Ein deutlicher Anstieg antisemitischer Übergriffe alarmiert Frankreich: Das Innenministerium verzeichnete im vergangenen Jahr 541 Fälle – ein Anstieg um 74 Prozent im Vergleich zu 2017. Frankreich ist hinter Israel und den USA das Land mit der drittgrößten jüdischen Bevölkerung. "Der Antisemitismus breitet sich wie ein Gift aus", sagte Frankreichs Innenminister Christophe Castaner.
Er nahm auch Bezug auf Vorfälle vom vergangenen Wochenende. Auf das Schaufenster einer Bagel-Bäckerei im Zentrum von Paris sprühten Unbekannte auf Deutsch das Wort "Juden". Ein Straßenkunstwerk mit einem Porträt der verstorbenen früheren Ministerin und Holocaust-Überlebenden Simone Veil wurde im 13. Stadtbezirk mit einem Hakenkreuz übermalt. In einem Pariser Vorort wurden zwei Bäume gefällt, die vor 13 Jahren zu Ehren eines ermordeten jüdischen Mannes gepflanzt worden waren. "Wir werden noch größere, noch schönere Bäume pflanzen", sagte Innenminister Castaner.
Regierungssprecher Benjamin Griveaux machte die Protestbewegung der Gelbwesten mit für den Anstieg der Übergriffe verantwortlich. Am Rande ihrer Kundgebungen tauchten oft "absolut inakzeptable antisemitische Schmierereien" auf, sagte er.
In den Jahren 2016 und 2017 war die Zahl der Antisemitismus-Fälle in Frankreich jeweils noch zurückgegangen. Die Zahl der Vorfälle mit rassistischem und ausländerfeindlichem Hintergrund sank laut Innenministerium auch im vergangenen Jahr um gut vier Prozent auf 496. Es wurden 100 antimuslimische Handlungen registriert – das sei der niedrigste Stand seit 2010. Die Zahl antichristlicher Fälle blieb mit 1.063 im Jahresvergleich nahezu unverändert.
2015 war ein vorläufiger Höhepunkt
Der jüdische Dachverband (Crif) forderte am Dienstag, dass ein Ruck durch die französische Gesellschaft gehen müsse, denn der Hass sei in ihr inzwischen tief verankert. Die Zahlen spiegelten nur teilweise den "alltäglichen Antisemitismus" wider, mit dem viele Gemeindemitglieder konfrontiert seien, erklärte Crif-Präsident Francis Kalifat. Für landesweite Empörung sorgte im vergangenen Jahr die Ermordung der 85-jährigen Jüdin Mireille Knoll. Ihre Leiche wurde in ihrer Pariser Sozialwohnung gefunden. Tatverdächtig ist unter anderem ein muslimischer Nachbar, dem die Ermittler Antisemitismus vorwerfen.
Einflussreiche Politiker, Künstler und Intellektuelle kritisierten daraufhin in einem Manifest eine "lautlose ethnische Säuberung", die auf eine "islamistische Radikalisierung" zurückzuführen sei. In Frankreich leben schätzungsweise vier bis fünf Millionen Muslime, so viele wie in keinem anderen Land der EU. Die Zahl der Juden wird auf gut eine halbe Million geschätzt.
Einen vorläufigen Höhepunkt hatten die antisemitischen Übergriffe im Jahr 2015 mit 429 Fällen erreicht. Dazu zählten vier Menschen, die im Januar 2015 bei einer islamistischen Geiselnahme in dem Pariser Supermarkt Hyper Casher getötet wurden. In den beiden Folgejahren sank die Zahl der Übergriffe zunächst, 2017 wurden 311 Fälle registriert.
Schmähungen gegen Macron
Innenminister Castaner kündigte nun ein hartes Vorgehen gegen Antisemitismus an. Er äußerte sich bei einer Gedenkzeremonie im Pariser Vorort Sainte-Geneviève-des-Bois. Dort war der Jude Ilan Halimi 2006 verschleppt und drei Wochen lang von jungen Muslimen aus seiner Nachbarschaft gefoltert worden. Der 23-Jährige starb, während er in ein Krankenhaus gebracht wurde.
Auch antisemitische Schmähungen gegen Präsident Emmanuel Macron tauchten auf. Auf einem Garagentor im Zentrum der Hauptstadt wurde Macron als "Judenhure" bezeichnet. Eine ähnliche Inschrift wurde am Sitz der Zeitung Le Monde in einem Außenbezirk gefunden. Der Präsident arbeitete früher als Investmentbanker bei Rothschild.
