Zwei Künstler aus meinem Bekanntenkreis wollen Berlin verlassen. Eine österreichische Autorin, die seit 20 Jahren in der Hauptstadt lebt, schätzt "das leichte Leben und die reiche Kultur" hier (ich übrigens auch). Nun kündigte sie an, nach Wien ziehen zu wollen. In ihrem Berliner Viertel liegen die Mieten bei 2000 Euro, in Wien kosten sie nur ein Drittel dieser Summe.
Wer wie ich derzeit eine Wohnung sucht, versteht sehr gut, warum man für das "reiche und prunkende" Wien das "arme, aber sexy" Berlin aufgibt. Eine kleine Wohnung in einem kulturell reichen Quartier bezahlen zu können wird selbst für jene, die diesen Reichtum produzieren, immer schwieriger. Vergangene Woche musste ich bei einer Wohnungsbesichtigung einen Lebenslauf wie auf Jobsuche vorlegen, um unter 80 Bewerbern eine Chance zu haben.
Bei einem jährlichen Zuzug von 40.000 Menschen kommt der Wohnungsbau nicht nach, die Mieten sind explodiert. Und was die Multikulturalität angeht: Der chinesische Künstler Ai Weiwei kündigte an, Berlin verlassen zu wollen. Wenn ein Künstler, der nach seiner Haft in China sein Schaffen in Berlin fortsetzte, weggehen will, ist das für mich, der nach seiner Haft in der Türkei ebenfalls sein Schaffen hier fortsetzt, natürlich von Bedeutung. Deshalb sah ich mir seine Worte genau an. Ai Weiwei klagt, die deutsche kulturelle Hegemonie lasse keinen Raum für abweichende Stimmen. Er erwähnt Diskriminierung durch Taxifahrer, und der Leitung der Berlinale wirft er vor, sich dem Druck chinesischer Finanziers zu beugen und dissidente Filme auszusperren. Die Leitung der Berlinale wie auch andere nach Deutschland immigrierte Künstler widersprechen ihm allerdings.
Es mag wie Luxus wirken, wenn Dissidenten aus China oder der Türkei über die Grenzen der deutschen Debattenkultur klagen. Doch die meisten haben in ihren Ländern für die Überwindung von Diskursgrenzen gekämpft – und Berlin hat die Geflüchteten mit offenen Armen empfangen. Deshalb sollte die "Hauptstadt der Exilierten" die Kritik ernst nehmen, um diesen Titel zu behalten. Für mich gilt: Seit ich hier bin, habe ich mich trotz "kultureller Differenzen" in der Berliner Intellektuellenwelt und der bunten Diasporafamilie nie fremd gefühlt. Doch es wäre unrealistisch, zu sagen, Berlin sei nicht von den Problemen betroffen, die der gewaltige Flüchtlingsstrom in aller Welt verursacht hat. Diskriminierung durch Taxifahrer ist ein häufig genanntes Beispiel. Kurz nach meiner Ankunft verweigerte mir zum Beispiel ein Briefträger meine Post, weil ich Englisch sprach: "Hier ist Deutschland, hier spricht man Deutsch." Egal wie anerkannt man ist – es ist verletzend, wenn sich jemand plötzlich derart diskriminierend verhält. Die Haut im Exil ist dünn.
Ein Autor, der in der Türkei ziemlich beliebt ist, kehrte nach einiger Zeit nach Berlin zurück. Seine Begründung: "Die Verlage, bei denen ich mein Manuskript einreichte, sagten: 'Wir hatten anderes von Ihnen erwartet.' Als ich nachhakte, wurde mir klar, dass die Erwartungen sich darauf beschränkten, von mir etwas über die Türkei zu bekommen. Man gab mir zu verstehen, nur deutsche Autoren hätten das Privileg, universale Themen zu bearbeiten."
Obwohl die Offenheit der Bevölkerung und der Intellektuellenkreise für abweichende Ideen groß ist, stehen viele Stiftungen und Unternehmen aus Angst vor den Reaktionen aus der Türkei regierungskritischen Projekten distanziert gegenüber. Ob Ai Weiwei in New York, das er nun vermutlich Berlin vorzieht, ein toleranteres Klima vorfindet? Das bezweifle ich. Doch da die Welt zunehmend in die Pranke der Intoleranz gerät, wäre es gut, wenn Berlin über die Gründe derer nachdenken würde, die ihm den Rücken kehren. Die Stadt muss Zufluchtsort für Exilierte bleiben. Arm, aber sexy.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatape
Kommentare
Hier gibt es einen wunderbaren Artikel, der das Thema mit Ai Weiwei sehr gut zusammenfasst: https://www.welt.de/debatte/…
Dass es wirklich um Berliner Taxifahrer geht, halte ich für extrem unwahrscheinlich.
