Der vielleicht schrecklichste Ort, an dem Jugendliche in der DDR landen konnten, befand sich in einem Keller in der sächsischen Stadt Torgau . Der sogenannte Fuchsbau ist nur wenige Quadratmeter groß und abgedunkelt. Um in die Arrestzelle zu gelangen, muss man unter einem Mauervorsprung hindurch kriechen.
Heidemarie Puls wurde hier eingesperrt, nachdem sie einem Erzieher das Gesicht zerkratzt hatte. Der Mann hatte sie und ihre Gruppe über den Hof des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau gehetzt – immer wieder. Davor hatten sie stundenlang schwer gearbeitet, Bauteile für Kräne montiert. Als ein besonders zierliches Mädchen schließlich zusammenbrach, schlug der Erzieher auf es ein. Da rastete Heidemarie Puls aus und griff den Mann an. "Ich weiß noch, wie ich in den Keller geschleift wurde", sagt die 1957 geborene Frau aus Mecklenburg. "Wie lange ich im Fuchsbau bleiben musste, weiß ich nicht." Irgendwann wurde sie ohnmächtig, wachte im Krankenbett wieder auf.
Gegen Ende der DDR gab es 32 Jugendwerkhöfe. Dort sollten 14- bis 18-Jährige zu "vollwertigen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft" erzogen werden. Manche hatten kleine Straftaten begangen, andere waren durch unliebsame politische Äußerungen aufgefallen oder stammten aus Problem-Familien. Allesamt galten sie als schwer erziehbar und sollten nun mittels Arbeit, Unterricht und Drill auf Kurs gebracht werden.
Torgau war noch eine Steigerung. Wer hierher kam, hatte sich in einem der anderen Jugendwerkhöfe einem Erzieher widersetzt, hatte einen Fluchtversuch unternommen oder war auf andere Weise aufgefallen. Drei bis sechs Monate mussten die Jugendlichen in den gefängnisartigen Gebäuden an der Elbe bleiben. Sie waren von einer meterhohen Mauer und Stacheldraht umgeben. Bis Ende der siebziger Jahre gab es Wachtürme, bis 1989 bewachten Hunde das Gelände. Heute erinnert eine Gedenkstätte an die rund 4.000 Jugendlichen, die hier zwischen 1964 und 1989 gequält wurden.
"Ich versuchte zu funktionieren"
Heidemarie Puls kam 1974 nach Torgau. Der Stiefvater hatte sie missbraucht. Sie hatte sich daraufhin in Gartenkolonien versteckt, die Schule geschwänzt. Von der Mutter war keine Hilfe zu erwarten. Sie sah auch tatenlos zu, als das Mädchen in ein Kinderheim gesteckt wurde. Dort missbrauchten ältere Kinder die jüngeren, schikanierten sie. Heidemarie riss immer wieder aus – und landete schließlich in Torgau. "Vom ersten Moment an versuchte ich zu funktionieren", sagt sie. "Ich wusste, dass ich nur so überleben kann."
Sie ist eine gepflegte Frau mit weichen Gesichtszügen und leiser Stimme. Der Missbrauch, die Erlebnisse im Kinderheim und in dem Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau führten zu zahlreichen seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen. Sie leidet unter einem Waschzwang, brauchte viele Jahre Psychotherapie, um mit ihren Panikattacken fertig zu werden und eine Beziehung mit einem Mann führen zu können. Wenn sie über die Vergangenheit spricht, fängt sie immer wieder an zu weinen. Trotzdem ringt sie sich dazu durch. Es sei schwierig, aber notwendig, meint sie: Mit dem öffentlichen Reden wolle sie sich selbst versichern, dass die schwere Zeit endgültig vorbei sei: "Ich will dafür sorgen, dass sich das, was ich erlebt habe, nie wiederholt."
Kommentare
Mein Beileid den Opfern
Das ist so abartig,dass einem beim Lesen der Atem stockt und man sich gar nicht vorstellen möchte welch ein Martyrium dies für die betroffenen Kinder dargestellt hat.
