Jede Woche stellen wir Politikern und Prominenten die stets selben 30 Fragen, um zu erfahren, was sie als politische Menschen ausmacht – und wie sie dazu wurden. Und wo sich neue Fragen ergeben, haken wir nach. Die Nachfragen setzen wir kursiv.
1. Welches Tier ist das politischste?
Vermutlich die Ameise. Sie muss ihren Alltag extrem an der Gemeinschaft ausrichten.
2. Welcher politische Moment hat Sie geprägt – außer dem Kniefall von Willy Brandt?
Ich war ein Kind, sicherlich noch nicht in der Schule, und saß in Teheran bei meiner Tante. Ich hatte etwas aufgeschnappt von Folter und habe einfach gefragt: Was ist denn das, stimmt das? Plötzlich sagten am Tisch alle "Pssst!". Dieses Überraschende – es gibt Dinge, die man nicht einmal zu Hause ansprechen darf – hat sich mir eingebrannt. Und die Angst.
Sie haben selbst einen Moment geprägt, nämlich 2014 mit Ihrer Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes. Hätten Sie dieser Rede heute etwas hinzuzufügen?
Nein.
Ist in der Flüchtlingspolitik aus Ihrer Sicht etwas besser geworden seither?
Als ich die Rede hielt, gab es im öffentlichen Bewusstsein noch keine Flüchtlingskrise, obwohl seit Anfang des Jahrtausends bereits jedes Jahr mehrere Tausend Menschen im Mittelmeer ertranken. 2015 kamen dann eine Million, und die Krise rückte auch ins deutsche Bewusstsein. Inzwischen ist das übergegangen in bewusstes Ignorieren. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, Türen auf und alle willkommen. Ich glaube, dass es komplexere Antworten braucht. Aber die braucht es eben, und davon sind wir heute wieder so weit entfernt wie 2014.
3. Was ist Ihre erste Erinnerung an Politik?
Das ist dann doch der Kniefall von Willy Brandt. Im Bundestag wurde Brandt dafür als Vaterlandsverräter beschimpft, aber meine Familie redete sehr lebhaft und positiv von ihm. Dass ein Staatsführer, der doch eigentlich für Stolz, für Macht, für Männlichkeit steht, aus Scham auf die Knie ging, verblüffte und beeindruckte meinen Vater, das kannte er nicht.
4. Wann und warum haben Sie wegen Politik geweint?
Das war 2006 nach der Rückkehr von meiner ersten Afghanistan-Reise. Als ich allein war, kamen mir die Tränen. Das Elend in Afghanistan war einfach niederschmetternd und die Wirklichkeit in Europa so unwirklich, unwirklich bequem. Dabei habe ich wirklich kein anderes Land erlebt, wo die Menschen mir so extrem herzlich entgegengekommen sind wie in Afghanistan.
5. Haben Sie eine Überzeugung, die sich mit den gesellschaftlichen Konventionen nicht verträgt?
Ich widersetze mich der gendergerechten Sprache. Wenn man die Schriftsprache nicht mehr sprechen kann, dann ist das für einen Schriftsteller vielleicht noch mal schmerzhafter als für andere – weil der Sprache Schmerz zugefügt wird. Sprache ist eben auch Schönheit, ist Form, ist Klang. Ja, und meine Bücher halten sich auch noch konsequent an die alte Rechtschreibung, da bin ich richtig reaktionär.
6. Wann hatten Sie zum ersten Mal das Gefühl, mächtig zu sein?
1983 bei der ersten Friedensdemo im Bonner Hofgarten. Diese für mich überwältigende Menge von Menschen, dieses Gefühl: Gemeinsam können wir was bewegen. Ich war 15, aber für mich war das ein ganz erhabener Moment. Das Gefühl hat sich allerdings schnell verflüchtigt, denn kurzfristig hat die Friedensbewegung bekanntermaßen nichts bewegt; der Doppelbeschluss kam. Langfristig hat sie aber doch das Bewusstsein verändert.
