Nehmen wir an, ein Junge ist aus Afghanistan geflohen. Daheim hat er Ziegen gehütet, aber nie lesen und schreiben gelernt. Idealerweise läuft es so: Sobald er in Deutschland ankommt, medizinisch und psychologisch versorgt ist, wird er in einer Schulklasse mit Gleichaltrigen aufgenommen. Hier lernt er Deutsch von speziell dafür ausgebildeten Lehrern.
Auch Sozialarbeiter und Psychologen gehören zum Klassenteam, um traumatisierte Flüchtlinge aufzufangen. Der Junge lernt zusammen mit anderen Jugendlichen in seiner Situation lesen, schreiben und rechnen, bis er irgendwann den Hauptschulabschluss schafft. Danach setzt er noch einen zweiten Abschluss drauf und macht eine Ausbildung zum Elektrotechniker.
So ideal läuft es selten, eine ferne Utopie ist die Geschichte aber auch nicht. Melanie Weber hat sie erzählt, die stellvertretende Schulleiterin der Münchner SchlaU-Schule, die Unterricht für jugendliche Flüchtlinge ab 16 Jahren anbietet. Den afghanischen Jungen gibt es wirklich – und er bereitet sich gerade auf seine Meisterprüfung vor.
Sicher ist: Die schulische Integration der Flüchtlingskinder wird die Bundesländer und Kommunen in den kommenden Jahren vor große Herausforderungen stellen. Etwa ein Drittel aller Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche, davon etwa zwei Drittel im schulpflichtigen Alter, das ist die Faustformel, mit der sich die Länder derzeit behelfen, um den Bedarf abzuschätzen.
Für Baden-Württemberg zum Beispiel käme man so auf etwa 20.000 schulpflichtige Flüchtlingskinder allein in diesem Jahr, rechnet Michael Hermann, Leiter der Abteilung Kommunikation des baden-württembergischen Bildungsministeriums, vor.
Angesichts von etwa 1,4 Millionen Schülern an den allgemeinbildenden
Schulen des Landes sicher keine allzu große Zahl. Vergleicht man sie allerdings mit
den knapp 18.000 Schülern, die bereits jetzt in besonderen
Deutschkursen unterrichtet werden und bei denen es sich ja nur zu einem
Teil um Flüchtlinge handelt, lässt sich erahnen, wie stark der Bedarf an zusätzlichen Angeboten steigen wird.
Willkommensklasse und DaZ-Zentren
Notwendig sind vor allem Klassen, in denen Flüchtlingskinder erste Deutschkenntnisse erwerben. Mancherorts heißen sie Willkommensklassen, anderswo Vor-, Übergangs-, Vorbereitungs- oder Sprachlernklassen. In Schleswig-Holstein wiederum gibt es spezielle DaZ-Zentren (für Deutsch als Zweitsprache), in die Flüchtlingskinder zuerst eingeschult werden, bis sie genug Deutsch können, um am regulären Unterricht teilzunehmen.
Entsprechende Angebote werden derzeit mit Hochdruck überall aus- und aufgebaut. In Berlin zum Beispiel wurden
2011 noch 1.378 Kinder ohne Deutschkenntnisse in 112 Lerngruppen
unterrichtet, im Schuljahr 2015/2016 sind es knapp 5.000 in 431
Lerngruppen. Also fast viermal so viele. Dabei handele es sich natürlich nicht nur um Flüchtlingskinder, doch der Zuwachs sei schon im Wesentlichen auf sie zurückzuführen, sagt eine Sprecherin der Berliner Senatsverwaltung für Bildung.
In Bayern startet man mit 100 zusätzlichen Übergangsklassen
an allgemeinbildenden, und 180 weiteren an Berufsschulen ins neue Schuljahr. Für Nordrhein-Westfalen hat Hannelore Kraft gerade angekündigt, zusätzlich zu den bereits geschaffenen neuen Stellen weitere 2.625 neue Lehrer einzustellen, darunter 900 speziell für den Deutschunterricht
von Flüchtlings- und Zuwandererkindern.
Ein positives Verhältnis zur Vielfalt
Einen einfachen Job haben diese Lehrer nicht vor sich. Auf ihnen laste extrem viel Verantwortung, sagt Viola Georgi, Professorin für Diversity Education an der Stiftung Universität Hildesheim und Direktorin des Zentrums für Bildungsintegration. Die Deutschlehrer müssten den Flüchtlingen nicht nur die Sprache beibringen, sondern trügen auch maßgeblich dazu bei, wie wohl sich die Kinder fühlen und wie erfolgreich sie lernen können.
"Voraussetzung ist, dass sie die Ressourcen, die die Heranwachsenden mitbringen, erkennen, anerkennen und weiterentwickeln können", sagt Georgi. Dazu bräuchten sie selbst eine positive Haltung und Sensibilität gegenüber Vielfalt. Am besten lernen sie das schon im Studium.
