Früher profilierten sich vor allem amerikanische Präsidenten mit wissenschaftlichen Großmissionen: Kennedy initiierte den Flug zum Mond, George H.W. Bush rief die "Dekade des Gehirns" aus, Bill Clinton verkündete die Entschlüsselung des Humangenoms. Doch vor ein paar Jahren packte auch die Europäer der Ehrgeiz: Europa solle zur "Wissenssupermacht" aufsteigen, tönte EU-Kommissarin Neelie Kroes, der alte Kontinent müsse den Mut haben, das Undenkbare zu denken. Ein Wettbewerb um Europas künftige "Forschungs-Flaggschiffe" wurde ausgeschrieben, dem Sieger winkte eine Milliarde Euro. Als kühnstes Vorhaben trat dabei das Human Brain Project (HBP) an. Sein visionäres Ziel: Ein künstliches Gehirn, das in allen Details, Zelle für Zelle, in einem Supercomputer simuliert werden sollte. Damit, so das Versprechen, ließe sich künftig experimentieren wie mit einem echten Hirn; Tierversuche würden überflüssig, Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson besser untersuchbar, vielleicht würde gar das Rätsel des Bewusstseins gelöst werden. Als das HBP im Jahr 2013 den EU-Wettbewerb gewann, schwärmten Forscher vom "Apollo-Projekt des Geistes", das nun gestartet werde.
Nun, nach gut der Hälfte der zehnjährigen Laufzeit, stellt sich das Human Brain Project mit einer großen Ausstellung im Deutschen Bundestag vor: Faszination Gehirn heißt es von dieser Woche an im Berliner Paul-Löbe-Haus. Die Abgeordneten sollen "die atemberaubende Komplexität des Gehirns in spektakulären wissenschaftlichen Bildern und Filmen" erleben. Schließlich ist das HBP mit 131 europäischen Partnerinstitutionen aus 19 Ländern eines der größten je von der EU finanzierten Projekte. Staatssekretär Thomas Rachel vom Bundesforschungsministerium schwärmt gar von einem "Meilenstein in der europäischen Forschungsgeschichte".
Doch wie fällt dessen Bilanz jenseits der bunten Bilder aus? Wo steht das "Apollo-Projekt" wirklich? Unter Wissenschaftlern ist die Euphorie heute eher gedämpft. Viele Forscher fragen sich, worin die Meilensteinhaftigkeit dieses Projekts eigentlich besteht – von der gewaltigen Finanzsumme einmal abgesehen. Denn die ursprüngliche Vision ist längst aufgegeben: Vom Nachbau des Gehirns redet niemand mehr. Und was seinerzeit die EU-Kommission begeisterte, stößt in der scientific community bis heute auf Kritik.
So unterzeichneten 2014 rund 800 Wissenschaftler einen offenen Brief an die EU, in dem sie das HBP harsch kritisierten. Dessen Versprechen seien überzogen, seine Vorgehensweise spalte die Forschung eher, als sie zu einen. Besondere Kritik entzündete sich am Initiator, dem Hirnforscher Henry Markram, der seit Jahren den Traum von der Hirnsimulation verfolgt und mit großem Einsatz und Charisma dafür geworben hatte. Ohne ihn hätte das HBP zwar kaum den Zuschlag bekommen; die Fachkollegen aber warfen ihm Selbstherrlichkeit und eine falsche Ausrichtung vor, drohten gar mit einem Boykott des HBP – tatsächlich ein "Meilenstein" (wenn auch ein negativer) in Europas Forschungsgeschichte.
Erst ein Mediationsverfahren mit mehreren Schlichtern beruhigte die Gemüter. Das HBP wurde neu organisiert und Markram entmachtet. Heute leitet er nur noch einen von zwölf Teilbereichen, die Verantwortung wurde verteilt, die Zielsetzung überarbeitet. "Damit hat das Human Brain Project die Wende zu einer fast normalen Wissenschaftsförderstruktur genommen", kommentiert Moritz Helmstaedter, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. Es sei zwar gut, dass man "die vollkommen überzogenen Versprechungen" des Anfangs korrigiert habe; gleichzeitig aber sei das HBP damit auch entzaubert und inhaltlich "in keiner Weise besonders".
Dass Henry Markram unverdrossen seine Idee vom Kunsthirn weiterverfolgt und 2015 immerhin die Simulation eines Teils des Rattengehirns präsentierte, mehr als 30.000 Nervenzellen in zuvor nie erreichter Detailtreue, vermag Helmstaedter nicht zu beeindrucken. Die Datenmenge sei zwar enorm, dennoch entspreche das nur einem Hirnbereich von der Größe eines Sandkorns. "Das ist, als würde man sagen: Ich will zum Mond, und ich habe hier schon einmal eine Leiter an diesen Baum gelehnt."
