Rassismus ordnet unser Denken und Zusammenleben. Vor einigen Wochen haben wir mit unserer Serie Alltag Rassismus versucht herauszufinden, warum das so ist, was das für die Gesellschaft bedeutet und wie sich das verändern ließe. Durch die Debatte um Mesut Özil und #metwo ist das Thema aktueller denn je. Wir wollen deshalb die wichtisten Folgen der Serie hier noch einmal zeigen.
Es gibt eine Zeichnung aus dem frühen 19. Jahrhundert, die die brasilianische Sklavin Anastácia zeigt. Um den Hals trägt sie einen Metallring wie ein Hundehalsband. Vor ihrem Mund klemmt ein Stück Blech, das von Schnüren über Wangen und Stirn zum Hinterkopf festgebunden ist. Das Blechstück führt weiter in den Mund zwischen Zunge und Kiefer. Es ist die Máscara de flandres, ein Folterinstrument: Es verhinderte, dass Sklaven essen, trinken oder miteinander sprechen konnten.
Mehr als 300 Jahre lang kam diese Maske zum Einsatz. Für die Psychoanalytikerin und Künstlerin Grada Kilomba steht die Máscara de flandres wie kein anderes Symbol für das koloniale Projekt und die Funktionsweise von Rassismus: die Macht auf der einen Seite, die Ohnmacht auf der anderen Seite, und das Schweigen dazwischen. Was hätten sich die weißen Sklavenhalter anhören müssen, wenn die schwarzen Sklaven hätten reden können?
Schuldgefühle und Scham
Heute sind die Kolonialherren weg, die Sklaven sind frei. Die Masken aber tragen sie bis heute, sagt Kilomba. Die Masken sind nur unsichtbar geworden. Bis heute sind jene, die diese Maske tragen, oft sprach- und machtlos. Weil die anderen, die ihnen die Masken aufsetzen, heute noch Angst vor ihren Worten haben. Und weil sie Schuldgefühle und Scham plagen.
Wenn Menschen mich mögen, sagen sie, sie tun es trotz meiner Farbe. Wenn sie mich nicht mögen, stellen sie heraus, sie tun es nicht wegen meiner Farbe.
Eigentlich soll es keinen Rassismus geben. Das deutsche Grundgesetz und alle anderen liberalen Verfassungen verbieten ihn. "Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus dürfen in Deutschland und auch anderswo keinen Platz haben", sagte die Bundeskanzlerin zum 25. Jahrestag des rassistisch motivierten Brandanschlags in Solingen.
Aber die Realität sieht anders aus. "Wenn Menschen mich mögen, sagen sie, sie tun es trotz meiner Farbe. Wenn sie mich nicht mögen, stellen sie heraus, sie tun es nicht wegen meiner Farbe." So beschrieb es der Theoretiker Frantz Fanon 1952, der in der früheren französischen Kolonie Martinique geboren wurde und als Schwarzer dort trotz rechtlicher Gleichstellung herablassend behandelt wurde. Und so erleben es viele auch heute, auch in Deutschland: Da ist zum Beispiel Amaniel, dessen Kollege ihm Bananen auf seinen Arbeitsplatz legte und dabei Affengeräusche machte, Burak, der viel mehr Bewerbungen schreiben muss als Bernd, oder Ismail, der länger nach einer Wohnung suchen muss als Hanna, und die Polizei kontrolliert einen Pakka häufiger ohne Anlass als einen Paul.
Rassismus ist die stille, vielleicht wirkmächtigste Ideologie der Menschheitsgeschichte. Wie konnte das passieren?
Biologisch, darüber sind sich Wissenschaftler heute einig, gibt es keine unterschiedlichen, abgrenzbaren Menschenrassen. Das sei vielmehr eine "ideologische Kopfgeburt", schreibt der Soziologe Wulf D. Hund. In die Welt gekommen mit Hilfe kolonialer Gewalt, von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts systematisiert und in den falschen Stand eines wissenschaftlich beweisbaren Fakts erhoben.
Jahrhundertelang kamen die Menschen ohne Rassismus aus. Aber das Bedürfnis, sich und die eigene Gruppe aufzuwerten, indem man andere abwertet, das gab es wohl schon immer. Das Wort für "ich" ist in vielen Sprachen identisch mit dem Wort "Mensch". Alle anderen sind in der Sprachlogik nicht mal Menschen. Und seit jeher bekämpften die Menschen einander, Sieger drängten nach Kriegen den Besiegten ihre Kultur auf oder versklavten sie. Doch wer Sieger und wer Verlierer war, darüber entschieden keine körperlichen Unterschiede. Die waren lange unwichtig.
