ZEIT ONLINE: Herr Mafaalani, nur sechs Prozent der Behinderten, aber jeder vierte Schüler oder Student mit Migrationshintergrund fühlt sich diskriminiert. Das steht im Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Diskriminierung im Bildungsbereich und im Arbeitsleben. Wie realistisch sind diese Zahlen?
Aladin El-Mafaalani: Hier wurden Menschen nach ihrem subjektiven Empfinden befragt. Die Ergebnisse zeigen nur, wie diskriminiert sie sich fühlen. Dieser Forschungszugang ist deshalb natürlich nicht falsch. Das Studiendesign muss so sein, denn Arbeitgeber und Lehrer werden nicht objektiv antworten, wie sehr sie ihre Schüler oder Angestellten diskriminieren – auch weil vieles nicht bewusst und zielgerichtet geschieht.
Grundsätzlich sind die Ergebnisse nicht überraschend. Andere Befragungen zeigen, dass in den letzten Jahren Vorurteile gegenüber Migranten, vor allem gegenüber Muslimen gerade in der oberen Mittelschicht gestiegen sind.
ZEIT ONLINE: Neigen aber Schüler und Studenten mit Migrationshintergrund eher dazu, sich zu beschweren als Behinderte? Oder werden sie wirklich viel häufiger diskriminiert?
El-Mafaalani: Ich würde es zurückhaltender formulieren: Jugendliche mit Migrationshintergrund scheinen viel stärker als früher gleiche Chancen für sich zu beanspruchen. Das werte ich sehr positiv. Hätte man die erste Generation Einwanderer gefragt, ob sie sich diskriminiert fühlen, hätten diese weniger häufig ja gesagt. Nicht weil sie mit weniger Vorurteilen zu tun hatten – im Gegenteil – sondern weil sie nicht den Anspruch hatten, genauso behandelt zu werden wie die Deutschen. In Frankreich gibt es Studien, die sich mit den randalierenden Jugendlichen der Vorstädte auseinandergesetzt haben. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass es sich trotz der Gewalt um eine integrative Bewegung handelt. Denn die Jugendlichen protestieren, weil sie sich mit Frankreich identifizieren. Sie sagen von sich: Ich bin Franzose, ich fordere daher gleiche Chancen, aber ich werde diskriminiert.
International vergleichende Studien zeigen, dass sich Minderheiten in Skandinavien am stärksten diskriminiert fühlen und Osteuropa die niedrigsten Werte hat. Dieser Befund deckt sich nicht mit der tatsächlichen Ungleichstellung, sondern mit der Anspruchshaltung und Identifikation der Minderheit mit der Gesellschaft und mit der allgemeinen Sensibilität gegenüber ungerechtfertigter sozialer Ungleichheit.
ZEIT ONLINE: Das heißt, behinderte Menschen sollten sich eigentlich lauter beschweren?
El-Mafaalani: Wenn Migrantenkinder heute in gesonderten Klassen unterrichtet würden, wie dies früher geschah und wie es auch heute noch mit behinderten Schülern geschieht, würden sie und ihre Eltern sich nicht zu sechs sondern zu fast 100 Prozent diskriminiert fühlen. In den siebziger Jahren hatten die Migranten damit kein großes Problem, eben weil sie Gleichberechtigung und Gleichstellung nicht erwartet haben. Ich würde deshalb auch problematisieren, dass sich so wenige Menschen mit Behinderung diskriminiert fühlen: Hier ist eine Gruppe, die sich mit Ungleichstellung arrangiert hat und Benachteiligung eher akzeptiert.
ZEIT ONLINE: Gibt es auch die Neigung einiger Migranten, sich in der Rolle als Diskriminierungsopfer einzurichten?
El-Mafaalani: Manche Schüler und Studenten nutzen Diskriminierung als Ausrede etwa für schlechte Noten, die sie selbst verantworten müssten. Erlebt haben sie Diskriminierung aber wahrscheinlich trotzdem. In meinen eigenen Untersuchungen konnte ich grob drei Typen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund unterscheiden, die auf die gleiche diskriminierende Situation komplett anders reagieren. Zum Beispiel: Ein Verkäufer beobachtet den Jugendlichen in einem Laden misstrauisch oder eine ältere Frau wechselt die Straßenseite, um nicht an dem Jugendlichen vorbeigehen zu müssen. Der erste Typ fühlt sich durch solche Erlebnisse ohnmächtig, zieht sich zurück, der zweite wird aggressiv. Beide richten sich im schlimmsten Fall in ihrer Opferrolle ein und werden sehr empfindlich auch gegenüber Kleinigkeiten.
