Der Aufsatz ist auf Englisch verfasst, trägt einen nüchternen Titel und erschien dieser Tage in einer amerikanischen Fachzeitschrift. Nichts lässt ahnen, dass hier ein deutscher Spitzendiplomat mit der Weltsicht seiner Profession ins Gericht geht. Thomas Bagger, Leiter der außenpolitischen Abteilung im Bundespräsidialamt, schreibt im Washington Quarterly über "The World According to Germany".
Selten ist der Schock, den die Ereignisse der vergangenen Jahre in Berlins außenpolitischer Elite ausgelöst haben, klarer zu Papier gebracht worden. Donald Trumps Politik, heißt es da, "zieht dem deutschen außenpolitischen Denken den Teppich unter den Füßen weg". Trump sei jedoch nicht der Grund, sondern eher ein Symptom der heutigen Weltkrise. Deutschland müsse mit neuen Großmachtkonflikten zurechtkommen; es sei zwar nicht wehrlos, aber viel verwundbarer als angenommen; eine "Bedrohungswahrnehmung nahe null" sei "gefährlich entkoppelt von der Wirklichkeit". Nach Brexit und Trump stehe "die Demokratie selbst auf dem Spiel". Bagger ist kein Apokalyptiker, er ist eher ein kämpferisch gestimmter kühler Kopf und macht am Ende Vorschläge. Alles andere wäre ja auch merkwürdig, schließlich konzipiert er die diplomatische Agenda des Bundespräsidenten.
Aber die tiefe Verunsicherung, die er analysiert, ist das eigentlich Interessante. Man stößt dieser Tage unter Berliner Außenpolitikern überall auf diese Seelenlage. Sie durchzieht mehr als ein Dutzend Gespräche, die im Laufe des Winters für diesen Artikel geführt wurden – mit Diplomaten, Parlamentariern und Vordenkern in den Thinktanks der deutschen Hauptstadt.
Diese Leute sind nicht um Antworten verlegen, wenn man sie zu konkreten Problemen befragt. Schließlich werden sie dafür bezahlt, Bescheid zu wissen: über den INF-Vertrag, den Brexit, das Atomabkommen mit dem Iran, die Idee einer europäischen Armee, den Handelskonflikt mit China, den Streit mit Polen um die neue Pipeline Nord Stream 2. Das ist alles schon ziemlich vertrackt. Richtig brisant wird es jedoch erst, wenn man ein bisschen weniger fachjournalistisch nachfragt:
Was treibt Sie um? Was hält Sie nachts wach? Wie fühlt es sich an, in Zeiten wie diesen deutsche Außenpolitik zu entwerfen? Oder auch: Was genau ist Außenpolitik heute noch?
Einem hochrangigen Beamten des Auswärtigen Amts fällt dieses Bild ein: In jüngster Zeit komme er sich vor wie auf einer Eisscholle, die im Packeis treibt, unter vernehmbarem Knacken. Der Leiter eines Thinktanks sagt, man verstehe rein gar nichts, wenn man heute einzelne Krisen in den Blick nehme, um sie nacheinander abzuarbeiten. So gehe das nicht mehr, man lebe in einer Art Krisenlandschaft, in der Probleme ineinander verlaufen. Ein Europa-Experte gibt sich zerknirscht: Wir moralisieren zu viel; wir reden zu wenig über unsere Interessen; wir haben hochgesteckte Ziele, unter denen wir dann bequem durchmarschieren. Das nervt unsere Nachbarn nur noch.
Im Wolfserwartungsgebiet
Nächste Woche werden die Strategen aus aller Welt in München zu ihrer jährlichen Tagung zusammenkommen, der Münchner Sicherheitskonferenz. Vor fünf Jahren hielt der damalige Bundespräsident Joachim Gauck dort eine Rede über "Deutschlands neue Verantwortung". Seitdem ist es eine Art Gemeinplatz in Politikerreden und Leitartikeln geworden, Deutschland müsse mehr für die "internationale Ordnung" tun.
Was das eigentlich heißen soll, ist heute jedoch unklarer denn je. Denn so hatte man sich den Umbruch dann doch nicht vorgestellt, nicht so krass, nicht so schnell, nicht so grundlegend. Damals, 2014, war die Krim noch ukrainisch regiert, Donald Trump noch ein Immobilien-Tycoon und Großbritannien noch ein Pfeiler der EU. Gaucks Vorschläge, seinerzeit kontrovers diskutiert, wirken schon wieder zu klein: ein bisschen mehr Geld für EU, UN und Nato, mehr Engagement für Freiheit und Menschenrechte, im äußersten Fall mehr Bereitschaft zum militärischen Einsatz. Klar ist heute: Erstens, so weit sind wir noch immer nicht, und zweitens, das wird so nicht reichen.
Gauck ahnte nicht, dass die westlich geprägte Weltordnung mit ihren Institutionen, Verträgen und Allianzen wenige Jahre später derart infrage stehen würde – und dass der Angriff nicht nur wie früher von außen, sondern auch von innen kommen würde.
Kommentare
Es gibt in der Weltpolitik kein Vakuum. Wenn sich Deutschland und die EU nicht engagieren machen dies andere Mächte. Ein Engagement der EU ist mir lieber als das alleinige Engagement der autoritären, antidemokratischen Staaten China oder Russland.
