Der Himmel wölbt sich blau über Campione d’Italia. Doch der Sonnenschein in der kleinen italienischen Exklave im Südtessin trügt. SOS – Campione is DEAD steht in großen Lettern auf einem Spruchband, das an der Seepromenade hängt. Ein paar Schritte weiter sitzen Claudio Padula und Rosy Bianchi auf einer Holzbank in einem weißen Plastikzelt. Die beiden sind über 50 Jahre alt, Padula hat 30 Jahre im Casino von Campione gearbeitet, Bianchi war dort 13 Jahre lang Croupière. Am 27. Juli 2018 haben sie zum letzten Mal ihren Lohn erhalten, wie alle 482 Casino-Mitarbeiter. Nun planen sie hier, zusammen mit ihren ehemaligen Arbeitskollegen, Protestaktionen und Demonstrationen und schimpfen: "Das Management war ein Filz von Unfähigen."
Das Casino von Campione ist seit bald einem Jahr insolvent. Und mit ihm schlitterte die Gemeinde, die alleinige Eigentümerin des Hauses, in den Abgrund. Jahrelang hat sie gut gelebt von den 700.000 Franken, die alle zehn Tage vom Spielcasino in die Gemeindekasse flossen. Jahrelang sah sie kein Risiko darin, dass es im 2000-Seelen-Dorf keinen anderen großen Arbeitgeber gab.
Nun sind 800 Einwohner arbeitslos. Heute hat das Casino über 175 Millionen Franken Schulden, die Gemeinde steht mit 140 Millionen Franken in der Kreide. Der Kindergarten, das kleine Altersheim und das Tourismusbüro wurden bereits geschlossen. In der Schule werden nur noch die nötigsten Räume geheizt, und seit über einem Jahr erhalten die 85 Gemeindeangestellten keinen Lohn mehr.
Rosy Bianchi trägt eine dicke Winterjacke, der Wind zaust an ihrem blonden Haar. Sie sagt, der Ort müsse sich von seiner Spielbank, von seinem Klumpenrisiko lösen. Kurzfristig aber, ergänzt Claudio Padula, gebe es nur einen Weg: "Das Casino muss wieder geöffnet werden, besser heute als morgen."
Doch davon ist man heute weit entfernt, das Konkursverfahren ist kompliziert. Die Gemeinde darf fünf Jahre lang nicht mehr Teilhaberin an einem Spielcasino sein, so lautet die italienische Vorschrift. Nur öffentlich-rechtliche Körperschaften könnten einspringen, zum Beispiel die Provinzregierung in Como oder das Innenministerium in Rom. Manche im Dorf hoffen auf eine Ausnahme für Campione. Immer wieder geistern die Namen von potenziellen Investoren durch die italienischen Medien. Komme es, wie es wolle: Alle Rettungsaktionen brauchen viel Zeit.
Und mit jeder Woche, die verstreicht, wachsen die Schulden von Campione. Vor allem in der Schweiz. Der Kanton Tessin und die Stadt Lugano sitzen auf unbeglichenen Rechnungen für Schulgelder, die Lieferung von Strom, Gas, Wasser sowie für die Abfallentsorgung. Im vergangenen September betrugen die Ausstände bereits fünf Millionen Franken; bis heute ist der Betrag weiter angewachsen. Noch zeigen sich die Tessiner solidarisch und lassen ihre Nachbarn nicht hängen. Aber schon fragen sich einige Politiker, ob nicht die Eidgenossenschaft einspringen könnte. Oder ob das Tessin die Ausstände eigenmächtig von jenen Grenzgänger-Steuern abziehen könnte, die eigentlich nach Rom überwiesen werden müssten. Das gehe nicht, heißt es beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten. Aber, schieben die Beamten in Bern nach: "Zur Begleichung der noch ausstehenden Zahlungen der Gemeinde Campione d’Italia sind die schweizerischen und italienischen Behörden in regelmäßigem Kontakt."
Campione ist kein Ort wie jeder andere. Er liegt zwar in Italien, ist aber Schweizer Zollgebiet. Der Caffè wird in Schweizer Franken bezahlt, und die Autos tragen Schweizer Nummernschilder, telefoniert wird mit Schweizer Providern und auch gegen die Unbill des Lebens sind die Campionesi in der Schweiz versichert. Und es war eine Schweizer Eigenheit, das Spielbankenverbot, das dem armen Fischerdorf großen Reichtum und etwas Glamour brachte.
Im Jahr 1990 begann die Planung für das größte Spielcasino Europas. Der Tessiner Stararchitekt Mario Botta wurde auserkoren, einen zehn Stockwerke hohen und 190 Millionen Franken teuren Koloss zu bauen. Je größer das Casino, desto mehr Kunden, umso mehr Einnahmen – so lautete die Rechnung der Verantwortlichen damals. Das Internet, wo das Glücksspiel heute ein Milliardenmarkt ist, gab es noch nicht. Und dass der italienische Gesetzgeber kurz darauf Slotmaschinen in Kneipen erlauben und dass auch dieser Markt explodieren würde, war nicht vorhersehbar. Auch nicht, dass in der Schweiz das Glücksspiel erlaubt und Casinos in Mendrisio, Lugano oder Locarno dem Monster von Campione die Kunden abwerben würden. Und niemand dachte daran, dass der Franken-Euro-Kurs von 1,60 Franken auf 1,10 fallen und tiefe Löcher in die Buchhaltung reißen könnte.
