Der graubärtige Mann zog ein Messer. "Geld her", nuschelte er. Er versetzte die Verkäuferin in Angst und Schrecken. Doch dann stand Räuber Bernhard F. wie angewurzelt in dem Geschäft im Hauptbahnhof. Er machte keinen Druck, trotz der Schreie ringsherum türmte er nicht. Bernhard F., ein 59-jähriger Schuster, wartete. "Es ging mir nicht um Geld, es ging mir um Hilfe, ich war am Nullpunkt", sagte er am Freitag vor dem Landgericht. Er suchte an jenem Nachmittag eine Bleibe. Er fand sie im Gefängnis.
Zehn Wochen später der Prozess. Mit dem Überfall beging Bernhard F. aus Sicht der Juristen eine versuchte schwere räuberische Erpressung.
"Das ist eines der schwersten Verbrechen", hielt ihm der Ankläger vor. Es drohen in solchen Fällen bis zu 15 Jahre Haft. Bernhard F. hörte ruhig zu. Er hatte schon einmal mit einem Messer in der Hand dafür gesorgt, dass sich sein Leben für eine Weile hinter Gittern abspielte. Damals hatte er in eine Ladenkasse gegriffen. 350 Euro waren darin. Er nahm nur 40 Euro. Als Räuber bekam er fünf Jahre und drei Monate Haft.
"Als ich in München im Gefängnis war, bekam ich auch medizinische Hilfe, das hatte ich bei der Sache auf dem Bahnhof im Hinterkopf", sagte der Angeklagte. Er redete nichts schön, er war nicht auf Mitleid aus – und schon gar nicht auf richterliche Milde so kurz vor Weihnachten. Für alle Prozessbeteiligten eine ungewöhnliche Situation. Bernhard F. versicherte auch nicht, dass er in Zukunft wieder der brave Schuster sein werde. "Was kommt nach der Haft?", fragte der Staatsanwalt. Der hagere Graubärtige ruderte mit den Armen. Hilflos wirkte er. "Keine Arbeit, keine Wohnung, keine Wohnung, keine Arbeit, ich sitze wohl wieder auf der Straße."
Nach der Reha war der Job weg
Das Drama begann im Juli in einem Zug. Bernhard F. war im Urlaub, als er eine schwere Herzattacke erlitt. Er musste operiert werden. "Drei Bypässe, dann kam die Reha." Im August aber habe er erfahren, dass er seinen Job in einer kleinen Schusterwerkstatt verloren hatte. "Dann war auch die Wohnung weg." Er suchte keine Hilfe bei Behörden. "Ämter – das habe ich nie gebraucht, ich habe da auch eine Phobie." Er setzte sich in einen Zug. Ziellos fuhr er durch die Republik – weg von seinen Problemen. Er strandete im September in Berlin. "Ich lebte auf dem Bahnhof." Bis er sich sehr schwach fühlte, Wasser in den Beinen, Schmerzen und längst nichts mehr zu essen hatte.
Er hätte zu einem Arzt oder gleich ins Krankenhaus gehen können. Wieder hob der Angeklagte hilflos die Arme. "Ich dachte, dass man ohne Arbeit auch nicht mehr krankenversichert ist." Und ein Obdachlosenheim? "Da war ich mal, das konnte ich nicht, da sind die Matratzen versifft." Er habe sich für die Parkbank entschieden. "Als ich körperlich am Boden war, habe ich den Überfall gemacht", sagte er ohne Selbstmitleid in der Stimme. Seine Geschichte hatte er kurz und sachlich auch den Polizisten erzählt, die ihn abführten. "Es hat mich betroffen gemacht", sagte einer der Beamten.
Bis vor fünf Jahren lebte Bernhard F. geradlinig. Eine Familie hatte er nicht, für ihn war die Arbeit das Wichtigste. F. ist geschickt bei Absätzen und Sohlen, er liest auch, "was die Bücherei hergibt". 2006 verliebte er sich, doch die Beziehung ging ein Jahr später in die Brüche und die Enttäuschung warf ihn aus der Bahn. Er floh aus dem Alltag und wurde erstmals zu einer Haftstrafe verurteilt. Drei Jahre später kam er auf Bewährung frei. "Ich hatte dann Glück und fand Arbeit bei einem alten Schuster", sagte er. Doch dann erlitt er den Herzinfarkt.
Im Gefängnis wollen eigentlich alle raus, doch für Häftling F. wäre es derzeit die wohl härteste Strafe. "In der Untersuchungshaft habe ich mich gleich für Arbeit gemeldet", berichtete er. Der Alltag verläuft zwar unfrei, aber dafür in geordneter Bahn. Pläne für ein Leben in Freiheit habe er nicht, sagte der Schuster. Er sprach ohne Tragik in der Stimme. Doch es gibt ein Problem: Man könne niemanden in Haft stecken, nur weil er es so wolle, betonen alle. Die Richter sahen nur einen "minder schweren Fall", aber Bernhard F. stand noch unter Bewährung. So ging sein Wunsch in Erfüllung: ein Jahr und zehn Monate Gefängnis.
Erschienen im Tagesspiegel
Kommentare
So weit sind wir also gekommen als "Sozialstaat"
Herzlichen Glückwunsch an die Drahtzieher des brutalstmöglichen Sozialabbaus in Deutschland, Sie haben es geschafft!
Vor ungefähr zwei Jahren hat ein US-Amerikaner eine Bank "überfallen", einen Dollar gefordert und dann auf die Polizei gewartet. Warum er das tat? Nun, er war krank und hatte keine Krankenversicherung.....