Die Gründe liegen m. E. eher in den (abgewiesenen) Filmprojekten.
"Die Berlinale hatte im Februar unter anderem den neuen Film des chinesischen Regisseurs Zhang Yimou nicht gezeigt, nachdem China ihn wenige Tage vor der Premiere wegen angeblicher "technischer Probleme" zurückgezogen hatte.
Schon im Februar hatte Ai Weiwei der Berlinale Vorwürfe gemacht, nachdem ein von ihm gefilmtes Segment des Films "Berlin, I Love You", der aktuell in den Kinos läuft, entfernt worden war. Im aktuellen Interview sagt der Künstler, die Berlinale habe auch mehrere andere Filme und Dokumentationen aus China zurückgewiesen."
https://www.spiegel.de/kultu…
Das Problem sind nicht arme Flüchtlinge, sondern eine globale digitale Ökonomie der Ungleichheit, in der immer mehr Leute ohne mit der Wimper zu zucken jeden Miet- oder Kaufpreis bereit sind zu zahlen, um zuzuziehen. Wohlstandsmigranten treiben die Gentrifizierung an, vertreiben dabei immer mehr Menschen ins Umland.
warten auf abfällige bekennende süddeutsche Kommentatoren, 3,2,1...
Dass jemand von einem Briefträger erwartet, auf englisch angesprochen zu werden, ist wahlweise naiv oder sehr, sehr selbstbezogen. In jedem Fall ein absolutes Luxusproblem.
Wie schon weiter oben:
Interessante Verdrehung dessen, was wirklich im Artikel steht.
Der Autor verlang nicht, auf English angesprochen zu werden / geantwortet zu bekommen. Er erwartet, vollkommen zu Recht, das er seine Post bekommt, egal ob er nun Deutsch, Englisch oder Westerwälder Platt spricht.
Bei uns sprechen die Briefträger alle Sprachen, je nach Nationalität, an wen die Briefe ausgehändigt werden.
Ein Mann von Klasse sollte über solche Kleinigkeiten, die ja nicht jeden Tag passieren, hinwegsehen. Und das auch breittreten.
Bei uns sind die Briefträger jedenfalls höflich und kommen nicht mit so einer blöden Aussage, dass in "Deutschland deutsch gesprochen wird". Die sogenannte "berliner Schnauze" kann für diesen dämlichen Satz nicht herhalten, denn dieser Satz ist vollkommen humorlos, und das ist die Berliner Schnauze glücklicherweise sonst doch wohl eher nicht. Oder?
Briefzusteller sprechen doch gar nicht mit den Empfängern, da sie außer bei gerichtlichen Zustellungen gar nicht klingeln, sondern stecken den Brief in den Briefkasten? Irgendwas an dieser Geschichte ist seltsam...
Zweiundsechzig Sternchen ,für eine eindeutige Leseverständnischwäche !
Armes Zeit Forum ,armes armes Deutschland
---Doch da die Welt zunehmend in die Pranke der Intoleranz gerät, wäre es gut, wenn Berlin über die Gründe derer nachdenken würde, die ihm den Rücken kehren.---
Das sind allerdings auch Berliner, die zeitlebens hier gelebt haben und von Migranten (nicht nur Schwaben) verdrängt werden.
Denken wir also mal darüber nach warum Menschen ihre Heimat verlassen, obwohl sie nicht verfolgt oder mit Tod bedroht werden.
Es gibt kein Vorrecht von Exilanten auf diese Stadt viel eher für die hier aufgewachsenen.
Letztendlich bleibt eine Kulturel durchmischte Stadt naturlich wesentlich interessanter als eine homogene.
Für niemanden gibt es ein Vorrecht auf "Ihre" Stadt, weder für "Exilanten" noch für die dort Aufgewachsenen. Jeder kann sich seinen Wohnort selbst aussuchen.