Noch nie waren so viele Menschen pflegebedürftig wie heute: 3,5 Millionen Menschen sind es in Deutschland, zwei Drittel von ihnen werden zu Hause versorgt. Doch warum reden Kolleginnen und Freunde über den Kitaplatzmangel, aber nicht darüber, wie schwer ein gutes Pflegeheim zu finden ist? Was hindert Eltern und ihre erwachsenen Kinder daran, ehrlich über ihre Erwartungen zu sprechen? Im Schwerpunkt "Sprechen wir über Pflege" widmen wir uns auf ZEIT ONLINE diesen und weiteren Fragen: Wie es sich anfühlt, über die Zukunft der Mutter zu entscheiden. Was die Belastung der Pflege mit einer Beziehung macht. Und was körperliche Nähe bedeutet, wenn man selbst gepflegt wird.
Ich stand auf einer Raststätte an der A10 Richtung Berlin, als der Anruf von meinem Vater kam. "Mutter ist vom Krankenwagen abgeholt worden. Sie ist bewusstlos. Ich fahre gleich in die Klinik." Fünf Jahre ist das her.
Es brannte in meinem Kopf. Bewusstlos? Was heißt das? Wie geht es ihr? Warum bin ich nicht bei ihr? Und: Wie geht es weiter? Wenn es weitergeht. Oh bitte, lass es weitergehen.
Noch am Morgen hatte ich mit ihr telefoniert. Ja, die Wunde am Bein sei noch offen, hatte sie gesagt. Und: "Es wird schon wieder."
Es wird schon wieder. Ihr Standardsatz zu gesundheitlichen Problemen. Sie hatte bislang recht behalten. Immer öfter waren aber auch "die Einschläge nähergekommen", wie sie sagte. Das Herz, Diabetes, die Gelenke und wieder das Herz. Viele Klinikaufenthalte, Operationen.
Es wird schon wieder. Ich wollte den Satz glauben. Mein Leben ist voll genug, die Kinder, die Beziehung, der Job, die Freunde, die Hobbys. Da sollte es wieder werden, möglichst ohne mein Zutun. Trotzdem war ich in den Monaten zuvor öfter nach Hause gereist als früher. Weil ich mir Sorgen machte um meine Mutter. Ihr Radius war immer kleiner geworden. Die Treppe im Reihenendhaus zweimal am Tag eine Herausforderung für sie, morgens runter, abends rauf.
Der richtige Zeitpunkt
Ein Jahr vor dem Anruf an der A10 fuhr ich nur mal für einen Tag die 450 Kilometer "nach Hause", wie ich immer noch sagte, obwohl doch mein Zuhause seit 20 Jahren in Berlin ist. Da saß ich ihr dann gegenüber, sie erzählte von den Krankheiten der anderen. Der P. aus der Kirchengemeinde, "den kennst du doch noch", der müsse jetzt wohl ins Heim. "Seine Kinder wohnen ja in München, haben keine Zeit, sich zu kümmern."
Da war es, das Thema. Pflege. Ein guter Zeitpunkt, darüber zu reden. Nicht über die von P., sondern über die von Mama. Darüber, wie es weitergehen soll, wenn sie die Treppe gar nicht mehr schafft. Welche Rolle mein Vater spielen soll. Was sie von mir erwartet. Was aus meiner lernbehinderten Schwester wird, die auch als Erwachsene bei ihnen lebt. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, zu reden, sagte ich mir an diesem Nachmittag. Sagte ich mir weitere Male. Und sagte ihr dann: nichts.
Im Freundeskreis hatte ich die Fragen, die ich stellen wollte, längst diskutiert. Das Thema drängte sich immer öfter in die Gespräche, seit ich die 40 überschritten hatte. Plötzlich ging es beim Feierabendbier auch um Inkontinenz und Demenz, Pflegequalität und Pflegestufen. Und vor allem um unsere Angst davor, mit unseren eigenen Eltern über deren Pflege zu reden.
Warum ist das so? Es ist doch völlig klar, dass Mama und Papa irgendwann Hilfe brauchen, auch bei den scheinbar einfachen Dingen des Alltags. Beim Aufstehen, beim Anziehen, beim Waschen, beim Einkaufen, beim Putzen, beim Kochen, beim Wäschewaschen, bei der Steuer, beim Begleichen von Rechnungen.