ZEIT ONLINE: Das hilft aber nicht, die Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft abzubauen.
El-Mafaalani: Nein, aber es gibt einen dritten Typ. Er geht den besten, aber auch anspruchsvollsten Weg. Auch er nimmt die Skepsis wahr, geht aber offensiv damit um. Er bewertet das Verhalten dieses einen Verkäufers nicht als allgemeine Tendenz, sondern als Einzelfall. Im besten Fall geht er zu ihm hin und wünscht einen guten Morgen. Meist kommt Höflichkeit zurück. Leichter wird es für ihn, wenn er akzentfrei Deutsch spricht.
Man erkennt daraus zum einen, dass Diskriminierungserfahrungen unabhängig vom Bildungsstand in allen Schichten erlebt werden, zum anderen, dass es unterschiedliche Formen gibt, solche Situationen zu deuten und damit umzugehen. Der dritte Typus ist insbesondere deshalb so vorteilhaft, weil bei den beiden ersten Typen die Vorurteile oder die Skepsis bestätigt werden, wohingegen ein offener Umgang genau dieses Vorurteil aufzulösen vermag.
Kommentare
Diskriminierung und Ausrede
"Manche Schüler und Studenten nutzen Diskriminierung als Ausrede etwa für schlechte Noten, die sie selbst verantworten müssten. Erlebt haben sie Diskriminierung aber wahrscheinlich trotzdem."
Gut auf den Punkt gebracht, würde ich sagen.
Auf den Punkt
Sehe ich auch so. Ist wie mit Jugendlichen, die als Ausrede für schlechtes Verhalten sagen:
"Ich bin aber doch in der Pubertät!"
Es ist eine Ausrede, in der Pubertät sind sie trotzdem.
Ebenso Schüler, die behaupten, ihr Lehrer habe sie auf dem Kieker, weil sie Ausländer seien. Häufig eine Ausrede, Diskriminierung durch verkappt vorurteilsbehaftete Lehrer gibt es dennoch.
Bitte verzichten Sie auf pauschalisierende und unterstellende Äußerungen. Danke, die Redaktion/fk.
Gegen Anbiederung und für mehr Klassenbewusstsein.
Ich teile die Analyse des Autors, dass der allgemeine Unmut gerade in den jüngeren Kohorten auf das beinahe alle Milieus erfassende Gefühl der Diskriminierung zurückzuführen ist. Und es stimmt auch, dass die Wut nur deswegen entsteht, weil die so empfindenden Menschen unerfüllbaren Erwartungen der Akzeptanz anhängen.
Ich finde allerdings, dass genau diese Erwartungen das Problem der Jugend heute sind und diese verbreitete Einstellung nicht positiv zu bewerten ist. Die jungen Leute sollten begreifen, dass die über sie herrschende Klasse das Gefühl der Isoliertheit und Minderheitszugehörigkeit als Pfand gegen Organisierung und Interessenvertretung in der Hand hält. Indem sie "dazugehören" wollen, ordnen sich die Diskriminierten selbst der Hegemonie einer schmalen, Normen setzenden Elite unter. Das kann nicht die Lösung sein.
Eine befreiende Antwort der Jugend heute wäre, ein Gegenhegemonieprojekt zu entwickeln. Etwas mehr Rotzigkeit und Selbstbewusstsein wären wünschenswert und vor allem keine Scheu sich auch dort zu engagieren, wofür man nicht sofort gelobt wird. Vielleicht in einer Initiative gegen staatliche Finanzierung der Kirchen, für muslimische Feiertage, gegen ethnorassistische Alltagskultur etc. pp.
Denn eines sei den "Minderheiten" verraten: Die Zeiten des alten, weißen, heterosexuellen und männlichen Establishments laufen bereits ab. Und wer heute seine Minderheitenpositionen erfolgreich vertritt, wird morgen die Normen für die Mehrheit setzen.
Mehr Klassenbewusstsein?
