Meine Kindheit schmeckt nach Cola-Krachern. Diesen braunen Zuckerkugeln mit Brausefüllung, so sauer, dass einem die Spucke in den Mund schießt. Gekauft habe ich sie immer an derselben Bude, genau 383 Schritte von meinem Elternhaus entfernt.
Den Ort des Glücks gibt es noch heute. Damals war der kleine Kiosk vollgestopft mit Süßigkeiten, Eiscreme und billigem Spielzeug. Ein Schlaraffenland auf nicht mal zehn Quadratmetern.
Ich sehe es noch vor mir: Haribo Balla-Balla in blau, braun und giftgrün, die Fruchtgummistangen, die Center-Shock-Kaugummis mit dem flüssigen Kern und die bittersüßen Lakritzveilchen. Die Regale waren voll mit Esspapier, Schokozigaretten, Ahoi-Brause. Nicht zu vergessen die verführerisch strahlende Pyramide aus Chupa-Chups-Lutschern und die 20 verschiedenen Weingummisorten in Plastikfächern. In einer schier unendlich tiefen Truhe stapelte sich die Eiscreme von Wassereis in Neonfarben über rot-weißes Ed von Schleck bis Bum Bum mit Kaugummistiel. Daneben gab es lebensnotwendige Dinge wie Wundertüten, Wasserbomben und Fußballsammelkarten.
Die Bude in der ehemaligen Bergbaukolonie der Zeche Dorstfeld existiert in dieser Form seit Anfang der Neunziger. Ich war vielleicht fünf, als ich das erste Mal ohne Eltern hingehen durfte, nur mit meinen besten Freundinnen aus dem Haus gegenüber. Im Sommer liefen wir barfuß und in Badeanzügen hin, wir sprangen von Mäuerchen zu Mäuerchen, weil irgendeiner schrie, der Bürgersteig bestehe aus Treibsand. Damals kam mir der Weg lang vor, er war Teil des Abenteuers. Heute brauche ich drei Minuten bis zur Bude, sie liegt ja gleich in der nächsten Querstraße.
Wer Zigaretten holte, bekam eine Mark extra
Wir Kinder aus der Zechenstraße haben einen Großteil unseres Taschengelds in die Bude investiert. Manchmal verdienten wir uns eine Mark extra, wenn wir für die Eltern eine Flasche Cola oder Zigaretten holten. Davon gab's dann eine Schnuckertüte – so heißen die Papiertütchen, die wir bis zum letzten Pfennig mit eigens ausgewähltem Süßkram füllten. Wer richtig nett war, holte Wassereis für alle. Auf uns war Verlass – bis auf dieses eine Mal, als Lena und ich mit dem Skateboard stürzten. Statt mit der von Papa bestellten Stange Zigaretten kamen wir mit Schürfwunden nach Hause. Zu allem Überfluss hatten wir auch noch den 50-Mark-Schein verloren. Mehr als 20 Jahre ist das jetzt her, wir ärgern uns bis heute.
Die Bude der Gegenwart präsentiert sich zur Mittagszeit bedeutend blasser als die Erinnerung: Statt Eisplakat und Fahne finden sich schnörkellose Graffiti an der Wand, von den Fensterrahmen blättert Farbe, das Werbeschild für die "Größte Tageszeitung in Dortmund" ist eingeschlagen, in den Regalreihen klaffen große Lücken. Immerhin sehe ich Esspapier – hoffentlich nicht das von damals – und pastellfarbenen Puffreis, der liebevoll vor ein paar Bierkästen arrangiert ist. Das Fenster steht offen, ein Verkäufer ist nicht zu sehen. Hallo? Ich warte.
An der Bude unten an der Hauptstraße war schon Stunden zuvor mehr los. An der Wittener kennt man sich. "Na, Prinzessin! Sechs Bier und zwei Brötchen, bidde" – es ist sieben Uhr, die erste Fuhre Gerüstbauer ist eingetroffen, um Proviant für den Tag einzukaufen. Vor allem Zigaretten, Schrippe und Kaffee, dazu eine Boulevardzeitung. Diese Woche ist Salami im Angebot mit Salat und ordentlich Remoulade für 1,10 Euro. Nächste Woche ist es wohl wieder "mit Koch", also Schinken. Die Bauarbeiter kommen im Minutentakt, springen aus den Transportern, die auf der Busspur stehen.
