Grundsätzlich diskutiert die ZEIT-ONLINE-Community das Thema Flüchtlingspolitik sehr engagiert, aber die Ereignisse der vergangenen Tage haben für neue Dimensionen im Kommentarbereich gesorgt. Wir haben einige Beobachtungen und Argumente aus dem bisherigen Debattenverlauf versammelt.
Am Dienstag, den 14. April 2015 kentert ein Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste, 400 Menschen sollen ertrunken sein. Die Leser diskutieren allerdings weniger das Ereignis an sich, sondern eher das Thema Flüchtlingspolitik im Allgemeinen. Ein Leser fordert "eine sichere Fährverbindung zwischen Europa und Afrika", ein anderer findet: "Das einzige, was Leben rettet, wäre Abschreckung", jeder Überlebende der von Europa nach Afrika telefoniert, ermutige weitere Flüchtlinge zur gefährlichen Reise. Andere sehen die Schuld bei den Schlepperbanden. Von Anfang an zeigt sich ein die Debatte bestimmender Zug: Sie verläuft emotional, aber nahezu frei von Empathie für die Toten.
Zwei Tage später ist Italien auf der Suche nach 6.500 zusätzlichen Schlafplätzen für Asylsuchende. Der in einem Artikel aufgestellten These, Europa lasse Italien im Stich, stimmen einige Leser nicht zu. Sie fordern stattdessen von Italien mehr Verantwortung ("die Flüchtlinge werden doch ohne Registrierung sofort weitergeschickt"), und diskutieren die Rolle Europas (mehr wie Australien werden?). Am gleichen Tag fordert Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ein Umdenken in der Flüchtlingspolitik. Leser halten das für "leeres Gerede", schon jetzt halte sich die Bundesregierung überhaupt nicht an die eigenen Gesetze. Im Kommentarbereich wird es grundsätzlich: Armut in der Welt, außenpolitische Aufgaben von EU und Deutschland, Einwanderungspolitik.
Für Aufregung und 700 Kommentare sorgt dann am Abend des 16. April die Meldung, Muslime sollen Christen von Flüchtlingsboot geworfen haben. Die Debatte kocht teilweise unschön hoch, viele fremdenfeindliche Kommentare müssen entfernt werden. Am 19. April kentert abermals ein Schiff, 700 Tote sollen es diesmal sein. Wieder wird vor allem die Frage der Schuld diskutiert. Ist Europa verantwortlich, mit seiner restriktiven Einwanderungspolitik, die keine legale, sichere Einreise zulässt? Oder sind es die Herkunftsländer, in denen chaotische Zustände herrschen? Sind die Flüchtlinge selbst schuld, müssen sie sich des Risikos gewahr sein?
Am 20. April wird die von Amnesty International geforderte Wiederaufnahme der Seenotrettung nach dem Vorbild des im Vorjahr ausgelaufenen Programms Mare Nostrum zunehmend zustimmend diskutiert. "Alles andere wäre beschämend", meint ein Leser, "Mare Nostrum kostet ca. 110 Millionen Euro im Jahr. So viel wie der bald stattfindende EU-Gipfel in Elmau." Der Artikel Schluss mit dem Händeringen liefert sechs konkrete Vorschläge, wie das Elend beendet werden könnte. Im Kommentarbereich werden zwei Forderungen, die von Anfang an Teil der Debatte waren, bestimmend: Entweder Europa macht es wie Australien und schickt alle zurück, die nicht geregelt einwandern, oder die EU liberalisiert ihre Flüchtlingspolitik und ermöglicht legale Einreisemöglichkeiten, etwa in Form einer Fähre zwischen Afrika und Europa.
Im Gegensatz zu anderen Katastrophen wie etwa dem Germanwings-Absturz oder dem Brand auf der Norman Atlantic wird in dieser Debatte kaum über die Opfer gesprochen. 400 Tote, vier Tage später 700 Tote, aber kaum Empathie und Trauer im Kommentarbereich. Fällt Ihnen als Debattenteilnehmer dies auf? Inwiefern beeinflusst es den Diskurs, wenn wir nicht mitleiden? "Wir wollen Menschen retten. Da gibt es nichts zu diskutieren", sagte Harald Höppner in der Sendung von Günther Jauch. Er lehnte es ab, zu reden. Ist Diskutieren eine Kompensation für nicht erfolgtes Handeln? Wie kann die Debatte zur Lösung des Problems beitragen?
Kommentare
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Aspekte einer Diskussion
Leider sterben in Afrika sehr viele Menschen an Unterernährung und vermeidbaren Krankheiten, obwohl sich die Situation in den letzten Jahrzehnten gebessert hat.
Diese Opfer des Elends waren in den 80er und 90er Jahren sehr präsent, in den letzten Jahren kaum mehr.
Die wirklich Armen schaffen es erst gar nicht bis nach Nordafrika und auf ein Schiff, die Schleußung ist zu teuer.
