Ist es sinnvoll, einen Investor zu bestellen, in Potsdam oder an anderen Orten Ostdeutschlands, und der baut dann etwas, was so aussieht wie jeder Neubau in Berlin oder anderswo? Traufhöhe, flaches Dach, glatte Fassade, Fenstersymmetrie? Egal ob Wohnhaus oder Bürobau, das sieht doch überall gleich aus. Moderne kann man das nicht nennen; da würden sich die Avantgardisten im Grabe rumdrehen. Das ist Trivialarchitektur.
Frage: In der Denkmalpflege galt mal der Satz: Was weg ist, ist weg. Davon haben wir uns komplett verabschiedet, indem wir alles wieder aufbauen.
Nolte: Manches! Und das ist kein Sündenfall. Was fort ist, ist nicht mehr unbedingt verloren, sondern lässt sich rekonstruieren. Die Denkmalpfleger sind schon sehr puristisch.
Frage: Möglicherweise wollen sie verhindern, dass wir nur noch in Kulissen einer verlorenen Zeit leben anstatt in der Gegenwart?
Nolte: Wo immer etwas wieder aufgebaut wird, ob in der Dresdner Altstadt oder anderswo, handelt es sich doch um eine gebrochene Illusion. Das wissen alle, das lesen wir mit. Anderswo war der Wiederaufbau sehr erfolgreich. In Polen zum Beispiel: Die haben sich ihre von den Deutschen zerstörten Altstädte nicht nehmen lassen, sondern sie wieder aufgebaut, in Warschau oder in Danzig. Der Nationalsozialismus hat nicht gesiegt!
Kommentare
Paul Nolte argumentiert hier "weniger interlektuell" als postfaktisch, in einem primitiven schwarz/weiß Schema, das man lieber den Populisten vom linken oder rechten Rand überlassen sollte. Wenn er behauptet, der Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche würde nicht von randständigen Aktueren unterstützt, schon gar nicht vom rechten Lager, so sieht er nicht nur über die Berichterstattung in der "Jungen Freiheit " und "Preußischen Allgemeinen Zeitung“ hinweg, sondern verleugnet die Tatsache, das das Projekt von dem rechtsradikalen ehemaligen Bundeswehroffizier Max Klaar intiiert und mit Unterstützung aus der Poltik knapp 20 Jahre vorangetrieben wurde, bevor es moderat modifiziert von der Kirche übernommen wurde.
Das Museum Topographie des Terrors als Argument für eine 1:1 Rekonstruktion wie die der Garnisonkirche anzuführen, ist unredlich, gar perfilde. In Berlin wurde eben nicht rekonstruiert, sondern Spuren gesichert und ein sachlicher und moderner Neubau geschaffen, der informiert, eben ein ganz anderer Umgang mit Geschichte. Und das Feindbild moderner Architektur ist bei Herrn Nolte gut ausgeprägt: monoton, trivial, dysfunktional, schlechte gebaut, schnöde kapitalistisch (Investorenarchitektur), kurzum eine Sackgasse. Auch Mies van der Rohe ein Versager. Fast das Böse schlechthin. Glückwunsch zur Berufung für den Vorsitz des wissenschaftlichen Beirats der Garnisonskirche, der sich angeblich bemüht, ein Versöhnungszentrum auf den Weg zu bringen.
Ich wohne gerne im Altbau, weil er 3,20 Meter Deckenhöhe hat und aus atmendem Material gemauert ist (80 cm Backstein). Meiner wird dank neuer Fenster und Heizung im Winter schnell warm und bleibt im Sommer lange kühl. Dazu ein schöner Holzboden. Das ist alles sehr angenehm.
Ich würde auch gerne in einem Neubau wohnen. Er sollte jedoch mindestens 3 Meter Deckenhöhe und eine ansprechende Architektur haben. Also wirklich modern, keine Trivialarchitektur in Styropar!
Ich habe keine Lust auf drückende 2,50 Meter. Das hatte ich die ersten 30 Jahre meines Lebens im Ruhrgebiet. Alles zerbombt und aufgebaut in den 1950er mit ärmlichen, kleinen Zimmerchen und ekeligen Treppenhäusern in grauem Putz. Das brauche ich nicht mehr. Das ist der Hauptgrund für mich, im Altbau zu wohnen. Diese ätzende Kindheits-/Jugend-/Heranwachsendenerfahrung in fürchterlichen Nachkriegsbauten, nur noch getoppt von Brutalismus der 1960/70er in Beton.
Mit der Deutung von Herrn Nolte hat das nichts zu tun. Das ist eine ganz andere Sache, als die Frage, warum wir das Stadtschloss wieder aufbauen und dort nicht etwas wirklich Neues wagen. Herr Nolte vermengt hier meines Erachtens verschiedene Dinge im privaten und öffentlichen Bereich zu einer These. Jedes für sich hat aber andere Ursprünge.
Mies van der Rohe finde ich übrigens ganz großartig.
"Ich wohne gerne im Altbau, weil er 3,20 Meter Deckenhöhe hat und aus atmendem Material gemauert ist (80 cm Backstein). Meiner wird dank neuer Fenster und Heizung im Winter schnell warm und bleibt im Sommer lange kühl. Dazu ein schöner Holzboden. Das ist alles sehr angenehm."
sehe ich grundsätzlich genauso. Weil das aber sehr viele Menschen genauso sehen, war es finanziell nicht machbar, unsere sehr schicke (und in "Top" Innenstadtlage) , aber kleine Altbauwohnung gegen eine sehr schicke, aber größere Altbauwohnung zu tauschen. Ich kenne Leute, die über die Hälfte ihres Nettos für die Altbauwohnung in Style-Lage opfern. So wichtig war mir dieser Aspekt dann nicht und ich habe festgestellt, dass man auch in den 70ern wohnlich gebaut hat.
Es ist einfach schöner, nach Hause zu kommen und schon von weitem ein geschmackvolles Haus mit Blumenranken und Wohlfühlfaktor zu sehen, anstatt eines öden Betonklotzes mit betoniertem Vorgarten im Pseudobauhausstil. Betonierte Zwingburg für Gartenzwerge sozusagen. Und durch Straßen mit schönen Altbauten geht man doch wohl auch lieber. Ich habe in meiner Kindheit einige Jahre in einer alten Burg gewohnt und das prägt. Dachgauben und Feldsteinmauern, Holzdielen und Bohnerwachsgeruch finde ich allemal schöner als moderne Architektur auch wenn es da manchmal zieht oder die Siebenschläfer in der Isolierung Rutschen spielen.
Altbau hat Vorteile. Zentrale Lage, die Neubau-Fehler sind längst behoben, hohe Räume, dicke Wände.
Rekonstruktionen sind hervorragend. Für unsere modernen Architekten gab und gibt es genug Flächen außerhalb der Stadtkerne auf denen sie sich austoben dürfen. Und nein, wir brauchen keine kontrastierenden Kontrapunkte die die alten Plätze böswillig verschandeln.
Für unsere modernen Architekten gab und gibt es genug Flächen außerhalb der Stadtkerne auf denen sie sich austoben dürfen.
Im „Real“sozialismus entstanden Wohnhäuset für die gesamte Bevölkerung, im Kapitalismus werden Altbauten für die gehobene Mittelklasse aufwändig saniert, während die Oberschicht in den Vororten Stadtvillen baut oder Bauernhöfe zu Luxusrefugien mit beheizten Pools umgestaltet. Preisfrage: Was bleibt für die Mittel- und die Unterschichft?