Es ist das, was dringend notwendig ist. Der kalte Krieg war vorbei und die freie Wirtschaft war "Sieger". Sie blähte sich entfesselt auf und war mehrfach am Platzen. 2008 war das System endgültig und nachweislich kaputt. Durch parallel entstandenes Internet, wäre der Weg frei gewesen zu einer emanzipierten, demokratischen Welt ohne Milliardenmacht und wenige Globale Konzerne (aus den USA), die diese Technik dann okkupiert haben. Ob die EU es noch schafft ohne Rus und ohne USA auf eigenen Beinen zu stehen wird sich zeigen.
„Das Land, dem Deutschland jahrelang eine "Modernisierungspartnerschaft" angetragen hatte, positionierte sich als Gegner des Westens. „ Das ist eine dreiste Auslegung der Geschichte.
Putin sieht den Westen als Gegner und positioniert als Gegenentwurf die scheinbar heile , nationalistische, von Putin geführte "russische Welt". Und in der Tat, Freiheit und Demokratie bedrohen immer autoritäre Regimes wie das von Putin.
Der langjährige Moskau-Korrospondent Mafred Quiring fassst das so zusammen:
„Präsident Putins vorrangiges strategisches Ziel ist der Machterhalt seiner Clique in Russland, vervollständigt durch ein möglichst großes, von Moskau dominiertes Vorfeld abhängiger Staaten entlang der Grenzen. Der Rückzug aus Osteuropa in den 1990er Jahren schmerzt bis heute. [...] Jetzt (scheint) die Chance zu einem ‚Rollback‘ gekommen.“
Vor allem aber ein Beweggrund lässt sich als Konstante bei Putin und dessen engerer Umgebung nachweisen: „Das gegenwärtige Regime in Moskau sieht sich durch westliche Ideen und Einflüsse gefährdet, und das zu Recht. Denn echte Demokratie heißt Gewaltenteilung und öffentliche Kontrolle dessen, was ‚die da oben‘ so tun. Genau das würde das korrupte, kleptokratische System in seiner Existenz gefährden. Es braucht diesen äußeren Feind, um oppositionelle Bewegungen im Lande niederzuhalten und innere Stabilität durch die Förderung einer Festungsmentalität zu erreichen.“
https://www.deutschlandfu...
Sehr erfreulicher Artikel.
Nicht wirklich, denn wenn ich so etwas lese Zitat: "Doch die Verunsicherung über Deutschlands neue Rolle zwingt Diplomaten, Politiker und Berater, ins Offene hinein zu denken."" dann bekommt man den Eindruck, dass vorher nur devote Dummköpfe in der Außenpolitik ihr Unwesen getrieben hätten.
Dem kann ich mich aber überhaupt nicht anschließen, da ich der Meinung bin, dass diese "neue Notwendigkeit" der Außenpolitischen Veränderungen gar nicht gegeben sind.
Ist es nicht besser Konflikte überhaupt nicht entstehen zu lassen, als der spätere Versuch, dies mit Waffengewalt, Sanktionen oder was auch immer, zu beenden?
Nein, der Artikel suggeriert für mich, dass es nur eine Lösung gäbe und das halte ich für überhaupt nicht erfreulich. Ganz im Gegenteil, ich halte es für sehr bedenklich und mittlerweile frage ich mich, wo der Autor die ganzen "Experten" aufgetrieben hat, die vorgeben (meine persönliche Meinung) von den Entwicklungen überrascht worden zu sein.
Wie hätte man auch ahnen können, dass Assad sich gegen einen Regime Change wehren würde oder dass sich Russland von der Annäherung der Nato bedroht fühlen könnte, vor allem nachdem Putin genau dies 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hat.
Wie hätte man auch ahnen können, dass die USA und China nur ihre eigenen Interessen im Sinn haben, nachdem es schon Jahrzehnte lang Normalität ist.
Links zu dem genannten Fachbeitrag: https://www.tandfonline.c...
Ja, ich stimme größtenteils zu, ohne, dass ich eine Lösung habe.
Ich möchte allenfalls hinzufügen, dass wir Deutschen davon ausgehen können, dass wir eine gespaltene Nation sind und daher jede deutsche Außenpolitik zwiegespalten ist.
Wenn, wie ich heute las, mehr Deutsche die USA für die größere Bedrohung als Russland halten, dürfte der historisch bedingte Kulturkonflikt zwischen Ost- und Westdeutschland größer und langanhaltender sein als wir 1990 oder 2000 annahmen. Ich will sagen: Unsere Außenpolitik und deren Wahrnehmung wird nicht nur von Großmächten bestimmt, wie suggeriert wird.
Da diese Mehrheit nicht nur für Ostdeutschland sondern für Gesamtdeutschland ermittelt wurde, zeigt dies eigentlich weniger eine Spaltung von Ost- und Westdeutschen bei dieser Frage. Im Osten dürfte diese Mehrheit aber noch deutlicher ausfallen.
Hauptgrund ist sicher die ungezügelte Rethorik des US-Präsidenten und die Angst, dass auch Deutschland als sogenannter Verbündeter durch die Trump-Administration mit ihren Scharfmachern wie Bolton in Auseinandersetzungen bis hin zu Kriegen hineingetrieben wird. Ich denke da vordergründig nicht an einen Krieg gegen Russland sondern eher an die Auseinandersetzung mit dem Iran, in der die USA unverhohlen den Staaten und Institutionen sowie Wirtschaftstreibenden, die nicht ihrer vorgegebenen Linie folgen, mit entsprechenden Konsequenzen drohen.