Auch der Mann, der in Campione in der Bar Rouge et Noir vor einem Espresso sitzt, hat 35 Jahre lang als Techniker vom Casino gelebt. Seinen Namen möchte er lieber nicht in der Zeitung lesen. Jetzt schlägt sich der bald 60-Jährige durch mit Gelegenheitsjobs als Möbelpacker, oder er jobbt stundenweise in einer Putzkolonne. "Wir leben von der Verzweiflung", sagt er, "den Glauben an Medien, Politik und Justiz haben wir verloren."
Kommentare
Die meisten riskanten Dinge sind schoen so lange nichts schief geht.
"Jahrelang hat sie gut gelebt von den 700.000 Franken, die alle zehn Tage vom Spielcasino in die Gemeindekasse flossen."
Also pro Jahr 50 * 700.000 = 35.000.000 Franken
Und in nur 10 Jahren 350.000.000 Franken.
Davon haben nicht nur die Einwohner des 2000-Seelen-Dorfes gut gelebt.
Wo ist dieses Geld geblieben?
Wie kann man denn 30-35 Jahre lang in einem Casino arbeiten, das 1990 erst geplant wurde?
Vielleicht gab es vorher schon ein kleineres Casino.
Das italienische Innenministerium ist derzeit voll ausgelastet - für ein kleines Dorf ist da keine Zeit ...
Man kann die ganze Zone ja an die Schweiz abgeben
So als Sachleistung
Damit kann man ja einen Teil der Außenstände tilgen
Jahrzehnte gut von gelebt, nun ist der Traum halt ausgeträumt. Das ganze Dorf abwickeln und an die Schweiz verkaufen.
Eine kurze Frage, wie verkauft man genau Menschen? Ich muss gestehen, seitdem die Sklaverei nicht mehr en-vogue ist, fehlen mir da die Erfahrungswerte..
Es bliebe natürlich noch die russische Lõsung. Schwarz gekleidete Soldaten werden über Nacht eingeflogen, die dann dort zuerst Urlaub machen und dann ein Referendum organisieren und dauerhafte Rentenzahlungen versprechen.
In der Schweiz gibt es keine Sklaven. Würde Campione schweizerisch, wäre es in der einzigen europäischen Volksdemokratie eine Traum Lösung für die Bewohner.
"Es bliebe natürlich noch die russische Lõsung. Schwarz gekleidete Soldaten werden über Nacht eingeflogen, die dann dort zuerst Urlaub machen und dann ein Referendum organisieren und dauerhafte Rentenzahlungen versprechen."
Die Schweiz hat keine Expansionsgelüste. Wie sie dem Artikel entnehmen können kümmert sich die Schweiz schon heute "solidarisch" darum, dass in diesem Ort das nötigste funktioniert. Ich hoffe nicht, dass daraus abgeleitet werden wird, dass sich unser Land auch noch um andere nicht oder schlecht funktionierende Teile div. Länder kümmern sollte. Es wäre doch schön wenn unsere Nachbarn im Stande wären, ihre Territorien in zu versorgen. Ausserdem war Campione lange eine Steueroase mit vilen deutschen Einwohnern.
Was? In der Schweiz gibt es keine Sklaven? Wirklich? Und die Schweiz ist dazu auch noch ein kommunistisches Land?
"Es bliebe natürlich noch die russische Lõsung. Schwarz gekleidete Soldaten werden über Nacht eingeflogen, die dann dort zuerst Urlaub machen und dann ein Referendum organisieren und dauerhafte Rentenzahlungen versprechen."
Die würden bezahlt, nicht nur versprochen.
Ich sagte das Dorf, nicht die Einwohner. Die können sehen was sie machen. Im Casino arbeiten jedenfalls nicht.
Ich dachte, der Sarkasmus wäre von allein erkennbar gewesen. - Mir ist schon klar, dass langfristig die zukünftige finanzielle Lage der Schwiez wohl nicht mehr ganz so rosig sein dürfte, nachdem die Steuervermeidung von Bürgern anderer Länder ja nicht mehr allzu reibungslos zu laufen scheint als "Geschäftsmodell", oder wie sehen Sie das?
Auf jeden Fall ist es tatsächlich schön zu lesen, dass die kommunalen Nachbarn von Campione so viel Mitmenschlichkeit beweisen! :)
"Die würden bezahlt, nicht nur versprochen."
Das glaube ich aufs Wort, im Kreml ist man über jeden Zuwachs an Einfluss in Europa sehr glücklich.
… seitdem die Sklaverei nicht mehr en-vogue ist…
Wie kommen Sie denn darauf? Das Kind hat heute höchstens einen anderen Namen unter marginal modifizierten Rahmenbedingungen.
Sagte das Dummchen in einer Debatte über eine italienische Exklave, die über Jahrzente von schweizerischem Recht profitierte und potenzielle schweizerische Steuern abgezogen hat.