Und Margot lebt unbehelligt in Chile!
Das ist der eigentliche Skandal.
Gekürzt. Bitte achten Sie auf Ihren Ausdruck. Danke, die Redaktion/se
Die Täter und Täterinnen
Ein wichtiger Artikel und mal wieder ein erschütternder Bericht über institutionellen Missbrauch und Gewalt gegen Kinder…
Ich möchte ergänzen, dass solche Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zwar eine deutliche politische Note hat, aber sie nur von Menschen durchgeführt werden kann, die emotional auch „bewaffnet“ sind. Solche Menschen werden i.d.R. als Kind ebenfalls keine Liebe und Fürsorge erfahren haben, sondern wohl das genaue Gegenteil in Form von Gewalt, Missbrauch und/oder Vernachlässigung. Als Kind geliebte Menschen quälen später keine Kinder, erst recht nicht so organisiert und gezielt. Das soll nichts entschuldigen, aber man muss auch darüber nachdenken, um zu verstehen, wie Gewalt entsteht.
Ich erinnere mich an eine ehemalige Erzieherin, die mir einst stolz erzählte, wie sie ein trotziges Kind im Kindergarten mit auf die Toilette geschleift hatte, um es dann durchzuprügeln. Ich fragte sie darauf, ob sie als Kind auch geschlagen worden war. Sie lachte und sagte: „Oh ja, wir sind richtig durchgeprügelt worden und mussten uns als Kind bei meinem Vater der Reihe nach anstellen, dann wurden wir mit einem Ledergürtel verprügelt.“ Dabei verlor sie die ganze Zeit nicht ihr Lächeln im Gesicht. Die Frau hatte ihre entsprechenden Emotionen von damals offensichtlich komplett abgespalten. Sie verstand meine Frage und den Zusammenhang zu ihrem eigenen Verhalten gar nicht… Es sind solche Menschen, die entsprechende Jugendeinrichtungen leiten, wie im Artikel geschildert.
Ich kenne die gleiche Aussage von einem prügelnden Vater
In seiner Familie war's die prügelnde Mutter, die auch vor dem Familienvater nicht halt machte. Er sagte abschließend (reflektierend), er hätte Erziehung nie anders kennengelernt.
Vermutlich würde man ähnliche Geschichten von den bis vor einigen Monaten in den Schlagzeilen gewesenen Padres deutscher christlicher Schul-/Erziehungsstätten hören.
Besonders wenn die Kinder isoliert sind, ohne Vertrauensperson, oder gar wie im Artikel als schwer erzeihbar abgestempelt sind, ist bei vorbelasteten ErzieherInnen eine gewalttätige Eskalation der Erziehungsmethoden fast schon vorgezeichnet.
Mehr Information
bietet die Website der Gedenkstätte Torgau http://www.jugendwerkhof-... und die Dokumentation des mdr 'Schlimmer als Knast' http://www.youtube.com/wa... Die Gedenkstätte berät und unterstützt Betroffene bei Rehabilitierungsantrag und Opferrente.
Es wurden keineswegs nur Kinder aus 'Problemfamilien' durch die Jugendhilfe (also ohne jeden Gerichtsbeschluß) in Jugendwerkhöfe gesperrt, sondern auch Kinder aus Familien, die politisch mißliebig waren, z.B. indem sie einen Ausreiseantrag gestellt hatten.
Mein Beileid den unschuldigen Opfern
Es mag zynisch klingen, aber für Handyräuber, Schutzgelderpresser vom Pausenhof oder Drogendealer mag diese Variante erfolgreicher sein als ein Workshop auf Mallorca.
Zynisch
Es klingt nicht nur zynisch, es ist auch noch dumm.
Weder bietet man kriminellen Jugendlichen "Workshops auf Mallorca" noch wird es helfen, diese massiver Gewalt auszusetzen.
Hinter solchen Bestrafungsfantasien steck genau die Ideologie, die die Existenz solcher Anstalten im Westen wie im Osten überhaupt möglich gemacht hat.