Wäre es für die Menschheit das Beste, wenn das Christentum wieder von der Erde verschwände? Der Philosoph Herbert Schnädelbach eröffnete mit dieser These vor achtzehn Jahren die heftigste Debatte, die das Feuilleton der ZEIT bisher erlebt hatte. Der Essay hieß Der Fluch des Christentums und brachte eine Garde von Theologen und Philosophen dazu, über christliche Zukunft und Vergangenheit zu spekulieren. Sie beschäftigten sich aber nur am Rande mit den Argumenten des Philosophen, die keineswegs spekulativer Natur waren, sondern als Tatsachenbehauptungen auftraten.
Dass ihr Wahrheitsgehalt zweifelhaft sein könnte, musste nicht zwingend auffallen, denn sie waren keineswegs aus der Luft gegriffen. Sie repräsentierten das landläufige Urteil über die Kirchengeschichte als Kette von Verbrechen – der Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverbrennung, Judenverfolgung und Unterdrückungsmoral. Erst sieben Jahre später unternahm es der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt, die Klischees systematisch an der historischen Wirklichkeit zu messen. Sein monumentales Werk Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert darf als Handbuch zur kirchenkritischen Legendenbildung gelten.
Die gefühlte Wahrheit der Legenden ist indes stärker geblieben. Noch immer gehen viele Menschen fraglos davon aus, dass die Hexenverfolgungen, um nur ein Beispiel zu nennen, kirchlich veranlasst waren, obwohl ihnen die höhere Geistlichkeit, viele Bischöfe und Päpste entgegentraten; unter anderem mit dem schlagenden Argument, dass allein schon die Annahme, es könne Hexen geben, schlimmer Aberglaube sei. Ähnliches gilt für das stereotyp angenommene Wüten der Inquisition, dem keine realen Zahlen entsprechen. Für Rom sind kaum Hinrichtungen nachweisbar, in Spanien, immerhin dem Mutterland der Inquisition, endete nur ein Bruchteil der in der Tat zahllosen Verfahren mit Todesurteilen. Die meisten Gewalttaten, die man der Kirche anlastet, waren spontane Pogrome oder Übergriffe der weltlichen Mächte, einschließlich der Exzesse während der Kreuzzüge.
Der prominente Psychiater und Theologe Manfred Lütz hat nun einen zweiten Versuch gemacht, die historische Wirklichkeit gegen das Vorurteil durchzusetzen, und Angenendts Forschungen für ein breiteres Publikum ausgewertet. Es ist ein überaus temperamentvolles und auf gruselige Weise unterhaltendes Buch geworden. Denn Lütz tut mehr, als nur Wissenschaft aufzubereiten – er erschüttert den aufklärerischen Anspruch einer zeitgenössischen Religionsfeindlichkeit, die sich aus Geschichtsklitterungen ihr Weltbild gebaut hat.
Eine Apologie der Kirche hat Lütz freilich nicht geschrieben. Er zwingt aber dazu, auch das Licht zu sehen, das den Schatten erst erzeugt. Die Christenheit lässt sich in ihren Verfehlungen nur erkennen, wenn man sie an den Maßstäben des Christentums misst, zu diesen gehört aber auch die Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen. Sündenfreiheit ist nie behauptet worden. Wenn sich zu dieser Einsicht auch die modernen Religionsfeinde durchringen könnten, wäre viel gewonnen.
Manfred Lütz: Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums; Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2018; 288 S., 22,– €, als E-Book 16,99 €
Kommentare
Man muss nur mal lesen mit welcher Brutalität das Christentum in Deutschland oder Nordeuropa von den Herrschenden teilweise eingeführt wurde. Da war nichts mit "Überzeugung".
Und dann folgte:
https://de.wikipedia.org/...
Die gefühlte Wahrheit der Legenden ist indes stärker geblieben. Noch immer gehen viele Menschen fraglos davon aus, dass die Hexenverfolgungen, um nur ein Beispiel zu nennen, kirchlich veranlasst waren, obwohl ihnen die höhere Geistlichkeit, viele Bischöfe und Päpste entgegentraten; unter anderem mit dem schlagenden Argument, dass allein schon die Annahme, es könne Hexen geben, schlimmer Aberglaube sei.
