Das kann einem jeden Tag überall widerfahren: Ein guter Freund von mir saß am Wochenende in der Berliner U-Bahn. Drei Rumänen stiegen ein, spielten munter auf ihren Trompeten und baten um eine kleine Spende. Ein kräftiger Mann, so um die fünfzig Jahre, fühlte sich gestört. Er herrschte "das ausländische Musikantenpack" an, sofort aufzuhören und donnerte mit einem metallenen Gegenstand gegen die Scheibe.
Mein Freund forderte den Mann auf, seine Drohgebärde einzustellen und die Musiker gewähren zu lassen. Woraufhin der Mann mit einer Hand zur Notbremse griff, mit der anderen weiter gegen die Scheibe schlug und dem Freund wütende Blicke zuwarf. Die Trompeter verstummten, die Menschen drumherum schauten betreten zu Boden und schwiegen.
Als der Mann an der nächsten Haltestelle die U-Bahn verließ, sagte eine Frau zu meinem Freund: Was wenn der Mann die Notbremse gezogen oder eine Waffe dabei gehabt hätte? Dann wären doch alle Passagiere in Gefahr gewesen. "Man weiß ja nie, was passiert, wenn man sich einmischt."
Es ist wahr: Man weiß es nie! Und in der Tat endeten gerade zwei Fälle, wo Menschen einschritten, um anderen zu helfen, tragischerweise tödlich.
Genau wissen wir bislang nicht, was in jenen Fällen wirklich geschah. Doch legt man zugrunde, was Polizei und Staatsanwaltschaft bisher haben durchsickern lassen, ereignete sich wohl Folgendes: In Offenbach zahlte die 22-jährige Tuğçe A. mit ihrem Leben dafür, dass sie sich einmischte, als ein junger Mann zwei Mädchen in einer McDonalds-Toilette bedrängte. In Hannover wurde ein bislang namentlich nicht bekannter 21-jähriger Mann erschossen, der versucht hatte, in einem Supermarkt einen mit einer Pistole bewaffneten Räuber zu überwältigen.
Sich-Einmischen kann Grenzen überschreiten
Kaum etwas beschäftigt uns in diesen Tagen mehr als die Frage: Was heißt Zivilcourage? Wo liegen die Grenzen? Wann und wie sollte man einschreiten?
Es gibt kein Patentrezept für Zivilcourage. Niemand sollte leichtfertig den Helden spielen. Und jeder muss für sich selber entscheiden, wann er sich traut. In unübersichtlichen Situationen ist es oftmals besser, sich herauszuhalten und die Polizei zu informieren, bevor man sich selber und andere in Gefahr bringt. Die Polizeien der Bundesländer und Onlineforen wie aktion-tu-was.de halten dafür viele gute Ratschläge bereit.
Mitunter kann das Sich-Einmischen sogar Grenzen überschreiten und verletzen, erwächst es nicht aus Fürsorge, sondern aus geistiger Enge und Überlegenheitsgefühlen. Es gibt viele Beispiele, wo Bürger sich zu Hilfssheriffs aufschwingen, um ihre Vorstellungen des Gemeinschaftslebens und von Recht und Ordnung durchzusetzen. Achtsamkeit kann hier durchaus zu sozialer Kontrolle ausarten. Öffentliche Aktionen wie "Misch Dich ein!" oder "Zivilcourage kann jeder!" stoßen darum auf ein geteiltes Echo.
Der Historiker Michael Wolffsohn beklagte sich soeben in der Tageszeitung Die Welt über derartige Kampagnen. Es gehöre zu den Kernaufgaben des Staates, seine Bürger zu schützen, schreibt er. Der Ruf nach mehr Zivilcourage gleiche einer staatlichen Abdankung. "Es ist die Aufforderung des versagenden Staates an seine Bürger, Selbstmord zu wagen, weil der Staat Mord nicht verhindern kann."
Schauten wir weg, erlangten sie Macht
Abgesehen davon, dass in einer freiheitlichen Gesellschaft der Staat und seine Ordnungshüter – zum Glück – nicht überall präsent sein können, verkennt Wolffsohn den tieferen Sinn von Zivilcourage. Es geht gerade nicht darum, den Staat zu entlasten und die Obrigkeit durch wachsame Bürger zu ergänzen. Zivilcourage gehört zum Kern einer Bürgergesellschaft, also einer Gemeinschaft, deren Mitglieder das öffentliche Leben aktiv mitgestalten.
Es geht in dieser Bürger- oder Zivilgesellschaft um individuelle Verantwortung und gemeinsame Werte; um das menschliche Miteinander und Füreinander; um das nicht tatenlose Zuschauen, wenn andere in Not geraten. So tragisch und unendlich traurig es auch ist: Das mutige Einschreiten der 22-jährigen Tuğçe Albayrak hat uns dies gerade wieder vor Augen geführt.
Zum Wesen der Zivilcourage zählt außerdem, dass man die Folgen des eigenen mutigen Handelns nicht immer voraussehen und abschätzen kann. Es bleibt immer ein Risiko. Die Konsequenz daraus aber kann und darf nicht lauten, dass man deswegen mutlos bleibt und nichts tut, dass man jegliche Verantwortung von sich abstreift und diese allein dem Staat überträgt.