Auch Katrin Amunts, Neurowissenschaftlerin am Forschungszentrum Jülich und neue Direktorin am HBP, räumt ein, dass das ursprünglich von Markram ausgerufene Ziel "sicher nicht gut formuliert" war. Nun müsse man realistisch sein und sagen, "dass das Gehirn eines der komplexesten Systeme überhaupt ist und auch die große Summe von einer Milliarde Euro nicht reicht, um alle Geheimnisse zu lüften". Fragt man sie heute nach dem Ziel des HBP für das Ende der Laufzeit 2023, spricht sie von der Entwicklung "eines breiten Spektrums modernster Informationstechnologien und einer sehr umfangreichen neurowissenschaftlichen Datenbasis, um Fragen von großer Komplexität zu lösen".
Kommentare
"Wenn also das Human Brain Project wirklich als Europas Apollo-Mission gedacht war, ist der Schub enorm verpufft. Oder um im Bild zu bleiben: Aus der Reise zum Mond wurde nun ein Rundflug über dem Berliner Regierungsviertel. Das wäre auch mit weniger Aufwand gegangen."
Wer diese Geschichte liest, findet das exakte Abbild der Weise, in der die EU arbeitet.
"...das exakte Abbild der Weise, in der die EU arbeitet"
Ihr pauschal negatives Urteil ist nicht gerechtfertigt. Die EU hat aus den Fehlern gelernt das "Flagschiff-Programm" inzwischen eingestellt.
Hätten Sie wissen können, wenn Sie den Artikel bis zum Schluss gelesen hätten. Dort heißt es:
"Auch bei der EU ist Ernüchterung eingetreten: Neue Flaggschiffe wird es künftig nicht mehr geben. Im Frühjahr, noch während der Wettbewerb für die nächste Flaggschiff-Runde lief, gab die EU bekannt, dass das Programm eingestellt werde. "
"Ihr pauschal negatives Urteil ist nicht gerechtfertigt. Die EU hat aus den Fehlern gelernt das "Flagschiff-Programm" inzwischen eingestellt."
Richtig, hat sie. Dafür mussten aber erstmal Milliarden versenkt werden. Und das für ein Projekt, dessen ...ähm... dürre wissenschaftliche Aussicht... von vornherein von den Dächern gepfiffen wurde.
Vor Jahren haben sich mal zwei in der Kneipe zusammengehockt und auf einem Notizzettel überlegt, welchen Blödsinn man der EU andrehen könnte, um ihre Fördergelder zur Finanzierung ihrer Forschung abzugreifen. Zum Schluss wurden, EU-gefördert, für ein Schweinegeld Mäusehirnzellen ins All geschossen. Erkenntnis: null.
Pauschaler Quatsch?
Ich kenne die zwei....
Na ja, es ist ja eine Superleistung der EU, nach 10 Jahren festzustellen, dass nur Geld verschwendet wurde.
Soll man da die Europa-Hymne anstimmen?
Lügen sie mit Absicht oder fehlt ihnen jede Kenntnis? Die EU hat keine 200 Millionen bisher bezahlt und wird auch nie "Millarden" bezahlen.
Womit ich natürlich nicht aussagen will, das wäre wenig Geld oder nicht zum großen Teil woanders besser aufgehoben.
"Auch bei der EU ist Ernüchterung eingetreten: Neue Flaggschiffe wird es künftig nicht mehr geben."
Und da bin ich nicht sicher, ob sie wirklich gelernt haben, oder einfach nur mal wieder viel Geld der Bürger versenkt (wenn ich mich dem "Steuern sind Diebstahl" Orchester anschließe meine ich zwar was anderes als viele andere Teilnehmer, aber dass hier taugt als Beispiel dafür was ich meine).
Flaggschiffprojekte sind nicht ansich falsch und sie ansich abzulehnen sehe ich genauso wenig als gelernt an, wie wenn jemand der sich am Feuer verbrand hat nun vom Feuer fern hält, anstelle adequat damit umzugehen, aber Politikern Geld in die Hand zu geben, halte ich nach wie vor für fragwürdig und davon sind sie scheinbar nicht weg...
Forschung kostet Geld und ist nicht immer erfolgreich, trotzdem ist es den Versuch wert.
1 Milliarde ist auch nicht so viel. Das Apollo Programm hat nach heutigen Maßstäben 120 Milliarden gekostet.
"[...] es ist ja eine Superleistung der EU, nach 10 Jahren festzustellen" [...]
Es wurde sogar "nach gut der Hälfte der zehnjährigen Laufzeit" festgestellt!
