Ein Streichquartett, ein wenig Klezmer oder Chormusik von Lewandowsky, Grußworte. Manchmal kommt jemand, der eine Rede hält. Eine ehemalige Bundesministerin oder der Bürgermeister, ein Historiker, dessen Buch in den Auslagen der Läden liegt, oder eine Journalistin, von weit hergereist. Ganz selten spricht jemand ein Gebet, diese einzige Sprachform an der Grenze der Sprache, die auch das Schweigen vertrüge. Aber alle Augen warten auf den alten Mann, die gebückte Frau. Schon vor der Veranstaltung sammeln sich Trauben von Menschen in der ersten Reihe, schütteln Hände, legen viel Wärme in die Worte, als wollten sie so die Herzenskälte der Vorfahren vergessen machen.
Von jungen Helfern oder von gleichaltrigen Freunden zum Podium begleitet, reden hochbetagte Greise, 90-jährige Frauen. Sie erzählen, wie es war, in ihrer Erinnerung, damals, als sie Kinder waren, Kinder der Stadt oder des Nachbardorfes oder Kinder, die dort Räuber und Gendarm spielten, wo heute die Ukraine ist oder Polen. Sie verkörpern, was hinter der Schreckenszahl verborgen ist, hinter den sechs Millionen erschossenen, vergasten, zerstückelten Körpern, den willkürlich abgebrochenen Lebensgeschichten, dem brutalen Wüten einer Weltanschauung, aus der mitten im Land von Luther und Bach, Goethe und Kant eine Mordmaschine wurde.
Die Überlebenden, die auch in dieser Woche wieder morgens vor Achtklässlern sitzen, um Zeugnis abzulegen von der Geschichte ihres Überlebens, und abends zu der Stadtgesellschaft sprechen, werden weniger. Die Zeuginnen und Zeugen des Zivilisationsbruchs sterben, manche hochbetagt, als hätten sie dem Leben trotzig weitere Jahre abgerungen, um noch länger daran zu erinnern, wie sich die nationalsozialistische Barbarei in Biografien übersetzt.
Ein Menschenalter nach der Schoah muss sich das öffentliche Gedenken in diesem Land neu erfinden. Vielleicht kommt deshalb die Diskussion der letzten Woche über das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion nicht von ungefähr. Denn dass es Formen geben muss, in denen sich die Geschichte der Ermordung der europäischen Juden vermitteln lässt, die es möglich macht, schon Kindern davon zu erzählen, liegt auf der Hand. Wie erzählen, wenn die Überlebenden das nicht mehr können?
Die Lebenszeugenschaft ist vielfach besetzt, ihre Bedeutung erst jetzt richtig klar. Die Überlebenden der Schoah verkörpern nämlich nicht nur die Faktizität des Schreckens. Sie widerlegen die Verharmloser, Kleinredner oder Leugner, die seit einiger Zeit wieder auf große Resonanz stoßen. Sie belegen mit ihrem Leben deren Lügen und entlarven die grassierenden Verschwörungs- und Abwiegelungstheorien mit ihrer Geschichte. Sie sind auch moralische Zeugen des "Nie wieder!".
Wer in ihre Gesichter sieht, wer Blickkontakt mit ihnen aufnimmt, denkt anders über das, was in Schulbüchern steht. Es erhält eine Beziehungsevidenz. Die Geschichten der Zeuginnen und Zeugen offenbaren allerdings auch, wie wenig heroisch das Überleben war. Sie sind, wenn man so will, das beste Gift gegen den Kitsch, der sich an das Gedenken schmiegt wie ein falscher Pelz.
Die meisten Überlebensgeschichten sind Geschichten von grausigen Zufällen, von Verspätungen oder von der verzweifelten Planung der Eltern, die Zweijährige weggaben, um diesen eine Zukunft zu sichern, bevor sie selbst in den Tod gingen. Überlebensgeschichten sind Geschichten von Gezeichneten, Gequälten, die von toten Geschwistern heimgesucht werden und vom dem Sinnlosigkeitsverdacht von Menschen, die als Kinder über Leichenberge kletterten oder in Verstecken hausten.
Deshalb ist es auch heikel, in ihnen eine Spur religiöser Zeugenschaft zu sehen, ein Märtyrertum für eine Überzeugung, eine große Sache. Juden und Jüdinnen sind nicht für, sondern wegen ihres Glaubens gestorben, sie wurden ermordet, auch wenn sie sich weniger als Juden denn als Sozialisten, als Aufklärer, ja als getaufte Christen sahen. Um ihre Überzeugungen ging es nie. Auch das erzählt ihr Zeugnis. Wer je dabei war, wenn alte Männer und Frauen mit Pubertierenden einer deutschen Durchschnittsklasse diskutierten, wird wissen, was es bedeutet, wenn der "Holocaust" so erzählt wird, dass kein Schamzwang entsteht, kein Schuldigwerdenmüssen suggeriert wird und doch glasklar wird: Juden sind ermordet worden, weil sie Juden waren, aus rassischer Verblendung, aber auch aus Feigheit, aus der Unfähigkeit, die Angst in etwas Widerständiges zu verwandeln.
Kommentare
Von dieser Debatte können auch andere Opfergruppen profitieren.
Und es ist eine Inspirationsquelle für den Umgang mit Geschichte generell.
Auch die Erinnerung an die Vertreibung der Schlesier, Ostpreußen, Pommern und Sudetendeutschen - und die damit einhergehende Auslöschung dieser europäischen Kulturlandschaften und Mundarten - hätte eine Bewahrung und Konservierung für die Ewigkeit verdient. Das sind wir unseren Landsleuten schuldig.
Ich würde ja gerne, als Konterpart, das Viertklässlerreferat meines Jüngsten über die Kriegserlebnisse seiner Großeltern hier online stellen. Die waren Ende des Krieges 10 und 12 Jahre alt und er hat sie dafür interviewt. Meine Großeltern leben schon lange nicht mehr, aber deren Geschichte konnten meine Eltern immer noch erzählen.
Dieser Zeuge ist jetzt 16 Jahre alt.
"Wie hält man die Erinnerung an den Holocaust am Leben, wenn die letzten Überlebenden sterben?"
Genauso, wie sonst auch. Von der Generation Y werden sowieso die allerwenigsten je persönlich Jemandem zugehört haben, der zum Holocaust Substanzielles aus eigenem Erleben hätte beitragen können. Ansonsten laden sich Viele ohnehin lieber ein YouTube-Video runter, als sich auf eine Vortragsveranstaltung zu begeben. Im Internetzeitalter wirkt die Fragestellung daher etwas aus der Zeit gefallen: Viele Zeugenberichte sind in Wort, Bild und Ton erhalten und frei zugänglich. Denen, die noch da sind, wünsche ich, dass sie nicht über Gebühr von Podium zu Podium gehetzt werden mögen, weil sich konstantes Bedürfnis am unmittelbaren Bericht auf immer weniger Hochbetagte verteilt.
Es gibt Sätze, die man nie vergessen kann.
„Sie konnten Menschen totschlagen und waren ganz normal dabei.
Das kann ich nicht verstehen.“
(Ein polnischer KZ-Insasse).
Nb.
Liebe Frau Bahr, bitte verzichten Sie bitte auf den Neologismus „neu e rfinden“. Das „er“ ist überflüssig. Es geht hier doch um Neufindung — so einfach, so schwer.