7. Und wann haben Sie sich besonders ohnmächtig gefühlt?
Ich war 2009 als Reporter für die ZEIT dabei, als im Iran die Demokratiebewegung niedergeschlagen wurde. Als die Knüppel und das Tränengas kamen, blieb mir nichts übrig, als einfach zu rennen, und ich merkte: Ich bin total ohnmächtig. Ich habe ein Bild vor Augen, wie ein Polizeiknüppel in einen Schädel hineinfährt und Blut spritzt; das war fünf Meter entfernt. Ich wusste, wenn ich da was sage, dann ist mein Kopf der nächste.
8. Wenn die Welt in einem Jahr untergeht – was wäre bis dahin Ihre Aufgabe? Sie dürfen allerdings keinen Apfelbaum pflanzen.
Mich um meine Kinder zu kümmern.
Kommentare
Navid Kermani ist ein aufrichtiger Mensch, seine Aussagen sind wahrhaftig und er tätigt sie, ohne sich zu verstellen oder den ihn Befragenden schmeicheln zu wollen. Seine politischen Bestandsaufnahmen sind - in ihren fundamentalen Resümees - durchaus vergleichbar mit der Kritik Juli Zehs an der Politikverdrossenheit resp. Demokratiefeindlichkeit in großen Teilen Deutschlands, wohingegen Frau Zeh die Demokratieverächter*innen sich eben auch aus den intellektuellen Eliten rekrutieren und exponentiell ausbreiten sieht, wodurch diese folglich zu Manipulatoren avancieren, die ein demokratiefeindliches Klima mehr und mehr dynamisieren. Das Sympathische an N. Kermani ist, so erscheint es mir, dass er vermittelt zwischen okzidentalen und orientalischen Kulturen, Ethnien, Religionen, mitunter völlig heterogene und diametral einander gegenüberstehende Gruppierungen in den Blick nimmt und feststellt, dass die einzigen Wege aus den derzeitig prekären Lagen, darin zu sehen seien, dass wir unsere Blicke auf die Welt, in der wir mit 8 Milliarden homines sapientes gemeinsam leben, erweitern müssten, wenn wir überleben wollen. Klimakatstrophen, Kriege, Hungersnöte, ob in Syrien, Afghanistan oder andernorts - Kermanis Analysen sind weise, er ist ein Intellektueller mit großem Herzen, der den interreligiösen und interkulturellen Polylog initiiert, um Hass, Verachtung, Diskriminierung und Dehumanisierung zu minimieren. Sein Beispiel animiert, auf globale Weise zu denken, lokal zu interagieren.
Entfernt. Bitte bleiben Sie beim Thema. Danke, die Redaktion/as
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Liebe Redaktion, ich finde, Sie übertreiben es immer wieder sehr mit dem Löschen ganzer Kommentarstränge. Ich habe eine halbe Stunde an einer differenzierten Antwort auf Kommentar 2.1 gefeilt in dem Bemühen, eine sachliche Diskussion mitzugestalten und den Mitlesenden andere Argumente als dasjenige im Bezugskommentar anzubieten. Sie könnten doch durchaus auch mal den Teilnehmern und Teilnehmerinnen im Kommentarbereich zutrauen, kontroverse Ansichten auszuhalten und für sich gegenseitig abzuwägen. Der Kommentar 2.1 war meiner Ansicht nach zwar kleingeistig aber doch nicht dramatisch gegen die Netiquette verstoßend. Und durch ihn wurde eine Diskussion angeregt, die in der Gesamtschau von Rede und Gegenrede doch interessant und lehrreich sein kann. Ich finde es schade, wenn ehrliche Bemühungen um ziviles Diskutieren so pauschal gelöscht werden, zumal wenn der inkriminierte Ausgangskommentar nicht gegen jeden guten Geschmack verstoßen hat, sondern lediglich zu kontroversen Ansichten einlud.
" Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, Türen auf und alle willkommen. Ich glaube, dass es komplexere Antworten braucht. Aber die braucht es eben, und davon sind wir heute wieder so weit entfernt wie 2014."
Zum Glück ist er Iraner. Sonst wäre er für diesen Satz als Nazi niedergeschrien worden im Deutschland des Jahres 2019.