Warum schweige ich? Ich habe doch sonst keine Scheu, meine Meinung zu sagen. Persönliches zu fragen. Aber Pflege? Warum ist es so verdammt schwer, darüber mit Mama zu reden?
Da dreht sich etwas um
Erster Gedanke: Da dreht sich etwas um. Das ist der Schlusspunkt meines eigenen Kindseins. Das Eltern-Kind-Verhältnis, das sich in jährlichen Weihnachtspäckchen bis in mein Erwachsensein gerettet hatte – es zerfällt. Das ist traurig, weil unumkehrbar, endgültig. Aus dem Gefühl, irgendwie sind sie immer noch für mich da, wird die Gewissheit: Jetzt brauchen sie mich.
Kommentare
Ich lebe 200 m von meiner Mutter entfernt.
Ein Zimmer in meinem Haus ist leer.
Das ist ihre Lebensversicherung.
Wer übernimmt dann im Falle eines Falles die Pflege? Mit einem Zimmer im Haus ist es nicht getan.
Das Überführen der Pflegesysteme in den freien Markt und die Auswirkung dessen, ist die soziale Katastrophe unserer gesellschaftlichen Gegenwart. Pflege muss heute in erster Linie kosteneffizient, ja profitabel sein. Ein unhaltbarer Zustand.
Das ist übrigens etwas, was der unbeliebte Herr Spahn scharf kritisiert:
"Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat privaten Pflegeheimbetreibern vorgeworfen, ihren Gewinn zu sehr auf Kosten des Pflegepersonals und der Pflegebedürftigen zu machen. In einem Beitrag für das Handelsblatt schreibt Spahn, dass "ein kapitalmarktgetriebenes Fokussieren auf zweistellige Renditeerwartungen" in einem personalintensiven Bereich wie der Pflege nicht angemessen sei.
In dem Beitrag fordert Spahn eine bessere Bezahlung in der Altenpflege und verbindliche Personalschlüssel, die auch für private Anbieter gelten sollen. Kritiker hatten dem Gesundheitsminister vorgeworfen, den Pflegemarkt zu stark regulieren zu wollen. Hierauf entgegnet Spahn, dass es im "September 2017 kein Wählermandat für eine Ausweitung des Marktcharakters in der Pflege gegeben" habe."
Stattdessen wurde deutlich ausführlicher über seine Anglismenkritik berichtet.
Pflege ist ein schwieriges Thema. Es hat etwas mit Alter zu tun. Deshalb reden viele ungern darüber.
Auch für die Kirchen, wenn es um die Unterstützung ihrer Mitglieder geht.
"Sie haben für mich gesorgt, jetzt bin ich an der Reihe. Das finde ich selbstverständlich. Aber was heißt das? Was bin ich konkret bereit, von meinem Leben aufzugeben? Ehrlich gesagt, nicht so viel. Mich zu kümmern und mein Leben zu behalten, das passt nicht gut zusammen."
Das ist der Punkt, an dem man von der romantischen Träumerei zur Realität findet.
Und diese Realität muss man seinen Eltern so früh wie möglich ehrlich vermitteln. Das ist schwer, weil es die Eltern vielleicht enttäuscht. Aber das ist man seinen Angehörigen schuldig. Denn sie brauchen klare Verhältnisse, um sich frühzeitig darauf einstellen zu können. Diese Ehrlichkeit aus Feigheit nicht zu gewähren, ist eine schlichte Sauerei den eigenen Eltern gegenüber.
Diese schwierigen Entscheidungen müssten aber auch die Eltern treffen und über ihren Schatten springen, um darüber zeitnah zu reden. Ich habe die persönliche Erfahrung gemacht, dass Eltern oft davon ausgehen, dass die Kinder sich kümmern ohne auch nur einen Strich weit davon abzuweichen oder festzulegen, was denn passiert, wenn sie komplett immobil sind oder sogar künstlich ernährt werden müssen. Das sind Fälle, die zu Hause nahezu unleistbar sind und oft eine untragbare Qual und Herausforderung für Kinder darstellen. Ja, aber was dann? Die riesige moralische Entscheidung hängt dann am Kind, ein Leben lang. Wie Sauerei ist das denn bitte?