Große Klasse – Seite 1
Werksschließung, Viertagewoche, Kurzarbeit – man kennt solche Notmaßnahmen aus der Industrie. Gut möglich, dass deutsche Schulen bald zu ähnlich drastischen Maßnahmen greifen. Sie könnten Klassen vergrößern, Schulfächer streichen, Lehrern ihre Teilzeit nehmen oder sie an Brennpunkte versetzen. Sie sollten es sogar tun.
Denn aller Voraussicht nach wird der Lehrermangel in Zukunft noch dramatischer als gedacht. Er wird die Schulen länger lähmen als befürchtet. 26.000 Pädagogen fehlen bis 2030 allein in den Grundschulen. Das haben die Wissenschaftler Klaus Klemm und Dirk Zorn kürzlich ausgerechnet, mal wieder übrigens für die Bertelsmann-Stiftung – und nicht für die eigentlich zuständige Kultusministerkonferenz.
Die Folgen des Lehrermangels sind tief greifend: Überall in Deutschland ziehen nun Laienlehrer in die Schulen ein. Zwar holen die Quer- oder Seiteneinsteiger ihre pädagogische Ausbildung irgendwie nach. Doch fast immer stehen sie ohne formelle Vorbereitung vom ersten Tag an vor einer Klasse. Lange hieß es, die Ausbildung unserer Lehrer müsse angesichts bunterer Klassen, Sprachproblemen und Inklusion anspruchsvoller werden. Jetzt darf so gut wie jeder unterrichten. In großer Geschwindigkeit wird einer der Zentralberufe unserer Zeit deprofessionalisiert.
Immerhin, Seiteneinsteiger haben in der Regel studiert. Sie können die Schulen im günstigen Fall bereichern. Da das Reservoir der arbeitslosen Musiker, zukunftsbangen Journalisten und neue Herausforderungen suchenden BWLer aber zur Neige geht, öffnen sich die Schultore auch Nicht-Akademikern: Köchen, kaufmännischen Angestellten, Krankenschwestern. Die Helfer sollen den Schulbetrieb nur zeitweise unterstützen – bei Arbeitsgemeinschaften, im Nachmittagsbetrieb oder bei Pausenaufsichten. Doch wenn Lehrer krank werden, müssen auch sie als Unterrichtsvertretung ran – manchmal über viele Monate.
Schon jetzt ist absehbar: Weder Seiteneinsteiger noch Helfer können die Löcher im Stundenplan langfristig stopfen. In Sachsen-Anhalt gilt das schon jetzt. In manchen Landkreisen ist die Personaldecke so dünn, dass jeder Lehrer- gleich zu einem Unterrichtsausfall führt, oft tagelang. Die Schüler werden nur noch betreut, bekommen in einigen Fächern keine Noten mehr. In 300 Klassen im Land wird das zu den Halbjahreszeugnissen der Fall sein. Spätestens bei der nächsten Grippewelle wird Sachsen-Anhalt kein Einzelbeispiel bleiben.
Die Lehrerlücken sind nicht überall gleich groß. Bayern und Hamburg leiden weniger, Nordrhein-Westfalen, Bremen, Berlin und einige Ostländer hingegen massiv. Auch die Schulformen sind unterschiedlich betroffen: Gymnasien haben überall weiterhin genug Personal; die Not grassiert, wo die Kleinsten und Bildungsschwächsten zur Schule gehen. Je abgehängter die Region, je ärmer das Viertel, je sozial benachteiligter die Familien, desto wahrscheinlicher, dass Lehrerstellen nicht regulär besetzt werden können.
Mehr Schüler als erwartet
Prognosen der Schülerzahlen im Vergleich, in Millionen Grundschülern
Bildungspolitik ist ein undankbares Feld. Für viele Probleme – etwa die Chancenungleichheit – tragen die Kultusminister nicht die Hauptverantwortung, werden aber dafür gescholten. Der Lehrermangel jedoch ist selbst verschuldet. Größere Projekte leiden darunter besonders. Der versprochene Ausbau der Ganztagsbetreuung in der Grundschule? Eine Illusion. Knapp 20.000 zusätzliche Lehrkräfte benötigt man für den Plan. Man findet sie nicht. Fortschritte bei der Inklusion, mehr individuelle Förderung? Schwierig.
In vielen Bundesländern kommt es jetzt stärker darauf an, flächendeckend den Kern von Schule zu bewahren: den normalen Unterricht in den Hauptfächern. Ideen dafür gibt es. Leider sind sie alle unpopulär. Ein paar Vorschläge aus dem Giftschrank der Bildungspolitik:
Größere Klassen. In einem Punkt zeigen sich Lehrer und Schüler, Eltern wie Politiker einig: Große Klassen sind schlecht. Doch das stimmt nicht. Weder schneiden Nationen mit großen Klassenstärken – etwa bei Pisa – schlechter ab, noch unterrichten Lehrer in kleinen Klassen besser. Im berühmten Ranking wirkungsvoller Reformmaßnahmen des neuseeländischen Schulforschers John Hattie landet die Klassengröße deshalb sehr weit hinten. Erst Klassenfrequenzen um die 15 Schüler wirken sich auf den Lernerfolg aus, allerdings nur moderat. Zwei Kinder weniger pro Unterrichtsraum in Deutschland verändern dagegen nichts – zwei Kinder mehr auch nicht. Sie schaffen freilich Luft beim Lehrerbedarf.