Da zumindest wir beide noch wissen worum es ging...
Es sei Ihnen unbenommen meine Auffassung, die allerdings oben nachlesbar exakt der des Herrn Kermani entspricht, für kleingeistig zu halten. Ihr Argument, ein Gendersternchen sei vergleichbar mit einem Apostroph und dessen Ablehnung daher rein ideologisch begründet trifft jedoch nicht zu. Die deutsche Sprache bietet die Möglichkeit Texte so zu formulieren, dass sich beide Geschlechter angesprochen fühlen können. Ausserdem ist ein Apostroph, ganz im Gegensatz zu einem Genderstern, ein Auslassungszeichen und, und darum geht es mir, behindert den Lese- insbesondere Vorlesefluss nicht.
Es ist mir bewusst, dass die Einführung des Gendersterns u. a. auch Menschen inkludieren soll, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen. Davon abgesehen, dass ich nicht Glaube, dass die Verunstaltung der deutschen Sprache diesen Menschen tatsächlich weiterhilft, verweise ich auf den ganz hervorragenden ZON-Artikel "Ein Ordnungsruf" von Andreas Reckwitz, in dem der Erfolg des Rechtspopulismus unter anderem dem heute gelebten Kulturliberalismus, mit seinem absoluten Primat des Individuums und der Partikularinteressen kleiner und kleinster Interessengruppen auf der einen Seite sowie strikter Ablehnung jeglichen Kollektivgedankens auf der anderen Seite, geschuldet ist.
Und er widersetzt sich der gendergerechten Sprache.
Danke für Ihren schönen Kommentar, spricht mir aus der Seele.
Seine Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2015 empfand ich auch als sehr beglückend, im übrigen auch die diesjährigen Reden:
https://www.friedenspreis-de…
Herr Kermani hat die deutsche und iranische Staatsbürgerschaft, ist in Deutschland geboren, äußert also als mehrheimischer Bürger dieses Landes, seine Meinung!
"Es sei Ihnen unbenommen meine Auffassung, die allerdings oben nachlesbar exakt der des Herrn Kermani entspricht, für kleingeistig zu halten. Ihr Argument, ein Gendersternchen sei vergleichbar mit einem Apostroph und dessen Ablehnung daher rein ideologisch begründet trifft jedoch nicht zu."
Bitte verzeihen Sie, wenn ich Sie ein wenig korrigieren muss: Ich halte nicht generell Ihre Meinung zur gendergerechten Sprache für kleingeistig, sondern die Art, wie Sie dem Verfasser des Kommentars 1.0 pauschal vorwarfen, die deutsche Sprache zu verhunzen und ihm deshalb generell nicht antworten wollten, offenbar, weil er in seinem Beitrag einmal ein Gendersternchen verwendet hat. Davon abgesehen ist - meiner Meinung nach - sein Kommentar ein sehr beredtes Beispiel dafür, dass der Autor die deutsche Sprache absolut nicht verhunzt, sondern im Gegenteil sehr elaboriert und differenziert verwendet. Man kann doch den Gebrauch des Gendersternchens kritisieren, ohne dabei einen Menschen komplett entgegen der offensichtlichen Tatsachen zu diskreditieren, oder nicht?
Zum zweiten. Ich hatte in meinem Kommentar mit keinem Wort etwas von Ideologie gesagt, hatte Ihnen auch keine vorgeworfen. Es liegt mir sehr am Herzen, das Thema gendergerechte Sprache so unideologisch wie nur irgend möglich zu diskutieren.