Lesen bildet. Aber zum Glück ist kenntnisferne "EU-Skepsis" irgendwie süß.
By the way, solch wissenschaftlicher Enthusiasmus ist keine Spezialität der EU. Sowohl in der Hirnforschung als auch z.B. im Bereich Künstliche Intelligenz musste man schmerzhaft lernen, dass die Dinge (noch) bedeutend komplexer sind, als man ursprünglich dachte. Aber auch das ist wissenschaftliche Erkenntnis.
"Forschung kostet Geld und ist nicht immer erfolgreich, trotzdem ist es den Versuch wert.
1 Milliarde ist auch nicht so viel. Das Apollo Programm hat nach heutigen Maßstäben 120 Milliarden gekostet."
Die Frage ist aber von wem und wie die Gelder verteilt werden und nicht wie viel es kostet - wobei ich die Finanzierung des Apolloprogramms ingesammt für sehr fragwürdig halte - wo bringt dieses eine Verbesserung des Sozialsystems; das Braindingens war zwar total bescheuert und war klar, dass sich vor allem Politiker dafür begeistern ließen, aber es hatte wenigstens ein konkretes versprechen - Apollo hingegen...
Das EU-Forschungsbudget geht nur zu einem sehr kleinen Teil in die "Flagship"-Projekte. Und wie gesagt: Dieses Instrument hat die EU auch abgeschafft.
Aber da Sie die EU-Forschungsförderung ja pauschal kritisieren: Allein über das European Research Council wurden 2018 über 1000 Forschungsprojekte finanziert. Die kennen Sie sicher alle im Detail und wissen, dass da nix bei rauskommt - oder?
Quelle: https://erc.europa.eu/projec…
"Und da bin ich nicht sicher, ob sie wirklich gelernt haben, oder einfach nur mal wieder viel Geld der Bürger versenkt"
Das Geld ist in der Forschung allemal besser aufgehoben als in der Rüstung oder der Maut.
Das Apollo Programm hat eine Menge Fortschritte gebracht! Hier ein paar Beispiele:
Digitale Flugsteuerung, Qualitätskontrolle bei Lebensmitteln, Rettungsdecken, Erdbebenschutz, wiederaufladbare Hörgeräte, verbesserte Computertechnik....
"Vor Jahren haben sich mal zwei in der Kneipe zusammengehockt und auf einem Notizzettel überlegt, welchen Blödsinn man der EU andrehen könnte, um ihre Fördergelder zur Finanzierung ihrer Forschung abzugreifen. Zum Schluss wurden, EU-gefördert, für ein Schweinegeld Mäusehirnzellen ins All geschossen. Erkenntnis: null.
Pauschaler Quatsch?
Ich kenne die zwei...."
Unter anderem Charles Limoli von der University of California hat an den Auswirkungen kosmischer Strahlung auf das Hirn geforscht. Dazu macht man wie immer auch Tierversuche. Es scheint also eher so zu sein, dass sie das Thema Forschung nicht begreifen, denn das es dort zuviel Geld zu verteilen gäbe.
https://www.scinexx.de/news/…
Ihre Erkenntnis oder besser ihr Verständnis mag "Null" sein, das sagt aber nichts über den Nutzen von Forschung aus.
Mein Vorschlag:
"Lesen bildet."
Es geht auch ohne solche präpotenten Formeln.
"Das Geld ist in der Forschung allemal besser aufgehoben als in der Rüstung oder der Maut."
Dagegen sage ich ja auch gar nichts, aber nur weil es an der Richtigen stelle investiert wurde, bedeutet dass nicht dass es dort richtig investiert wurde. Allein schon der konzeptionalistische Ansatz des Projekts lässt mich zweifeln ob es hier wirklich darum ging effizient zu Forschen oder eher es sich doch eher um ein politisches Projekt handelte, also je nach Auslegung Forschungsgelder sogar veruntreut da nicht effizient angelegt wurden...
"Das Apollo Programm hat eine Menge Fortschritte gebracht! Hier ein paar Beispiele:
Digitale Flugsteuerung, Qualitätskontrolle bei Lebensmitteln, Rettungsdecken, Erdbebenschutz, wiederaufladbare Hörgeräte, verbesserte Computertechnik...."
Und das hätte man nicht hinbekommen wenn man sinnlos Leute auf den Mond geschickt, sondern das Geld in die konkrete Forschung investiert hätte?!?
Nein. Man wusste ja garnicht dass man das braucht.
Es gab erst die Anwendungen in der Raumfahrt, die wegen Platzmangel oder Gewichtsproblemen entwickelt wurden. Danach hat man erkannt dass man diese Technologien auch auf der Erde sinnvoll einsetzen kann.
