Zeigt euch! – Seite 1
Deutschlands Bürger wollen politischere Wissenschaftler, der Bundespräsident plädiert für eine neue Streitkultur. Wie viel Streit brauchen die deutschen Hochschulen?
Am Montagmorgen sitzen Deutschlands Hochschulpräsidenten in einem Hörsaal der Universität Hamburg, wie Studierende, mit Anzug oder im Kostüm zwar, doch dicht an dicht, die Tischchen vor den Sitzen heruntergeklappt. Einige stützen sich ab, andere legen Notizbücher zum Mitschreiben vor sich hin. Manche schießen Fotos für Facebook: Hallo Bayreuth! Hallo Lüneburg!
Es ist die Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz, dieses Mal mit einem besonderen Gast. Um 11.02 Uhr kommt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in den Hörsaal, er wird eine der stärksten Reden seiner Amtszeit halten. "Wer eine Universität betritt, sei es als Lehrender oder als Studierender", sagt Steinmeier, "betritt nicht die stille, erdabgewandte Seite des Mondes. Sondern der betritt einen Raum der geistigen, auch politischen Auseinandersetzung."
Steinmeiers Rede fällt in das Ende eines Jahres, in dem an den Hochschulen so viel gestritten wurde wie lange nicht. Darüber, wie viel Streit eine Institution aushält. Was man Studierenden zumuten darf. Was die Rolle von Wissenschaftlern ist.
Steinmeiers Rede fällt aber auch mitten in eine Woche, in der darüber diskutiert wird, wie das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft aussieht. Am Donnerstag vergangener Woche stellte Bildungsministerin Anja Karliczek ein über Monate erarbeitetes Konzeptpapier zur Wissenschaftskommunikation vor; am Mittwoch erschien das "Wissenschaftsbarometer 2019", das jährlich aufzeigt, was die Bürger von der Wissenschaft erwarten.
Diese drei Ereignisse berühren drei große Fragen. Wie streitbar sind die Universitäten? Wie politisch dürfen Wissenschaftler sein? Wie öffentlich ist die Forschung? Von den Antworten wird abhängen, welche Rolle die Hochschulen in den kommenden Jahren in der Gesellschaft einnehmen werden.
Der Streit in den Fakultäten: "Wir haben kein Problem mit der Meinungsfreiheit", sagt Steinmeier in seiner Rede, "wir haben ein Problem mit unserer Streitkultur. Wir müssen sie aufs Neue lernen." Die Universität sei seit Jahrhunderten der Ort, an dem gestritten werde, sie dürfe ihre Streitkultur daher nicht verlieren und müsse Austragungsort für Kontroversen sein – "mit Schärfe und Polemik, mit Witz und Wettstreit". Sie solle "kein Ort der geistigen Schonung sein, sondern ein Ort der Freiheit aller zum Reden und zum Denken". Die Reaktionen der Präsidenten: immer wieder zustimmendes Nicken und Zwischenapplaus. Viele dieser Themen beschäftigen auch sie, wenn Gruppen – sei es von links, rechts oder aus dem islamistischen Spektrum – Lehrveranstaltungen stören oder Forschung verhindern wollen.
Die offene Wissenschaft: Zuletzt haben sich Forscher so stark politisch geäußert wie lange nicht. Die Scientists-for-Future-Bewegung unterstützt die Fridays-for-Future-Demonstrationen der Schüler. Und Deutschlands Bürger finden das gut – dies zeigt das "Wissenschaftsbarometer", eine repräsentative Umfrage, die der ZEIT vorab vorlag. 75 Prozent halten es für richtig, dass Wissenschaftler sich öffentlich äußern, wenn politische Entscheidungen Forschungsergebnisse nicht berücksichtigen. Über 50 Prozent denken, dass politische Entscheidungen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen sollten. Lediglich 29 Prozent der Befragten sagen, dass sich Wissenschaftler nicht in die Politik einmischen sollten. Gleichzeitig aber sind sich 46 Prozent nicht sicher, ob sie der Wissenschaft vertrauen können. Interesse und Skepsis gleichermaßen.