"Eine Marlboro, eine Bildung und ein Mal Leberwurst."
"Mit Gurke?"
"Klar doch. Und 'n Kaffee und 'ne Kanne."
Es gibt nur eine wahre Bude
Gegen halb acht huscht eine Bekannte der Bedienung in die Bude, um eine Tiefkühltorte "zu parken", die auftauen muss. Ein alter Mann kommt auf einen Plausch und Kaffee vorbei, doch außer mir ist niemand da. Ich sitze auf seinem Stammplatz. Aber: "Bleib man sitzen, Mädchen". Weil es schüttet, ziehen die meisten Kunden sofort weiter, statt wie üblich am Stehtisch mit der Lacktischdecke Neuigkeiten auszutauschen.
Die Buden teilen Dortmund in Einzugsbereiche auf, kleinteiliger als Postleitzahlen und damit weit verlässlicher, um unterscheiden zu können, "wer wo wechkommt". Wir Kinder aus der Zechenstraße etwa vermieden es tunlichst, an der Bude auf dem Hügel einzukaufen. Die Wundertüten mögen besser gewesen sein, die Eisauswahl größer – doch ein Besuch bedeutete mitunter einen Wasserbombenkrieg mit den Kindern vom Berg.
Kommentare
Dickes Lob Frau Schadwinkel, ein schöner Schwenk der es schafft dass man während des lesens in den eigenen Kindheitserinnerungen schwelgt.
Die Firma heißt Chupa Chups und nicht Cupa Chups. Chupa von chupar= spanisch für lutschen.
Der Geschmack ist doch nun wirklich wichtiger, als die Rechtschreibung.
Vieleicht sprach man das damals auch einfach so aus. ;-)
Schöner Artikel über 'früher'.
Da wird man Wehmütig , prima Artikel
Schöne Erinnerungen aus einer besseren Zeit. Heute steht NRW leider hauptsächlich für Niedergang und Verfall.
Beides sind Klischees - sowohl das Lob der besseren alten Zeit als auch die Mär von Niedergang und Verfall heute.
Sicher gibt es im Ruhrgebiet - einer Teilregion des Bundeslandes NRW, welche wohlgemerkt allein durch die Ballung von heute nun einmal hier nicht mehr existenten Wirtschaftszweigen zur 5-Mio-Megapolis geworden ist - verschiedentlich Strukturprobleme, wie könnte es auch anders sein.
Aber erstens sind diese Probleme in bestimmten Bereichen des Ruhrgebietes bereits überwunden, man denke nur - als ein Beispiel - an die vielen florierenden High-Tech-Unternehmen rund um die Universitätsstandorte.
Und zweitens besteht NRW ja bei weitem nicht nur aus dem Ruhrgebiet. Gehen Sie zum Beispiel mal nach Münster, Aachen oder in manche blühende Klein- oder Mittelstadt in der ländlichen Region. Dort ist von Stagnation oder Niedergang nichts zu sehen, da ist der Wohlstand zu Hause.
Drittens sollte man sich auch mal die damals krasse Umweltverschmutzung vor Augen führen, die die Leute krank gemacht hat. Heute ist der Himmel hier wieder blau, viele Wasserläufe sind renaturiert.
Nicht in Abrede zu stellen ist natürlich, dass es ein Riesen-Kraftakt war und ist, den Strukturwandel sozialverträglich zu gestalten in jenen Bevölkerungsballungen, die in wenigen Jahrzehnten rund um die alten Standorte der Schwerindustrie entstanden waren. Das geht letzlich nicht ohne eine gewisse Abwanderung in die Regionen in- und außerhalb NRWs, in welchen Arbeitskräfte knapp sind.