Afrikaner sterben in der Regel nicht in Schiffsunglücken - Hunger und Krankheit sind die häufigsten Feinde. Ich vermisse da ähnlich emotionale Hilfsaufrufe wie bei Schiffsunglücken. Und ich vermisse einen höheren Entwicklungshilfeetat. Gut fände ich auch eine freiwillige Angabe in der persönlichen Steuererklärung, wieviel Prozent man selbst vom Einkommen zusätzlich als Entwicklungshilfe abgeben wolle. Hier kann dann jeder selbst zusätzlich helfen - oder seine Moral testen.
Das ist weder unsere Schuld noch unser Problem!
Lassen Sie mich damit bitte in Ruhe und helfen Sie von ihren eigenen Geld.
Weder meine Familie noch ich haben an den Verhältnissen irgendeine Schuld oder Verantwortung, die liegt alleine bei den dortigen Völkern. Wenn Sie ein Gutmensch sein wollen, bitte schön, aber ohne mich.
Verantwortung
Sie sind wie wir alle Nutzniesser eines Wirtschafts- und Handelssystems, das auch auf Ausbeutung gruendet. Daher haben wir alle direkte, persoenliche Verantwortung.
Unser Wirtschaftssystem gründet auf Ausbeutung, bla bla...
Aber sicher doch. Haben Sie dafür auch irgendwelche Belege, oder muss das so sein, weil sonst ihre Ideologie in sich zusammenfällt?
Abschottung
Manche Leute wollen die Realitaet nicht wahrhaben, weil dann der Druck waechst, selbst handeln zu muessen. Es ist eben bequem sich in unproduktive Gefuehle wie Zynismus zu fluechten.
Ist das eine...
"Haben Sie dafür auch irgendwelche Belege"
... ernsthafte Frage?
Dass der Kapitalismus ein im Kern ausbeuterisches System ist, sollte sich doch mittlerweile wirklich in den hinterletzten Winkel herumgesprochen haben. Die Frage ist lediglich, in welchem Ausmaß man die Mechanismen abzufedern versteht. Was glauben Sie denn, warum solche Institutionen wie Gewerkschaften, gesetzliche Versicherungen, Renten oder schlicht Arbeitsrecht existieren? Die sind nicht von sich aus Teil des Systems, sondern sind ja gerade dazu da, es im Zaum zu halten.
Schauen Sie doch einfach mal, wie das mit solchen Schranken in, sagen wir, Bangladesch ausschaut und wer davon profitiert, dass es sie nicht gibt. Wahlweise können Sie auch mal nach den "Handelsabkommen" googeln, die wir mit afrikanischen Staaten geschlossen haben, oder was es mit dem sogenannten Landgrabbing auf sich hat.
Ich habe nichts abzugeben
Wenden Sie sich bitte mit etwaigen Spendenaufrufen an die wahren Profiteure, wie die Waffen- Öl- und diverse Rohstoffindustrien. Wenden Sie sich in Deutschland an die 10%, welche 90% unseres "Vermögens" unter sich aufteilen. Ich bin froh, wenn ich am Anfang des Monats meine 800€ Miete bezahlen kann und am letzten des Monats noch 20€ im Geldbeutel sind.
Soviel abgebrühte Dreistigkeit!
"Lassen Sie mich damit bitte in Ruhe und helfen Sie von ihren eigenen Geld.
Weder meine Familie noch ich haben an den Verhältnissen irgendeine Schuld oder Verantwortung, die liegt alleine bei den dortigen Völkern."
1. Wir leben in einer Welt globalen Handels. Sofern Sie und ihre Familie nicht autark leben, können Sie davon ausgehen, dass Ihr Konsum indirekt auch auf Ausbeutung beruht und Armut erzeugt.
2. Direkte Schuld ist KEINE Voraussetzung für die Pflicht zu helfen. Wenn Sie mit der Einstellung auch in Deutschland handeln, sind Sie aber schnell bei unterlassener Hilfeleistung.
3. Eine nicht unbedeutende Zahl von Flüchtlingen flieht vor Kieg, der mit deutschen Waffen und von deutschen Alliierten geführt wird. Ihre Familie ist daran nicht beteiligt, aber Deutschland schon. Wie sieht es mit der politischen Verantwortung dafür aus.
Zum Artikel selbst: Es fällt mir schwer zu trauern um die vielen Toten, die für mich namenlos bleiben.
Hier ein Einzelfall zum Trauern: http://www.zdf.de/ZDF/zdfpor…
Wo kaufen Sie Ihre Scheuklappen?
"... Lassen Sie mich damit bitte in Ruhe und helfen Sie von ihren eigenen Geld.
Weder meine Familie noch ich haben an den Verhältnissen irgendeine Schuld oder Verantwortung, die liegt alleine bei den dortigen Völkern. Wenn Sie ein Gutmensch sein wollen, bitte schön, aber ohne mich."
Der wabernde Zeitgeist ...
"Gut fände ich auch eine freiwillige Angabe in der persönlichen Steuererklärung, wieviel Prozent man selbst vom Einkommen zusätzlich als Entwicklungshilfe abgeben wolle."