Jetzt entsteht ein Raum für innere Veränderungen
Strukturwandel der Öffentlichkeitsarbeit: Monatelang bereitete das Bundesbildungsministerium das Grundsatzpapier zur Wissenschaftskommunikation vor. Heraus kamen drei dürre Seiten Text, zentraler Punkt: Ob ein Forscher künftig Fördermittel des Ministeriums bekommt, hängt auch davon ab, wie er seine Erkenntnisse in die Öffentlichkeit bringen möchte. Weiteres soll nun von einem Arbeitskreis mit dem Titel #FactoryWisskomm besprochen werden. Die Enttäuschung unter Wissenschaftskommunikatoren ist groß, sie hatten mehr erwartet. Gleichwohl werden die neuen Förderstrukturen die Arbeit von Wissenschaftlern deutlich verändern.
Alle diese Punkte unterscheiden sich und haben doch etwas gemeinsam: Es geht um das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit, von Hochschule und Diskurs. Es spricht einiges dafür, dass gerade eine neue Epoche der Hochschulgeschichte anbricht.
Solche Epochen sind von inneren und äußeren Veränderungen geprägt. In den 1970er-Jahren zum Beispiel demokratisierten sich die Hochschulen von innen, während viele neue Unis ihren Betrieb aufnahmen. In den 2000er- und 2010er-Jahren waren die Hochschulen mit großen Strukturreformen in Lehre und Forschung beschäftigt: Sie stellten auf die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge um und bewarben sich um die Gelder für den Elite-Uni-Wettbewerb "Exzellenzstrategie", kürzlich zum vorerst letzten Mal. Gleichzeitig begannen immer mehr junge Menschen zu studieren, 2000 waren es 1,8 Millionen, zwei Jahrzehnte später 2,9 Millionen. Rein zahlenmäßig sind die Hochschulen jetzt das, was sie 2016 über sich selbst sagten: "zentrale Akteure in Wissenschaft und Gesellschaft".
Die großen Strukturreformen sind nun vorbei, Energie wird frei für Neues. Und jetzt passiert etwas, womit niemand gerechnet hat: Junge politische Köpfe drängen an die Hochschulen, nicht die Kreditpunktesammler und Regelstudienzeitfanatiker, wie man es immer befürchtet hat.
Vielleicht ist das die Reifeprüfung für ein ganzes Hochschulwesen. Für eine neue "Bewusstseinsbildung", wie die Medizinethikerin Alena Buyx von der TU München es nennt. Jetzt entsteht ein Raum für innere Veränderungen. Um einen guten Diskurs unter Studierenden zu finden. Um Forschern zu ermöglichen, in die Öffentlichkeit hineinzuwirken. Um mit neuen Formen der Digitalität in Forschung und Lehre zu experimentieren.
Auf die Hochschule der Strukturreformen folgt die Hochschule des Diskurses. Und es ist klar: Was an den Hochschulen diskutiert wird, wird Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft haben. Vielleicht so stark wie seit 50 Jahren nicht mehr. Wer spricht? Wie? Über wen? Und wo?
Für Forscherinnen und Forscher ist dieser Veränderungsprozess bereits in vollem Gange. Sie diskutieren intensiv, berichtet die Hamburger Klimasoziologin Anita Engels, "inwieweit sich Wissenschaftler einmischen sollten in politische Debatten". Buyx hält das gar für ihre ureigenste Verantwortung.
Zu dieser Verantwortung wurden die Wissenschaftler in dieser Woche ermutigt.
Ausgewählte Quellen und Links zu diesem Thema finden Sie hier
Kommentare
Bei mir im Bücherschrank steht das Buch "Manieren" von Asfa-Wossen Asserate.
Er entstammt der äthiopischen Oberschicht, wurde dort von deutschen Kindermädchen erzogen, spricht also fließend und akzentfrei deutsch, studierte im deutschen Tübingen sowie im englischen Cambridge, und das ausgerechnet zu der Zeit, als in Äthiopien die kommunistische Machtübernahme ausbrach und seine Angehörigen in Gefängnissen verschwanden.
Er blieb also hier und darf von sich behaupten, einen ziemlich objektiven, sozusagen ethnologischen Blick auf die Sitten und Gepflogenheiten der Europäer zu haben - und vor allem auf die unterschiedlichen Mentalitäten auf unserem Erdteil.