Konzentration auf den Kern
Weniger Teilzeit. 46,5 Prozent der Grundschulkräfte – die meisten sind Frauen – arbeiten in Teilzeit, weit mehr als die Erwerbstätigen insgesamt (28 Prozent). Eigene Kinder sind das Hauptmotiv der Arbeitszeitverkürzung. Eine Alternative dazu wäre, Lehrerinnen bei der Kita-Vergabe zu bevorzugen. Die Stadt München etwa verfügt über sogenannte Kontingentplätze für städtische Angestellte. Und warum eigentlich errichten Schulträger keine Betriebskindergärten für ihre Mitarbeiter?
Reichen wird das nicht. Es gibt keine andere Branche, in der man seine Arbeitszeit von Jahr zu Jahr so flexibel anpassen kann wie im Pädagogenberuf. In Notzeiten kann man sich dieses Privileg nicht mehr überall leisten. Im Konflikt zwischen der allgemeinen Schulpflicht und den individuellen Lebensentwürfen von Lehrkräften sollte klar sein, was Vorrang hat.
Mehr Loyalität. Lehrer sind in der Regel Beamte, sie haben gegenüber dem Staat eine besondere Verpflichtung. Im Gegenzug werden sie gut bezahlt und niemals arbeitslos. Deshalb ist es schwer verständlich, warum es so kompliziert ist, sie dort einzusetzen, wo sie am meisten gebraucht werden. Erfahrene Kräfte gehören an Brennpunktschulen, keine Seiteneinsteiger. Keine Gymnasiallehrerin sollte gezwungen werden, Erstklässlern das Lesen und Schreiben beizubringen. Aber Sachkunde oder Sport, Mathematik und Englisch sollten sie mit einer Fortbildung in den weiterführenden Stufen schon unterrichten können – besser jedenfalls als Laien ohne pädagogische Ausbildung. Das sollten auch Lehrerverbände und Personalräte, die gegen solche "Abordnungen" oft Sturm laufen, verstehen.
Konzentration auf den Kern. Doch vielleicht kommt es mancherorts auf Fächer wie Sport oder Englisch schon bald gar nicht mehr an. Vielleicht gilt es, sich dort auch offiziell auf das Wesentliche zu konzentrieren: in den Anfangsjahren also auf das Lesen, Schreiben und Rechnen. Englisch in der Grundschule ist dagegen ein "Nice to have", und das Turnen kann vielleicht auch ein Trainer aus dem benachbarten Verein übernehmen – bevor ein ausgebildeter Deutschlehrer dafür seine Stunde verbraucht.
Natürlich sollte man den Lehrkräften die Härten versüßen: mit Geld und Arbeitszeitkonten, mit Zulagen in Brennpunktschulen, mit höherem Gehalt für Grundschullehrer. Sie haben die Personalmisere schließlich nicht verursacht. Doch es hilft ja nichts: Die Ausbildung neuer Pädagogen dauert Jahre. Solange zu wenige neue Lehrer in die Schulen kommen, müssen die vorhandenen Kollegen mehr geben.
Was wäre, wenn der Staat nicht zu wenig Lehrer ausgebildet hätte, sondern zu wenig Chirurgen, Feuerwehrleute oder Justizbeamte? Würden dann Biologen oder Tierärzte in unseren Krankenhäusern operieren? Würden Verbrecher frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen oder Brände nur noch in gehobenen Stadtteilen verlässlich gelöscht?
In Deutschland herrscht Schulzwang, Eltern müssen ihre Kinder zum Unterricht schicken. Im Gegenzug verpflichtet sich der Staat, allen Schülern das notwendige Wissen zu vermitteln, durch gut ausgebildete Lehrer. Schafft er es nicht, dieses Versprechen einzuhalten, kommt er einer seiner wichtigsten Aufgaben nicht nach. Das wäre dann nicht mehr nur politisches Missmanagement – sondern Staatsversagen.
Quellen
Steigende Schülerzahlen im Primarbereich heißt die Studie von Klaus Klemm und Dirk Zorn für die Bertelsmann-Stiftung
Bildung in Deutschland 2018: Im Nationalen Bildungsbericht findet man die Zahlen zur Teilzeitarbeit von Lehrkräften
Lernen sichtbar machen – die berühmte Meta-Studie von John Hattie, die den Lernerfolg von Schülern untersucht
Links zu diesen und weiteren Quellen zum Lehrermangel finden Sie unter zeit.de/wq/2019-42
Kommentare
Gut auf den Punkt gebracht: "weniger Teilzeit…, mehr Loyalität...", Härteausgleich und hoffentlich auch mehr Leistungsanreize für alle LehrerInnen, zumal der Lehrermangel kein reines Grundschulphänomen bleiben wird.
