Ich bin aufgewachsen in der Stadt mit dem größten Weihnachtsbaum der Welt. Es gibt Schlimmeres, was man über Dortmund sagen könnte. Der Baum ist eigentlich viele Bäume, die auf ein unfeierliches graues Metallgerüst gestapelt sind, sodass es von Weitem wie eine einzige riesige, sehr gleichmäßig dreieckige Edeltanne aussieht. Nur vom Nahen werden die schmutzigen Tricks des Stadtmarketings sichtbar.
Mir war der Baum egal, den unbedingten Willen der Stadt, sich ein Alleinstellungsmerkmal zu basteln, habe ich belächelt. Aber dann hörte ich von der "Serpentinsteinstadt Zöblitz". Und von "Weil am Rhein – Stadt der Stühle". Und schließlich von "Harsewinkel – die Mähdrescherstadt". Seitdem finde ich, dass es Dortmund mit dem Weihnachtsbaum noch ganz gut getroffen hat.
Muss das alles sein? Beethovenstadt Bonn, Porzellanstadt Meißen – das ist angemessen, weil auch Menschen außerhalb Bonns die Stadt mit dem Komponisten assoziieren und deshalb hinfahren, weil Meißen und Porzellan keine ausgedachte Verbindung, sondern eine international bekannte Marke ist. Aber wer kennt das schöne Lüdenscheid als "Stadt des Lichts"? Und nichts gegen Baumkuchen, aber machen sich wirklich Menschen auf in die Altmark, weil dort die "Hanse- und Baumkuchenstadt Salzwedel" liegt?
Glorreiche Vergangenheit
All diese Slogans, die Experten sprechen von city branding, haben einen realen Hintergrund. Der Salzwedler Baumkuchen soll so gut und traditionsreich sein, dass der preussische König Friedrich Wilhelm IV. sich ihn nach Berlin schicken ließ (und übrigens mit Meißener Porzellan bezahlte). Außerhalb Salzwedels dürfte das aber kaum jemand wissen oder für bedeutsam halten. Viele der Stadt-Beinamen wirken eher nach innen als nach außen. Sie stärken den Lokalpatriotismus, indem sie ihn auf einen mehr oder weniger treffenden Begriff bringen.
Oft beschwören sie glorreiche Zeiten in Handwerk oder Industrie, die zwar längst vorbei sind, aber bis heute als Quelle für den Stolz der Stadt dienen müssen. In der "Schuhstadt Pirmasens" arbeiten nicht mehr 22.000, sondern nur noch 1.200 Menschen in der Schuhindustrie.
Vielleicht sind die Auswüchse des city branding aber auch Anzeichen einer grundsätzlicheren Entwicklung. In einem Aufsehen erregendem Buch hat der Soziologe Andreas Reckwitz eine "Explosion des Besonderen" diagnostiziert. Nicht mehr nur Menschen sollen einzigartig sein, sondern Produkte, Erlebnisse und Orte ebenfalls. Einige von Reckwitz’ Sätzen lassen sich als direkter Kommentar zum city branding lesen. Er schreibt: "An die Stelle der austauschbaren Räume der klassischen Moderne sollen in der globalisierten und urbanisierten Spätmoderne nun wiedererkennbare einzelne Orte mit je eigener Atmosphäre treten, an die sich spezifische Narrationen und Erinnerungen heften. Städte und Metropolen bemühen sich entsprechend (...), eine lokale Eigenlogik zu entwickeln, die Lebensqualität und Alleinstellungsmerkmale verspricht."
Kommentare
„Viele der Stadt-Beinamen wirken eher nach innen als nach außen. Sie stärken den Lokalpatriotismus, indem sie ihn auf einen mehr oder weniger treffenden Begriff bringen.“
Ja, das mag einem Laien so vorkommen. In Wahrheit ist das manchmal verzweifelte Suchen und Konstruieren von Alleinstellungsmerkmalen dem genauen Gegenteil geschuldet. Städte, deren Haupteinahmequelle die Gewerbesteuer ist, sind darauf angewiesen, Unternehmen anzuziehen, die sich niederlassen. Neben den harten Standortfaktoren wie Infrastruktur, Netzausbau und Hebesatz besagter Steuer sind das auch kulturelle Aspekte. Schließlich sollen real existierende Menschen in die Stadt ziehen und nicht (nur) juristische Personen. Also dient das Stadtmarketing in erster Linie zur Stärkung der weichen Faktoren, auch wenn es manchmal unfreiwillig komische Ergebnisse zeitigt.
Rainald Grebe hat das Thema Stadtmarketing auch schon beackert ;)
Besser ist es auf dem Album (Das Elfenbeinkonzert), aber das habe ich bei YT nicht gefunden, daher hier ein Auszug: https://www.youtube.com/w...
Aber Rainald Grebe ist sowieso sehr zu empfehlen ...
“Urlaub in Deutschland; das Gute liegt so nah – in den Städten hängen Plaketten: ‘Goethe war hier, Goethe war da’”. Oder dieses, alles Obenstehende (irgendwie) zusammenfassende Gesamtkunstwerk:
https://www.youtube.com/w...
Ich finde Namen wie "Lutherstadt Wittenberg" echt peinlich.
Nichts gegen Stadtmarketing mit Luther, aber so plump und aufdringlich hat das schon was von Prostitution.
Außerdem wird eine ganze Stadt damit auf diese eine Person reduziert.
Was spricht konkret gegen Prostitution?
Wer prostituiert sich denn nicht im weitesten Sinne als Arbeitskraft tagtäglich?
Dass Luther ein Falott war, dem die armen, Not Leidenden Bauern sowas von wurscht waren, ändert nichts an seiner Bekanntheit. Ich find an ihm allerdings nichts besonderes.
.Jeder Mensch und jede Stadt, die versuchen besonders zu sein, werden versuchen, irgendeinem Bild von “Besonderssein” zu entsprechen.
Dadurch sind sie aber nicht besonders.
Es ist der Wunsch nach Anerkennung.
Person A zieht setzt sich einen rot-grünen Hut auf, sie will besonders sein und sie hat gehört, dass so ein Verhalten als besonders angesehen wird.
Person B sieht Person A.
„Oh, da trägt jemand einen rot-grünen Hut. Ich glaube, das gilt gesellschaftlich als besonders, diese Person muss also besonders sein!“
Es ist ein Spiel einstudierter Rollen, diese sogenannte Individualität.
Es ist nur der besonders, der den Erwartungen der Gesellschaft ans Besondere entspricht.
Aber das ist ein Gefühl aus dem Raum des Nichts.
Als einzelner Mensch kann man einfach in sich gehen und in die Dinge der Welt schauen, das ist auf Dauer erfüllender als dieses mitleidserregende, traurige Individualitätstheater mitzuspielen.
Ihr, die Ihr in Eurer schummrigem Digital-Trance dahinvegetiert:
Sperrt mal eurer Herz auf! Eure Augen! Lebt ihr denn überhaupt noch in dieser Welt?
Ist wie mit den Tätowierungen, manchmal bekommt man da mitleid.
Man sollte sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Dortmund galt mal als Bierhauptstadt der Welt.