Der Antisemitismus-Beauftragte der französischen Regierung, Frédéric Potier, kündigte juristische Schritte an. Er warnte davor, dass sich "der Hass auf Juden mit dem Hass auf die Demokratie paart". Potier und der deutsche Antisemitismus-Beauftragte Felix Klein hatten im Dezember bei einem Treffen in Paris eine enge Zusammenarbeit und eine Initiative auf EU-Ebene vereinbart.
Kommentare
Henryk M. Broder hat es wieder einmal genau auf den Punt gebracht :
Der Antisemitismus ist immer Vorbote eines größeren Unheils.
Und das trifft nicht nur auf Frankreich zu.
Broder sagt aber auch klipp und klar, aus welcher Ecke dieser Antisemitismus heraus grassiert.
"Einflussreiche Politiker, Künstler und Intellektuelle kritisierten daraufhin in einem Manifest eine "lautlose ethnische Säuberung", die auf eine "islamistische Radikalisierung" zurückzuführen sei."
Hat man hier nicht Le Pen Père übersehen, der es ja prinzipiell nicht für nötig hielt, mit seinen antisemitischen Meinung hinterm Berg zu halten? Was er sicher getan hätte, wenn er nicht davon ausgegangen wäre, dass diese Meinungen in einem bestimmten Ausmaß konsensfähig sind. Vom wenig bis nicht aufgearbeiteten Antisemitismus des Vichy-Regimes und der Zeit vorher gar nicht zu reden. Dieses Manifest erscheint mir doch ein recht durchsichtiger Versuch zu sein, einen Sündenbock für die Sünden der Vergangenheit zu identifizieren.
Und bevor sich jemand aufregt: Natürlich gibt es antisemitische Moslems. Intellektueller Infantilismus ist bekanntlich nicht von der Religion abhängig.
Es regt sich vermutlich kaum jemand auf. Vermutlich wird sich noch nicht einmal irgendjemand großartig über Ihre Aussagen wundern, die typisch für Apologeten, Relativierer und Leugner Ihrer Provenienz sind.
Da Ihr Benutzernahme "Zahlen helfen" ist, möchten Sie vielleicht quantifizieren und qualifizieren, welcher Teil der antisemischen Übergriffe indigener, französischer Nationalisten zuzurechnen ist?
Nein, das möchten Sie nicht?
Natürlich nicht!
Es ist eine Frage des moralischen Horizonts ob jemand Mitleid empfinden kann.
Mitgefühl ist ein schmerzliches Gefühl, das man selbst empfindet, weil jemand anderes einen unverdientes Leid widerfährt.
Kann man Mitgefühl lernen? (Martha Nussbaum) Offenbar haben nur wenige Menschen von Natur aus Mitgefühl, denn dazu gehört ein gewisser moralischer Horizont, die Fähigkeit sich in jemanden hineinzuversetzen zum Beispiel. Es ist eine Frage der Kultur, man kann Mitgefühl durchaus entwickeln. Durch Narration, Filme, Bücher und auch im menschlichen Umgang.
Ich begreife Antisemitismus nicht. Er ist dumm und stupide, primitiv.
Ihre Äußerungen greifen ebenfalls im Bezug auf die im Artikel angeführten Delikte im Bereich der anderen Religionen - Antisemitismus ist nicht schlimmer als Christenfeindlichkeit oder Islamfeindlichkeit.
Wenn ich mir die Zahlen ansehe, stellt sich mir aber eine andere Frage, wie es sein kann, dass sich die am meisten dominierende Religion solch massiven Angriffen ausgesetzt sieht? - wo sie doch die Mehrheitsgesellschaft stellt.
"Regierungssprecher Benjamin Griveaux machte die Protestbewegung der Gelbwesten mit für den Anstieg der Übergriffe verantwortlich. Am Rande ihrer Kundgebungen tauchten oft "absolut inakzeptable antisemitische Schmierereien" auf, sagte er."
Nun ja, da die sich die Gelbwesten an der Regierung abarbeiten ist ein derartiges Statement zur Zeit nicht überraschend. Nur ist diese Bewegung ja recht neu, und somit wohl kaum für den beschriebenen Anstieg der Straftaten in 2018 verantwortlich.
Die erwähnten Morde sind wie der Artikel ja auch suggeriert, dem moslemischen Antisemitismus zuzuschreiben.
Dazu Le Monde von heute:
u-delà de l’antisémitisme islamiste, nous assistons à la résurgence d’une extrême droite identitaire virulente qui n’hésite plus à passer à l’acte.
Neben dem islamistischen Antisemitismus erleben wir das Wiederaufleben einer virulenten rechtsextremen Identität, die nicht länger zögert zu handeln.