Mein Freund antwortete der Frau in der Berliner U-Bahn: "Schauten wir weg, würden doch Menschen wie dieser Mann Macht über uns erlangen."
Kommentare
Finanzen Zivilcourage
Sehr geehrter Autor Martin Klingst.
Betreff Zivilcourage. Zuivielcourage taugt lediglich als Plattheit von Politikern. Eine ganz einfache Geldrechnung welche online recherchiert werden kann, da ich Links zu Konkurrenzmedien vermeiden möchte. Femen-Aktion im Kölner Dom: 1.200 Euro Strafe. Die mutige Ohrfeige eines Empörten: 500 Euro Strafe. Verkaufswert für weltweite Exklusivrechte an solchen Aktionen: Laut Agentur welche zu kurz kam; 100.000 Euro.
"Die mutige (!) Ohrfeige eines Empörten"
Verstehen Sie unter Zivilcourage, barbusige Frauen zu ohrfeigen? Für mich ist das simple Körperverletzung.
Einmischen - aber richtig!
Zivilcourage ist wichtig - gerade in einer freiheitlichen Gesellschaft, aber die Grenzen zu erkennen ist wichtig. Nein, ich stimme Wolfssohn nicht zu - der Staat dankt nicht ab, denn der Staat, daß sind wir alle und wir alle sind verpflichtet das friedliche Zusammenleben zu erhalten und gegen jene zu stehen, die dieses nicht wollen. Vor einiger Zeit hatten wir bei uns im Edeka eine lange Schlange an der Kasse - eine junge Frau, die an Trisonomie21 erkrankt ist war an der Reihe zu bezahlen und es dauerte halt etwas länger - der Mann vor mir in der Schlange beklagte sich laut darüber, daß sowas "zu seiner Zeit" nicht möglich gewesen wäre und solche Menschen nicht aus "ihren Reservaten" herausgedurft hätten...wie aus der Pistole geschossen kam mir die unüberlegte Antwort:"Zu ihrer Zeit hätte man die junge Frau ermordet, wollen Sie diese Zeit wieder?" Zugegeben, die Antwort war schnodderig und gemein, aber sie hat ausgereicht um diesen Mann verstummen zu lassen, in dem Fall heiligte der Zweck die Mittel. Dennoch, was für eine Gesellschaft sind wir, wenn wir wegschauen oder weghören? Nicht, daß man sich bei jedem Streit zwischen zwei Menschen einmischen muss, aber wenn jemand wehrloses bedrängt wird, dann müssen wir einschreiten und zumeist reicht das Wort aus!
Eine Streitschrift
Sehr geehrter Herr Klingst, Zivilcourage lohnt sich nicht.
Was hat Tuğçe A. davon? Was hat ihre Familie davon? Hätte sie weggesehen, dann würde sie heute noch leben, hätte vielleicht irgendwann Kinder bekommen und hätte evtl. ein glückliches Leben führen können.
Menschen die wegschauen und ihr gewissen "unter Kontrolle" haben, leben länger und auch erfolgreicher.
Ob im großen, etwa wenn es um den Kampf um Bürgerrechte geht, oder im kleinen, wie im Falle von Tuğçe A.
Die Helfer profitieren selten von ihren Taten. Und hier liegt das Problem.
Uns als Gesellschaft sind Werte oder Zivilcourage nicht wichtig genug, Wenn wir wirklich etwas ändern wollten, dann müßten wir uns alle ändern.
Die Beimessung des Wertes eines Lebens und soziale Belange müßten an erster Stelle stehen.
Sie müßten der Maßstab unserers sozialen Status innerhalb einer Gesellschaft sein. Nicht der persönliche, wie auch immer aussehende Erfolg.
Ich halte das für utopisch, denn das Handeln (oder nicht handeln) zum eigenen Vorteil, ist in den meisten Fällen einfach besser als ein Gewissen und Zivilcourage.
Solange jedenfalls für die Gesellschaft Menschlichkeit und soziales Handeln sekundärtugenden sind, solange werden bewundernswerte Menschen wie Tuğçe A. die Ausnahme sein und nicht die Regel.
Aller Appelle zum Trotz.
MfG
Angst
ist auch menschlich....verwechseln Sie doch nicht "Nicht-Handeln" aus Angst mit "absichtlichem Wegsehen". Da machen Sie es sich zu einfach.
Dass hat Herr Wolffsohn gesagt? Erstaunlich.
"Der Historiker Michael Wolffsohn beklagte sich soeben in der Tageszeitung Die Welt über derartige Kampagnen. Es gehöre zu den Kernaufgaben des Staates, seine Bürger zu schützen, schreibt er. Der Ruf nach mehr Zivilcourage gleiche einer staatlichen Abdankung. "Es ist die Aufforderung des versagenden Staates an seine Bürger, Selbstmord zu wagen, weil der Staat Mord nicht verhindern kann.""
AFAIK ist Herr Wolffsohn doch - wie derAutor - ein Neoliberalist?
Neusprech: "Bürger- oder Zivilgesellschaft um individuelle Verantwortung "?
Man kann nur eines haben:
Ebtweder das oder "das menschliche Miteinander und Füreinander".
Und im Neoliberalismus gilt nun eben:
"Wenn jeder an sich denkt, ist an jeden gedacht"