Lehramtsstudenten in Hildesheim und Köln absolvieren deshalb inzwischen Praktika in Flüchtlingsunterkünften. In Nordrhein-Westfalen müssen sich alle Lehramtsstudenten auch mit Deutsch als Zweitsprache beschäftigen. Aber noch sind diese Lehrer nicht an den Schulen angekommen. Viele Schulen behelfen sich deswegen vorerst mit Honorarkräften, Studenten oder privaten Initiativen.
Glückliche Kleinfamilie
Manchmal fehlt auch das passende Material: In den herkömmlichen Lehrbüchern geht es zum Beispiel um glückliche Kleinfamilien und Urlaubsreisen – Geschichten, die die Realität der geflohenen Kinder zu verhöhnen scheinen.
Kommentare
Ab in die Schule, das Wichtigste überhaupt
Nicht nur für Kinder, auch Erwachsene müssen in die Schule. Bildung ist niemals eine verlorene Mühe. Und in der Schule können wir auch erkennen wer sich integrieren will.
Und selbst wenn Asylbewerber abgelehnt werden und wieder zurück müssen, das Gelernte kann denen keiner mehr nehmen.
Grundsätzlich richtig
"Nicht nur für Kinder, auch Erwachsene müssen in die Schule. Bildung ist niemals eine verlorene Mühe."
Und natürlich sind auch Erwachsene noch aufnahmefähig. Aber beispielsweise für das Lesen und Schreiben existieren sensible Lernphasen, in denen Kinder besonders empfänglich für diese Fähigkeit sind und diese entsprechend schnell erlernt haben. Das heißt aber auch, dass es nach dieser sensiblen Phase mit voranschreitendem Lebensalter zunehmend schwieriger wird, Kindern, Jugendlichen und vor allem Erwachsenen diese elementaren Grundvoraussetzung nachhaltig zu vermitteln.
De facto unmöglich wird es hingegen bei unbeschulten Erwachsenen. Die neuronale Entwicklung ist bei Erwachsenen zu weiten Teilen ohnehin abgeschlossen. Und wer mit vierzig noch nicht gelernt hat zu lernen (gilt nicht nur für Flüchtlinge), der wird es trotz hoher Eigenmotivation unendlich viel schwerer haben, auch nur im Ansatz den allgemeinen Bildungsstand unserer Gesellschaft zu erreichen.
Motivation wird ohnehin die entscheidende Rolle spielen. Gerade Deutsch als Sprache muss eine Zwangsvoraussetzung sein, längere Zeit hier bleiben zu können. Hier könnten jährliche Sprachtest und bei wiederholt ungenügendem Resultat eine drohende Abschiebung zielführend sein. Gerne auch im Rahmen befristeter Sozialleistungen für Flüchtlinge.
Zuckerbrot und Peitsche. Wir schützen euch, wir ernähren und kleiden euch, wir unterhalten und bilden euch, aber dafür müsst ihr uns auch zeigen, dass ihr es ernst meint.
Der im Artikel verwendete Begriff "Utopie" trifft den Kern, denn
in der Realität landen 52% aller hier lebenden Afghanen in Hartz IV.
http://www.bild.de/geld/w...
Bild-Artikel war von 2012
Gibt es neuere Zahlen?
[…]
Auf Wunsch des Autors wurde sein Kommentar von der Redaktion wieder entfernt./ch
Bis jetzt 8 Leserempfehlungen ...
Bis jetzt 8 Leserempfehlungen für einen User, der nicht in der Lage scheint, einen Artikel richtig zu lesen.
Zitat User: "Suggeriert irgendwie, dass es genau so passiert ist. Oder geht es nur mir so?"
Zitat Artikel: "Den afghanischen Jungen gibt es wirklich – und er bereitet sich gerade auf seine Meisterprüfung vor."
Symptomatisch für viele Asylkritiker: Selektive Wahrnehmung.
Weiter gehts
Forderungen die auf Kosten der Bildung deutscher Kinder geht...
wichtig sind im moment natürlich nur die Flüchtlinge ob bleiberecht oder nicht ob Asylberichtigt oder nicht , die sind am wichtigsten....
Das der Schulische Alltag für deutsche Kinder darunter massiv leidet ist vollkommen egal.
[…] Gekürzt, da unterstellend. Die Redaktion/ca
Re: Weiter gehts
"Das[s] der [s]chulische Alltag für deutsche Kinder darunter massiv leidet[,] ist vollkommen egal."
Darf man fragen, wann Sie gelernt haben, wie das Schulsystem - und ich meine nicht Ihre alten Klassenräume - aufgebaut ist.
Mir ist nämlich völlig unverständlich, wie deutsche Kinder darunter leiden sollen, dass Ausländer im Nachbarraum Deutsch erlernen.