Kommentare
"Seit jeher halten Menschen ihre eigene Gruppe für überlegen. "
Meines Erachtens ist schon dieser Satz falsch und nicht historisch falsifizierbar. Ja, man könnte sagen, dass "seit jeher sind Menschen ihrer eigenen Gruppe gegenüber loyaler als gegen andere." Aber das bedeutet nicht die Vorstellung einer "Überlegenheit". Überlegenheit ist relativ spät als Konzept entstanden. Sie ist abstrakt und kommt vom vergleichenden Verstand, der in den frühen Menschen bzw. deren Kulturen kaum eine Rolle gespielt hat. Meines Wissens ist der erste Rassismus noch keine 1000 Jahre alt und entstand in Spanien. Der historische Kontext würde hier den RAhmen sprengen.
Das kommt sogar schon in der Bibel vor - Barmherziger Samariter und so..
Rassismus ist halt ein einfacher, billiger Motivator für Zusammenhalt.
Wer gar nichts hat worauf er stolz sein kann, hat immerhin noch seine "Rasse" oder sein Geburtsland..
Man könnte auch stolz drauf sein das der Himmel blau ist.. :)
Interessanter Artikel und bemerkenswert, dass gerade in früheren vermeintlich deutlich unzivilisierteren Zeiten die Unterscheidung nach Äußerlichkeiten weniger ausgeprägt war als heute. Heute wird halt niemandem mehr was gegönnt. Schon gar nicht, wenn er nicht do aussieht wie ich.
Letztlich hat sich da seit Urzeiten nichts geändert und wenn dann genau in die andere Richtung. Hier wird eigentlich etwas ganz anderes beschrieben. Früher waren die Menschen in ihrer Gewalttätigkeit direkter.
Was sich geändert hat ist wohl vielmehr, dass viele Menschen der Hollywood Rezeption von Geschichte folgen.
Ich denke, dass Rassismus auch aus einer ganz anderen Ecke herkommt. Vom Denken in Gut und Böse, bzw. dass man selbst der "Gute" wäre. Die Menschen sahen sich schon immer gerne als die Guten, die von "Gott auserwählten" und damit alle anderen als die Bösen an. Dadurch erhebt man sich über die Anderen und glaubt man wäre etwas besseres. Natürlich sieht man im Fremden, in Unbekannten immer das Böse. Aber es ist die Frage, ob die Religionen z. B. diesen Rassismus geschaffen haben, oder ob sie aus diesem Denken heraus entstanden sind. Denn fast alle Religionen behaupten ja, die einzig wahr zu sein und glauben anschließend, den Ungläubigen bekämpfen zu dürfen. Aber zu glauben, man wäre der "Gute", ist nichts anderes als Rassismus.
"Aber es ist die Frage, ob die Religionen z. B. diesen Rassismus geschaffen haben"
Wenn Sie den Rassismus auf die Unterteilung in Gut und Böse zurückführen, stellt sich diese Frage eben gerade nicht. Dann ist die Schlussfolgerung zwangsläufig.
Schöne Zusammenfassung, die die wichtigsten Punkte im Großen und Ganzen zusammenbringt.
Ein essentieller Punkt allerdings fehlt, den es braucht, um die Attraktivität rassistischer Denkmuster zu verstehen:
Sie bieten eine leichte Welterklärung an. Es ist deutlich leichter Dinge über rassistische Muster zu erklären, als über komplexe Zusammenhänge.
Und das gilt nicht nur für den Rassismus, sondern trifft auch auf Klassismus und Sexismus zu.
Außerdem wurde ganz geschickt das Kapitel "Kapitalismus und Rassismus" gewissermaßen überspielt. Es fehlt, wie der Kapitalismus rassistische Denkmuster (re)produziert.
Es fehlt, wie der Kapitalismus rassistische Denkmuster (re)produziert.
Mich würde interessieren, ob und wie das in nichtkapitalistischen Gesellschaften anders ist. Anetta Kahane schreibt heute in der taz über die DDR, dass in dieser der Rassismus blühte - das ganze Gerede von der "Völkerfreundschaft" sei nämlich letztlich nur Ethnopluralismus gewesen. Und dass es in der DDR Rassismus gab (und ganz ohne "kapitalistische Reproduktion!") und zwar ohne viel öffentliche Auseinandersetzung (mangels Öffentlichkeit und natürlich, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte) ist völlig unabweisbar.