Solange Sie eine Freiwilligkeit da haben, ist nichts dagegen einzuwenden. Von einer Pflichtabgabe halte ich nichts. Allerdings würde ich mir dann auch eine Ankreuzmöglichkeit für andere Möglichkeiten, wie Tierschutzvereine wünschen: ich pesönlich habe einen monatlichen Dauerauftrag für den Tierschutuz wünschen.
Ich spende gern und monatlich für den örtlichen Tierschutz - die armen Kreaturen können nichts dafür, was ihnen die Menschen angetan haben. Die Menschen sollen für sich selber sorgen.
Leider falsch!
Falsche Ansatz der sich in letzter Zeit zu einer moralischen Verpflichtung zu verfestigen scheint.
Am Ende ist nur Ideologie.
Der Weg wäre einfach, doch eben diejenigen die helfen könnten, weigern sich vehement weil sie um ihre Gewinne bangen: Es ist die Industrie die anderen nichts vom Kuchen abgeben wollen. So ist z.B. bekannt, dass das FCKW verboten wurde, weil es Umweltschädlich ist; ersetzt wurde es durch das sogenannte HFCKW.
Was viele nicht wissen, weil man erst danach suchen muß: Das Deutsche Unternehmen das für das FCKW das Patent besaß, hat selbst Studien in Auftrag gegeben, die dann die Schädlichkeit des FCKW feststellten. Der Hintergrund war nämlich, dass das Patentrecht auslaufen sollte und das bedeuten würde, das es jeder herstellen könnte - auch kleine Unternehmen in Afrika hätten das gekonnt; sogar deutlich billiger als in Deutschland.
Nun wurde also das neue HFCKW eingeführt, wobei nur kurze Zeit später festgestellt wurde, dass das HFCKW sogar noch schädlicher ist - es ging nur und ausschließlich um wirtschaftliche Interessen!
Wir als Privatleute müssen nicht unsere Geldbeutel öffnen; erst einmal soll die Regierung Ausländischen Unternehmen wie Amazon und Starbucks vernünftige Steuern abverlangen statt ihnen Schlupflöcher zu verschaffen.
Wo Sie das Wort "Entwicklungshilfe" erwähnen: Prüfen Sie bitte selbst, wo die Gelder bleiben (besonders die von Spenden) - sie werden sich wundern.
Genau mein Gedanke
Fehlende Empathie ist prägendes Merkmal vieler Diskussionen. Auf der Suche nach den Gründen lande ich bei mangelnder Empathie in der Kindererziehung. Sonst könnten aus so niedlichen Kindern nicht so hartherzige Erwachsene werden.
Scheinheilig
Ach was sind wir doch für eine affektierte Betroffenheitsgesellschaft geworden. Jeder muss sich dauernd für irgendetwas schlecht fühlen, sich einsetzen und politische korrekt um alles und jeden gleich trauern, sei es eine Gruppe ertrunkener Flüchtlinge, ein erschossener Schwarzer in den USA oder die eigene Großmutter.
Nochmal: wir haben keine emotionale Beziehung zu den Flüchtlingen aus Afrika. Keiner von uns kann sich in ihre Lebenssituation einfühlen und nur wenige kennen welche, die es können. Die Opfer des Germanwings-Flugs waren der Durchschnitt der deutschen Gesellschaft, jeder von uns ist schon mal geflogen und vielleicht auch mal nach Barcelona. Diese Leute stehen uns emotional nahe, DESHALB trauern wir um sie. OK, nicht so sehr, wie über den Tod von nahen Verwandten, aber immerhin. Als reicher, gebildeter Westeuropäer in ebenso starker Weise über gekenterte Wirtschaftsflüchtlinge zu trauern, wäre entweder ein Zeichen von seelischer Anomalie oder schlicht und einfach Scheinheiligkeit. Wir sind nun mal Europäer und keine Afrikaner oder ist das jetzt nicht betroffen genug?
Schwierige Fragen
Die Flüchtlingskatasrophe wirft schwierige Fragen auf. Wir haben das Glück im reichen Norden geboren zu sein. Andere hatten dieses Glück nicht, sie wurden in Elend und Armut hineingeboren. Das ist schon mal grundsätzlich ein schwieriges Problem. Wie geht man damit um?
Konservative Antwort: Man geht einfach aus, daß man zu Recht reich geboren wurde, und einem das Elend der Anderen nichts angeht. Linke Antwort: Man geht einfach davon aus, daß alles die Schuld der Reichen ist (und das sind per definitionem immer díe Anderen, also die Leute, die mehr Geld haben als man selbst, also niemals man selbst), und daß man also persönlich nichts dafür kann. So oder so, man biegt sich die Realität zu Recht, damit man jede persönliche Verantwortung für das Elend der Anderen von sich weisen kann, und verweigert Empathie.
Das ist dann vermutlich auch der Grund ...
... warum die "Pauschal-Linken" (so Ihre Aussage und die anderer) so viel verschmähte Dinge tun wie fairgehandelte Dinge kaufen, auf die Herkunft ihrer Waren achten, Fleisch verringern, wenig bis gar nicht Auto fahren etc.?
Weil sie nie selbst etwas machen, sondern dies nur von anderen verlangen? Lebt es sich gut mit solchen Vorurteilen, weitab von der gelebten Realität?