BS. Die EU hat nur einfach nicht die Eier und das Verständnis, dass man mit ner läpischen Milliarde nicht "zum Mond fliegt" geschweige denn ein Hirn simuliert. Und diese unsäglichen Journalistin machen auch noch mit die Wissenschaftler in den Dreck zu ziehen.
Über solche Sümmchen lacht man sich übrigens bei den Deutschen Autobauern nur schlapp. Daimler hat 2015 fast 15 Milliarden Gewinn gemacht nach Steuern und hier tut man so als wäre das eine große Summe über die Laufzeit. Einfach nur lächerlich!
Und natürlich auch neue Formen des Projektmanagements in FuE-Projekten. 400.000 Leute wollen erstmal koordiniert sein. 🤪
"Wer diese Geschichte liest, findet das exakte Abbild der Weise, in der die EU arbeitet."
Das ist falsch, denn die Geschichte erzählt nur die halbe Wahrheit. Denn es gibt nicht nur ein europäisches Flaggschiff, sondern drei. Neben dem genannten noch das Graphen -Flaggschiff und das neue Quanten-Flaggschiff.
Über beide schreibt man kaum etwas. Erst Recht liest man nichts in den großen Zeitungen. Offensichtlich sind sie zu erfolgreich für ein europäisches Projekt ohne das sie bahnbrechende Erkenntnisse liefern. Also graue aber erfolgreiche Langeweile.
Da kann man keine Schlagzeilen mit generieren.
Ja, sollte man. Forschung ist teuer, Forschung ist unsicher. Aber ohne Forschung hätten Sie jetzt keinen Computer, mit dem Sie Ihren unsinnigen Kommentar schreiben könnten. Statt dessen würden Sie vor einem glühenden Ast sitzen und ihre Gedanken mit dem Finger in den Schlamm malen.
Es ist ein großes Problem bei diesen Projekten, geeignete Gutachter zu finden. Dann wird viel Geld versemmelt, wenn sich der Antrag nur als Wissenschaftsmarketing herausstellt. Zumindestens soll es in Zukunft keine Flaggschiffprojekte mehr geben. Immerhin etwas gelernt.
Bei solchen Projekten kann man mit Transparenz eine Menge erreichen. Wenn alle Zahlen frei zugänglich sind können Idealisten,NGO's und Presse Missstände aufdecken.
Das Human Brain Project war von Anfang an völliger Schwachsinn. Mir ist unerklärlich wie man sowas fördern konnte. Es hat einen guten Grund, warum in Deutschland Wissenschaftler über die Verteilung von Fördermitteln entscheiden und nicht Politiker. Letztere scheinen mit der Aufgabe völlig überfordert.
Mir ist schon unklar, warum man sich nich an ein realistisches Modell gewagt hat. Das Gehirn einer Fliege z.B. hat "nur" um die 100,000 Neuronen. Es wäre also zumindest in Zukunft absehbar ein solches Gehirn am Computer (in begrenzter Genauigkeit natürlich) zu simulieren. Warum man stattdessen gleich ein menschliches Gehirn simulieren will, obwohl das auch in 100 Jahren nicht möglich sein wird, ist mir unerklärlich. Das ist, als wollten die Amerikaner direkt zum Pluto fliegen, statt erstmal auf dem Mond zu landen.
Aber selbst wenn man für die 100000 Neuronen jeweils einen Schaltkreis nimmt, weiß dieser "Computer" immer noch nicht, was er machen soll. Ich denke, ein biologisches Gehirn arbeitet Analog, und hat Befehle von den Genen einprogrammiert. Ob man sowas nachbauen kann?
Ein menschliches Gehirn ist noch wesentlich komplexer. Der Mensch hat Gefühle, Emotionen, und kann träumen. Sind Träume z.b. nur Leckströme des Gedächtnisses oder des Unterbewußtseins?
Und wie wissen z.b Schildkröten, in welche Richtung sie schwimmen müssen. Werfen sie mal einen Computer ins Wasser, der weiß gar nichts.
Das Projekt erinnert an den Turmbau zu Babel. Wir könnten Gott so nahe sein. LOL.
Na ja, wenn das Reiseziel imaginär ist, wird es schwierig mit dem Streckenverlauf.
Wenn man sich anschaut, mit welcher Hardware man sich auf den Weg zum Mond gemacht hat, darf man auch heute noch erstaunt sein, dass das geklappt hat. Ich bin eigentlich ganz froh, dass die Wissenschaft sich ehrgeizige Ziele setzt und ergebnisoffen an solche Fragestellungen herangeht, auch wenn der Selbstanspruch überzogen wirkt.