Was meine Analogie Gendersternchen - Apostroph anbelangt: Schrift besteht aus Zeichen. Zeichen bedeuten etwas, weisen auf etwas hin, sind nicht das Bezeichnete selbst. Insofern bewegen sich Gendersternchen und Apostroph für mich auf einer sehr vergleichbaren Ebene: Ein Apostroph weist darauf hin, dass ein Buchstabe ausgelassen wurde, der normalerweise zu dem Wort gehört, das Gendersternchen weist auf eine Vielfalt von Identitäten hin, die sich in dem Sternchen wiederfinden können, zeigt einen Bereich zwischen männlich und weiblich an, die beide in dieser Art von Bezeichnung ebenfalls vorkommen, aber auch nicht einfach als Parität, sondern als Pole eines Kontinuums, das die ganze Strecke dazwischen erfasst. In meinen Augen ist es schön, eine so große Vielfalt in dieser doch eigentlich so simplen Schreibweise ausgedrückt zu sehen. Ich bin selbst männlich. Aber ich kenne viele Menschen (Frauen, Trans*- und Intersexuelle), die darunter leiden, in unserer Sprache oft nicht vorzukommen und nur mitgemeint, nicht direkt angesprochen zu sein. Wer bin ich, ihnen diese Gefühle abzusprechen? Ich bemühe mich zunehmend um einen sensiblen Sprachgebrauch, weil ich meinen Freund*innen und ihren Gefühlen gerecht werden möchte. Für mich steht da keine Ideologie im Vordergrund, sondern der Respekt vor ganz konkreten Menschen mit ihren persönlichen Geschichten. Und ich empfinde es auch als immer auffälliger und schmerzhafter, wie durch und durch männlich dominiert die deutsche Sprache ist.
Nun, vielleicht habe ich, gendersterngetriggert, ein wenig zu emotional reagiert und den Rest des blomschen Komentares nicht ausreichend gewürdigt. Für ihre differenzierte Antwort haben Sie aber auf jeden Fall ein Komentarsternchen verdient. ;-)
...Kommentar, das zweite m wollte nicht so richtig....
"Für ihre differenzierte Antwort haben Sie aber auf jeden Fall ein Komentarsternchen verdient. ;-)"
Danke, Sie für Ihre freundliche Antwort aber auch! :-))
"2015 kamen dann eine Million, und die Krise rückte auch ins deutsche Bewusstsein. Inzwischen ist das übergegangen in bewusstes Ignorieren. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, Türen auf und alle willkommen. Ich glaube, dass es komplexere Antworten braucht."
"Meine jüngere Tochter, zwölf Jahre alt, ist extrem klimabewusst. Ich respektiere das, auch wenn ich die Fokussierung auf das Klima zu eng finde. Es gibt ja auch Probleme wie Armut."
Für die Flüchtlings- die Armuts- und die Klimaproblematik gibt es ein und dieselbe Lösung.
Deutschland (und jedes andere wohlhabende Land auch) muss seine Handelsmacht endlich richtig und menschengerecht ausüben.
Angefangen von der Entschuldung der armen Länder für ein besseres Ranking bis hin zur Rückgabe der Verfügungsgewalt über die Rohstoffe und Erzeugnisse der jeweiligen Länder.
Deutschland kann Bildung, technisches Knowhow und Technik, vor allem die für erneuerbare Energien liefern und somit seine Wirtschaft vergößern.
Ansonsten gilt es mit den Konflikttreibern zu verhandeln, ohne Ende zu verhandeln.
Über Schutztruppen kann vielleicht nachgedacht werden, ansonsten hat sich Deutschland aus Konflikten herauszuhalten und vor allem den Waffen und Munitionshandel einzustellen.
Die Idee, die Klimakatastrophe mit Verweis auf Armut relativieren zu wollen, kam mir auch extrem naiv vor. Am Ende steckt doch hinter beiden unser auf ungezügeltes Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem, das Menschlichkeit komplett ignoriert .
Ihr Vorschlag mit der richtig und menschengerecht eingesetzten Handelsmacht geht da schon in die richtige Richtung, besonders wenn man Art. 1 GG auf alle Menschen anwenden will.
>> 20. Welche politische Phrase möchten Sie verbieten?
Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. <<
Großartiger Mann, natürlich nicht nur, sondern auch wegen dieses Zitats.
Und großartiger Mann, dass er sich diesem Genderbefehl, der von einer kleinen, gesellschaftlich irrelevanten aber extrem lauten und politisch gut vernetzten Minderheit oktroyiert wird, nicht unterwirft.
Der Staat (siehe Behördenschreiben) ist da leider eingeknickt.
Entfernt. Auf Wunsch des Foristen. Danke, die Redaktion/as