Unten im Inntal hängt der morgendliche Nebel. Oben im Schloss leuchten 16 Laptop-Lichter auf, und 16 Augenpaare senken sich. Die Blicke der Schüler wandern von der Englischlehrerin zu den Bildschirmen auf ihren Pulten. Dort sollen die Schüler eine Quizfrage zur Geschichte Englands beantworten. Die elektronischen Helfer werden die 13-Jährigen durch den Schultag begleiten. Sie werden darauf Mails an ihre Lehrerin schreiben und Mathebeispiele studieren, Hypotenusen berechnen und ihre Hausaufgaben erledigen.
Das Privatgymnasium Neubeuern rühmt sich, die erste digitale Schule Deutschlands zu sein. Alle Schüler und Lehrer arbeiten vorrangig mit Tablets oder Notebooks statt mit Stift oder Kreide. Zwischen Burgfried, Schlossbibliothek und jahrhundertealten Mauern werden die Schüler damit zu Versuchskaninchen der digitalen Revolution.
Das Konzept der Schule geht weit über die technische Infrastruktur hinaus. Das Elite-Internat will bereits jene Fragen beantwortet haben, die man sich derzeit in ganz Deutschland stellt: Wie muss sich Schule in der digitalen Welt wandeln, damit sie für junge Leute interessant und relevant bleibt? Was ist Wissen noch wert, wenn man es überall abrufen kann? Und was sollen Lehrer jungen Leuten beibringen, um sie für eine Welt von morgen zu rüsten, in der es viele Berufe von heute nicht mehr geben wird?
In Anzug und Krawatte sitzt der Schulleiter Jörg Müller in seinem Büro im alten Schlosstrakt, zwischen holzvertäfelten Wänden und großen Fenstern. Der ausgebildete Lehrer und ehemalige Unternehmensberater hat den Paradigmenwechsel auf den Schlossberg gebracht. Er spricht viel von Kompetenzorientierung und Wandel in der Welt. "Eigentlich müsste jedes Kind in Deutschland längst Zugriff auf ein digitales Endgerät im Unterricht haben", sagt Müller. "Alles andere ist lebensfremd."
Als Müller das Internat Ende der Neunzigerjahre gemeinsam mit seiner Frau übernahm, sah der Campus ganz anders aus. Zwar hatte sein Vorgänger eifrig in teure Prestigeprojekte investiert, in Glasfaserinternet und Beamer. Doch niemand hatte sich überlegt, wie man die teure Technik sinnvoll einsetzen könnte. Müller fragte sich also: Wie denken wir Schule neu – und was brauchen wir dazu?
Der Internatsleiter suchte nach vorbildlichen Schulen in der ganzen Welt. Er stieß auf eine Schule in New York, wo Algorithmen nachts maßgeschneiderte Aufgaben für jeden einzelnen Schüler errechnen. Er lernte den Schulleiter des Colegio Fontán in Kolumbien kennen, wo es keine Fächer- und Jahrgangsgrenzen mehr gibt, wo jedes Kind mithilfe von Technik in seinem eigenen Tempo lernt. Müller staunte. Sein Plan für das Schloss Neubeuern stand fest: "Wir müssen die Individualisierung des Lernprozesses vorantreiben."
Heute ist er sich sicher: In einer Welt, in der Wissen überall und jederzeit verfügbar sei, habe Frontalunterricht zur reinen Wissensvermittlung ausgedient. Es sei naiv zu glauben, dass dreißig Schüler zur gleichen Zeit im gleichen Tempo dem gleichen Thema lauschen können. Stattdessen solle jeder Schüler lieber in seinem Tempo und nach seinem Lerntyp lernen.
Kommentare
Aus Erfahrung in der Erwachsenenbildung kann ich sagen, dass eine Digitalisierung des Unterrichts massive Vorteile hat. Auch, aber nicht nur, wegen neuer Methoden. Die dienen eher dazu, die Kinder besser auf die Berufswelt vorzubereiten und noch mehr didaktische Optionen und Abwechslung bieten zu können. Ob ich eine Präsentation nun am Tablet oder am PC vorbereiten lasse, ist eher unwichtig. Und während digitale Lernspiele am interaktiven Whiteboard ganz schön sind, gingen solche Spiele natürlich analog. Aber - und das ist der springende Punkt - sie sind weitaus schwerer umzusetzen! Mit traditionellen Mitteln schnippele ich da durchaus mal eine halbe Stunde irgendwelche Kärtchen, die nach dem Unterricht dann wieder zur Hälfte fehlen oder kaputt sind, für eine Aufgabe, die ich am IWB in 10 Sekunden geöffnet habe. Ich verschwende Zeit am Kopierer, weil ich noch die Folien für den Overhead drucken muss (die dann schlecht zu erkennen sind, wenn der OHP funktioniert). Ich verbummele 5-10 Minuten in der Stunde mit dem Schreiben und Wegwischen von Sachen, die einfach von einer Sekunde auf die andere da oder weg sein könnten. Und diese Sachen kann ich auch sofort wieder herholen, falls das mal nötig ist. Ich kann in Sekunden ein Bild zeigen, das ich nicht minutenlang zu Hause vorbereitet habe.
Durch all das bleibt dem Lehrer weitaus mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge: Die Schüler. Den Stoff. Die Abwendung des Burnouts. Pakt oder nicht: Das muss kommen!
Aber bitte mit "Inking-Funktion", die Kreidetafel im Laptop. OMG.
Man merkt sofort, dass der Wandel erst möglich wird, wenn man oben am Kopf, im Ministerium anfängt, die Retros auszuwechseln.