Toll, dass es so etwas nun auch in Deutschland gibt. Wir sind also auf dem "besten" Weg....
Wer einen Funken Verstand und ein bisschen Herz hat, der darf 2013 weder Union, noch FDP, noch Grün, noch SPD wählen, weil genau diese Parteien für ein solches Schicksal verantwortlich sind. Es gibt kein Naturgesetz, dass solche Menschen in den Abgrund stösst. Wir sind hier nicht im Dschungel. Solche Schicksale sind politisch gewollt, damit der Michel weiterhin schön verzichtet und sich von seinem Arbeitgeber alles bieten lässt.
Seht her, sagt uns dieses Beispiel. So kann es gehen, wenn Du Dich nicht bis zur Selbstaufgabe anpasst.
Ich schäme mich inzwischen dafür Deutsche zu sein und ich schäme mich für Frau Merkel und Herrn Schäuble, die diese bittere Medizin ganz Europa verabreichen wollen und werden.
Deutschland hat nichts aus seiner Vergangenheit gelernt. Im Gegensatz zu 1945 wird auch keiner mehr Deutschland helfen wieder auf die Beine zu kommen, wenn es vorbei ist.
Vielen Dank nochmal für die Zerstörung unser aller Zukunft.
Diesen Zusammenhang sehe ich nicht
Irgendwie fehlt mir bei ihrem Beitrag der Bezug zum obigen Artikel. Ihr Kommentar könnte ebenso gut unter einem anderen Artikel stehen.
So erscheint mir der Zusammenhang zwischen Sozialabbau und dem hier geschilderten (Einzel-)Fall zumindest fragwürdig. In dem Artikel wird doch dargelegt, dass für den Mann nach dem Eintritt in Arbeitslosigkeit die Möglichkeit bestanden hätte, auf dem "Amt" Arbeitslosengeld zu beantragen, er dies aber aus einer generellen und diffus erscheinenden Abneigung gegen Ämter vermieden hat. Er spricht sogar von einer Phobie. Dabei hätte er vermutlich sogar Arbeitslosengeld I beantragen können und wäre von den Repressalien, die mit ALGII verbunden sind, zunächst verschont geblieben. Zudem habe er nicht gewusst, dass er trotz Arbeitslosigkeit einen Anspruch auf medizinische Versorgung besitzt.
Insofern sehe ich hier eher ein generelles Unvermögen des Mannes mittels des dafür vorgesehenen Behördenwegs Hilfe zu beantragen.
Das Problem ist also doch eher, dass viele Menschen mit labiler Psyche oder psychischen Krankheiten überhaupt nicht in der Lage sind, Hilfe zu beantragen. Oder die Inanspruchnahme von Hilfe gescheut wird, weil man sich selbst als wertlos empfindet oder eben eine Abneigung gegen die (auch immer)disziplinierenden Institutionen der Wohlfahrtspflege besitzt. Für solche Fälle müsste man die Betreuung verbessern, finde ich.
Mit dem Sozialabbau der letzten Jahre hat das aber Meinung nach wenig zu tun.
Deutlicher geht nicht
Der Fall zeigt doch: Freiheit ist nichts wert, wenn keine soziale Absicherung vorhanden ist.
Würden alle Obdach- und Hoffnungslosen in unserer Gesellschaft auch jeweils ein Verbrechen begehen, um in den Genuss regelmässiger Mahlzeiten, geregelter Tagesabläufe und medizinischer Behandlung zu kommen, was würden dann wohl unsere FDP-Ministerin für Justiz zu den vielen Richter-Klagen von Überlastung sagen? Was würde sie ihrer Partei sagen?
Was würde die Union sagen, wenn es ausnahmsweise mal nicht hilft, härtere Strafen zu fordern?
Vielleicht wäre das ein Anfang umzudenken und die Richtung, die unsere Gesellschaft eingeschlagen hat, zu ändern.
Wo...
gibt es keine soziale Absicherung?
ein jahr zehn monate sind ganz schlecht
da wird grad wieder winter, wenn er raus kommt.
ansosnten gibt es das sujet "verbrechen wegen knastwusch im Winter" in der literatur öfter, schade dass es das nun auch bei uns real gibt.
Die Fälle in der Literatur
sind vermutlich auf reale Fälle zurückzuführen, das nehme ich jedenfalls an. Im Übrigen dürfte er vorzeitig entlassen werden.
Das muß die
schöne neue Welt sein, die uns die Regierungen der letzten Jahre versprochen haben - wirklich toll.
Er dürfte auch vermutlich kein Einzelfall sein - in vielen Fällen ist Obdachlosigkeit auf ein traumatisches Ereignis zurückzuführen und oft sind diejenigen betroffen, die sich schlecht wehren können. Durchaus nicht jeder Obdachlose ist Alkoholiker, zumindest am Anfang nicht - wie es nach ein paar Jahren auf der Straße aussieht, ist eine andere Frage.
Man muß sich wirklich schämen, wenn man über solche Fälle liest - naja, die Politik und leider auch eine ganze Menge Menschen wird das auf individuelles Versagen zurückzuführen. Dabei hätte dieser Mann nur Hilfe gebraucht - aber mittlerweile muß man ja um Hilfe schon fast betteln bzw. seine Rechte per Gericht durchsetzen. Mitmenschlichkeit ist ein abnehmendes Gut in Deutschland - und so kurz vor Weihnachten sollte jeder, der sich als christlich empfindet, mal darüber nachdenken, was er seinen Mitmenschen wirklich Gutes tut oder getan hat.