Moin,
Sie schrieben:
"Etwas mehr Rotzigkeit und Selbstbewusstsein"
Das Problem ist kaum zuwenig Rotzigkeit oder Selbstbewusstsein, sondern ein zuviel davon ohne die nötige Unterfüttterung durch Kompetenz. Die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität wird nicht zuletzt durch die Überzeugung hervorgerufen, zu einem eigentlich auserwählten Volk (Kultur/Religion) zu gehören, dem unrechtmäßigerweise der Platz an der Sonne vorenthalten wird.
Ein gut Teil derer denen mehr Klassenbewusstsein gewünscht wird wären, mit dem nötigen Schotter ausgestattet, kein bißchen weniger egoistisch als die jetzigen 1%.
"Initiative gegen staatliche Finanzierung der Kirchen"
Gerne.
"für muslimische Feiertage"
Was denn nun, staatlich verordnete Religion oder nicht?
"ethnorassistische Alltagskultur"
Was ist denn Ethnorassismus. Rassismus reicht völlig. In der Alltagskultur (Betonung liegt auf Alltag)? Wo?
"Minderheiten"
Wozu die Tüdelchen? Es sind Minderheiten die sich im Alltag sehr wohl gegeneinander abgrenzen. Da wird keine Mehrheit draus wie man es auch dreht.
"alten, weißen, heterosexuellen und männlichen"
Altersdiskriminierung, Rassismus und Doppel-Sexismus in einem Satz. Reife Leistung.
"wer heute seine Minderheitenpositionen erfolgreich vertritt, wird morgen die Normen für die Mehrheit setzen."
Und zum Abschluss noch eine kräftige Prise Diktatur der lautstarken (Rotzigkeit), aggressiven (Selbstbewusstsein) Minderheit, Bravó!
CU ("in Hell" lasse ich weg, das mag Lucius nicht)
Willens- vs. Kulturnation
Ich finde es immer extrem schwierig zu sagen: das war jetzt Diskriminierung oder: das waren einfach die Umstände.
Ich denke ehrlich gesagt nicht, dass Deutschland eine intolerante Gesellschaft ist. Vor allem finde ich, dass der Zusammenhalt innerhalb bestimmter Gruppierungen immer besser funktioniert - wenn auch noch zu wenig.
Gestern habe ich einen Artikel gelesen in dem zwischen Willensnationen und Kulturnationen unterschieden wird. Die Quintessenz war, dass man als Nicht-Einheimischer in einer Kulturnation nicht heimisch werden kann, in einer Willensnation dies aber sehr wohl möglich ist. Während Italien und Deutschland als Kulturnation eingestuft wurden, betrachtete man die Schweiz oder die USA als Willensnationen.
Ich finde diese Unterscheidung zwar ein bisschen willkürlich - gerade im Bezug auf die Schweiz - aber vielleicht spielt dies ja auch eine Rolle beim Thema Integration und Diskriminierung.
Ich fühle mich in manchen Ländern einfach überhaupt nicht wohl und in anderen hingegen sehr. Das liegt aber häufig an der Kultur dieser Länder. Dieses Grundgefühl des Wohlbehagens in einem Land nicht zu haben, könnte vielleicht erklären, dass sich manche Leute schneller diskriminiert fühlen als andere.
Im Zeitalter
von facebook, twitter, onlinemedien und social medias, werden Kulturnationen in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr existieren. Krisen, wie die Euro/Finanzkrise, die Globalisierungen, internationale Netzwerke, internationale Studien und Verzahnung von Universitäten führen gerade bei der jüngeren Generation zu anderen gesellschaftlichen Schwerpunkten. Auch die Tatsache, dass viele Familien bereits in der dritten Generation in Dtl. leben macht den Begriff Kulturnation lockerer. Die Geschichte Dtl. wird immer bleiben, aber sie wird internationaler werden.
Und der Begriff Willensnation? Das klingt mir viel zu sehr nach Zwang (der Begriff ist mir bereits bekannt). Gerade an der USA kann man sehen, dass eine Willensnation problemlos auch eine Kulturnation sein konnte, jedoch, wie bereits am Anfang erwähnt, diese beiden Begriffe sich in Zukunft aufweichen werden.
Schwierig wird es vor allem, wenn Menschen der Meinung sind, eine Leitkultur diktieren zu wollen, denn dies suggeriert, dass die eigene kulturelle Herkunft, so sie denn ausländischen Ursprungs ist, sich unterordnen muss.
Mit Alltagsrassismus und Diskriminierungen hat dies jedoch aktuell nur partiell etwas zu tun.