Ähnliches gilt für das stereotyp angenommene Wüten der Inquisition, dem keine realen Zahlen entsprechen. Für Rom sind kaum Hinrichtungen nachweisbar, in Spanien, immerhin dem Mutterland der Inquisition, endete nur ein Bruchteil der in der Tat zahllosen Verfahren mit Todesurteilen. Die meisten Gewalttaten, die man der Kirche anlastet, waren spontane Pogrome oder Übergriffe der weltlichen Mächte, einschließlich der Exzesse während der Kreuzzüge.
Dass mit der Inquisition war mir bereits bekannt, denn die Widerlegung findet man öfters. Hingegen war mir bisher nicht bekannt, dass Geistliche die Hexenverfolgung ablehnten. Dabei ist deren Begründung gegen die Hexenverfolgung doch so offensichtlich: die Annahme der Existenz von Hexen sei selbst Aberglaube.
"Dabei ist deren Begründung gegen die Hexenverfolgung doch so offensichtlich: die Annahme der Existenz von Hexen sei selbst Aberglaube."
Es ging bei der Inqusition um die Anbetung des Teufels und Satan ist im Christentum so real wie Gott.
...
und sexueller organisierter Missbrauch im großen Umfang hat es nie gegeben, wer etwas anderes sagt, lügt.
Mit freundlichen Grüßen,
Die Römische Kurie
Mann, geht mir bloß weg mit diesen wie auch immer gearteten Relativierungen.
In manchen Städten gehörte der Puff der Kurie.
Lütz' Büch ist tatsächlich ein Aufguss von Angenendts "Toleranz und Gewalt" - nur viel oberflächlicher und unsachlicher. Es ist ganz im Gegensatz zur Meinung Jessens, der als gläubiger Christ diese Exkulpation nur zu gern dankend und kritiklos entgegennimmt, tatsächlich nichts anderes als eine Apologie der Kirche und will auch nichts anderes sein.
Angenendts Buch ist um Längen besser und gründlicher, aber ganz sicher nicht das Handbuch zur Kirchengeschichte. Es ist ebenfalls in apologetischer Absicht geschrieben und konzentriert sich ganz auf eine möglichst positive Sicht auf die Kirche.
Bei unkritischer Betrachtung (wie bei jessen) führt das zu solch absurden Schlüssen wie dem, die hexenverfolgungen seien nicht kirchlich veranlasst gewesen, und zu einer völlig unverantwortlichen Verharmlosung der Opfer der Inquisition. Mit der historischen Wahrheit hat das nichts zu tun.
Für eine erweiterte Sicht auf das Thema empfehle ich die Rezension von Heinz-Werner Kubitza zu Lütz' Buch:
https://hpd.de/artikel/ge...
Danke für den Link. Das hier fand ich besonders erhellend:
"Denn vermutlich alle Beispiele und Zitate daraus stammen aus dem Buch "Toleranz und Gewalt" von Arnold Angenendt. Lütz hat dieses Buch gelesen, und war von ihm so fasziniert, dass er auf die Idee kam, es unter seinem eigenen Namen quasi erneut herauszubringen..."
Jessen: "Die Christenheit lässt sich in ihren Verfehlungen nur erkennen, wenn man sie an den Maßstäben des Christentums misst..."
Etwa so wie bei Lütz (Zitat aus dem hdp-Artikel):
"verurteilt er natürlich den Kindesmissbrauch (aber eher selten unter Priestern zu finden). Er sei ein "perfides Verbrechen". Dem kann man zustimmen. Doch warum ist das nach Lütz so? Es ist nicht das Verbrechen an sich, sondern weil die Opfer "mitunter lebenslang auch ihr Vertrauen in Gott verlieren." (S. 273)"
Tut mir Leid, aber das liegt unter dem Anspruch heutiger Ethik.
Nach heutigen ethischen Vorstellungen, die die katholische Kirche nachweislich nicht teilt, gehört ein des Mißbrauchs oder der Vertuschung des Mißbrauchs beschuldigter Priester oder Kirchenfürst vor ein weltliches Gericht, das die Vorwürfe untersucht und wenn der Angeklagte für "schuldig im Sinne der Anklage" befunden wurde, zu Gefängnis verurteilt.