In seinem Vorwort findet sich der Satz:
"[...] und zugleich geriet ich mitten in die 68er Bewegung hinein. Im Cambridge Union habe ich mit Trotzkisten und Maoisten im Smoking debattiert, und in Frankfurt sah ich, wie Professoren unter einem Hagel fauler Eier aus den Hörsälen flohen."
Nun, diese deutsche "Debattenkultur" ist sich anscheinend bis heute treu geblieben.
Und die englische anscheinend auch.
Ich glaube, in England hätte Bernd Lucke zwar unter Umständen heftige Widerworte einstecken müssen, er hätte aber wenigstens unversehrt ausreden dürfen.
So sieht es aus.
Die sogenannte PC macht diese Linken zu den selbsternannten Wortführern.
In der Gesellschaft kommt dies meist nicht gut an, die Presse ist aber auf dem gleichen Dampfer.
Bereits vor 26 Jahren erschien ein Artikel dazu in der Zeit:
https://www.zeit.de/1993/43/…
Es gibt nur noch ein Niederschreien und Gewalt, das gefährliche ist, dass die Politik dies teilweise noch unterstützt.
Und dann wundert man sich über Wahlergebnisse?
Entfernt. Bitte bleiben Sie beim Thema. Danke, die Redaktion/nn
Der Kommentar, auf den Sie Bezug nehmen, wurde bereits entfernt.
Nein!
Wissenschaftler sollten nicht in der Politik stehen...
Was für eine Frage.
http://lv-twk.oekosys.tu-ber…
Eine politische Wissenschaft wird so einigen Bürgern Deutschlands nicht nur ein Begriff, sondern noch deren Praxis in Erinnerung sein. Was im Artikel fehlt, aber unausgesprochen über allem schwebt, ist die Aussage, dass die politische Wissenschaft nur dann frei in der Meinung sein darf, wenn sie eine bestimmte Meinung hat. Tatsächlich ist Wissenschaft bereits heute hoch politisch, ein deutliches Kennzeichen davon ist, das unter deutschen Uni-Rektoren kein einziger Ostdeutscher ist [1]. Da die Bevölkerungsverteilung dem widerspricht, kann dies nur eine politische Entscheidung sein wie so vieles andere auch, ein Blick über das Angebot an Studiengängen unserer Hochschulen reicht, um hierzu zu ergänzen.
Die Forderung lautet wohl daher, dass Wissenschaft noch politisch dienlicher und mithin lauter im Sinne des gewollten öffentlichen Diskurses sein soll und deren Schweigen zu den Exzessen der Politik des Spektakels in jüngerer Zeit geneigten Kreisen nicht gefallen hat. Ich für meinen Teil brauche keine politische Wissenschaft, denn diese ist keine Wissenschaft.
[1] https://www.lvz.de/Region/Mi…
Wissenschaftler müssen überhaupt wieder ein Gesicht in der Öffentlichkeit bekommen.
Nicht Uniformen, wie sich das die CDU-Vorsitzende vorstellt, sondern kluge Leute, deren Meinungsäußerungen Substanz haben, möchte ich sehen.
Wir brauchen Kontroversen - aber solche, die mehr als hohle, ideologische Phrasen zu bieten haben.
Eine Debatte mit Kultur, Stil, Fairness. Nicht unterkomplex, aber in verständlicher Sprache.
Und in deutlicher Abgrenzung gegen Hetze und (insbesondere rechte) Kulturlosigkeit.
"Wir brauchen Kontroversen - aber solche, die mehr als hohle, ideologische Phrasen zu bieten haben."
Ja der Großteil des Meinungsaustausches von Professoren versteckt sich heute hinter Stiftungen und Instituten. Das ist natürlich schade.
Auf der anderen Seite werden viele Professoren, die sich zu aktuellen Meinungen äußern natürlich kaum gehört, besonders weil sie nicht organisiert sind. Wie möchte man denn das medial überhaupt abbilden bei 50.000 Professoren in Deutschland? Blogs o.ä. betreiben ja viele.
https://stefan-sell.de/
Er z.B. ist ein alter Professor von mir. Sicherlich hat er einen wenig theoretischen wissenschaftlichen Ansatz. Er veröffentlicht fast täglich Meinungsbeiträge zu diversen sozialpolitischen Themen. Medial tritt er dennoch selten in Erscheinung. Außer bei den öffentlich-rechtlichen im späten Abend bzw. Nachtprogramm.