Viele Frauen entscheiden sich für den Lehrerberuf wegen der guten Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Zu den radikalen Lösungen sollte gehören, dass um der Gerechtigkeit willen Gymnasiallehrer bundesweit gleich oder schlechter als Grund- und Hauptschullehrer bezahlt werden sollten. Es herrscht heute keine Mangel mehr an Menschen, die in der Lage sind, Deutsch, Mathematik und eine Fremdstufe auf Oberstufenniveau zu unterrichten. Hingegen gibt es wenig Männer und Frauen, deren kommunikative Stärke, emotionale Stabilität und deren pädagogisches Talent für einen Unterricht ausreicht, der gegen die allgegenwärtige Verlockung der Bildschirme ankommt. Schon aus der Entwicklungspsychologie ergibt sich, dass die pädagogischen Anforderungen an die Lehrkraft um so mehr zunimmt, je jünger die zu unterrichtenden Schüler sind. Dasselbe gilt auch für den Unterricht mit Kindern, denen es, durch welche Gründe auch immer, an den diversen Vorläuferfähigkeiten mangelt und die unter den Folgen dessen leiden.
Hingegen kann man die Heranwachsenden der Mittel- und Oberschicht, die sich an den Gymnasien versammelt haben, viel mehr sich selber überlassen und in die Verantwortung nehmen. Wer ist überhaupt auf die krude Idee gekommen, die Leistungsfähigsten der 16- bis 18-Jährigen eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung und -Kontrolle zu verordnen? Da zeigt sich wieder das verquere und reichlich veraltete Menschenbild der Kultusministerien. Und die Eliten, denen diese Kinder entspringen, haben bis heute nicht begriffen, dass dieser kurze Zügel sich letztlich zum Schaden ihrer Kinder auswirkt.
Das Studium für Gymnasiallehrer ist anspruchsvoller als das Von Grundschullehrern oder Hauptschullehrern. Der Stoff der Oberstufe ist anspruchsvoller. Dreisatz kann tatsächlich jeder vermitteln. Analysis hingegen oder Englisch auf dem Abiturniveau definitiv nicht.
Interessant... Deutschland hat also zuwenig Lehrerinnen und Lehrer, und um Abhilfe zu schaffen, wollen Sie gleich einmal den Beruf unattraktiver machen: größere Klassen, weniger Arbeitszeit-Flexibilität, Unterrichten an Schulen, für die man nicht ausgebildet wurde und an denen man nicht unterrichten will, und in Fächern, für die man möglicherweise keinerlei Interesse hat. Der Effekt ist vorhersehbar: Kurzfristig kann man damit vielleicht ein paar Löcher stopfen, mittelfristig wird man aber Studierende vom Beruf des Lehrers abschreckung und noch einen größeren Lehrermangel fabrizieren!
Vielleicht sollte man stattdessen überlegen, wie man die Arbeitsbedingungen (gerade an den Brennpunktschulen) erträglicher gestaltet, und wie in der Privatwirtschaft üblich dort, wo Personalmangel herrscht, gezielt anzuwerben und attraktivere Konditionen zu bieten. Damit ist nicht notwendigweise ein höheres Gehalt gemeint, sondern eventuell Entlastung durch Unterstützungspersonal in der Verwaltung, SozialarbeiterInnen, FreizeitpädagogInnen etc. Das machen nämlich LehrerInnen alles "nebenbei" mit, obwohl sie eigentlich unterrichten sollten!
Das entspricht nur dem auch in allen anderen Politikfeldern immer mehr verfolgten Prinzip der Beliebigkeit. Je schneller die Bürger sich daran gewöhnen, dass der Staat viel nimmt und wenig gibt, desto bequemer regiert es sich. Und desto weniger muss man sich am Gemeinwohl orientieren.
Meine Urgroßmutter (Jg. 1890) schrieb Anfang der siebziger Jahre angesichts der vielen Experimente in den Schulen in einen Leserbrief an die Cellesche Zeitung, in dem sie meinte, der Bauer müsse nur lesen, schreiben, rechnen und beten lernen. Der Tip, auf einige Fächer zu verzichten, erinnert mich wieder einmal daran.
Allerdings war damals die Not ähnlich groß. Die Mengenlehre ersetzte das Rechnen und sorgte für Ratlosigkeit bei den Eltern, die helfen wollten. Der Lehrermangel war enorm. Ich ging damals vier Tage die Woche in die Schule, obwohl der Sonnabend regulär Schultag war. Ich hatte 20 Wochenstunden und sehr viel Freizeit für einen Gymnasiasten.
Und auf eine weitere Wiederholung freuen wir uns schon alle: die Lehrerschwemme samt examinierter Taxifahrer und Crepebäcker in den 30er Jahren wie 50 Jahre zuvor.
Die vielzitierten promovierten Taxifahrer waren nur ein kurzes Übergangsphänomen. Von den vielen Lehramtsstudenten aus der Zeit der "Lehrerschwemme" (der dann leider nochmal eine Zeit des Lehrermangels wegen Geldmangels folgte), die ich kannte, haben alle ein gutes Auskommen gefunden. Die einen früher, die anderen etwas später. Aber nur etwa die Hälfte hat als Lehrer gearbeitet.