Ein SOS-Kinderdorf soll mehr sein als Unterbringung: Es soll Kindern, die nicht mehr bei ihren Eltern leben können, eine neue Familie geben, bis sie auf eigenen Füßen stehen. Das gilt nicht nur in Krisengebieten, sondern auch in deutschen Großstädten – mitten in Hamburg zum Beispiel. Am Mittwoch wurde der Grundstein für ein SOS-Kinderdorf im Stadtteil Dulsberg gelegt. Hier wachsen viele Kinder unter schweren Bedingungen auf. Und hier soll im Frühjahr 2021 das SOS-Kinderdorf seine Türen öffnen. Wie dort neue Familien wachsen sollen und was die Arbeit in der Einrichtung den Ersatzmüttern und -vätern abverlangt, erklärt Torsten Rebbe, Leiter von SOS-Kinderdorf Hamburg.
ZEIT ONLINE: Die meisten kennen SOS-Kinderdorf als Krisenhelfer in Ländern, wo viele Kinder ihre Eltern verloren haben. Wieso brauchen wir nun auch eins mitten in Hamburg?
Torsten Rebbe: In erster Linie wollen wir Familien stärken. Deshalb hat unser SOS-Kinderdorf einen öffentlichen Teil, wo Eltern Rat für das Familienleben finden, auch wenn in den Familien nichts Schlimmes passiert ist. Zum anderen kümmern wir uns um Kinder, die nicht mehr in ihrer Familie leben können, weil ihnen dort Gefahr an Leib und Leben droht. Die brauchen dann woanders ein neues Zuhause. Dafür ist der Wohnteil des SOS-Kinderdorfs gedacht.
ZEIT ONLINE: Oft kommen Kinder, die in ihrem Elternhaus nicht sicher sind, zu Pflegefamilien. Was machen Sie anders?
Rebbe: Pflegeeltern sind in der Regel Laien, die angebunden sind ans Jugendamt, aber nicht per se eine Ausbildung haben. Unsere Kinderdorf-Mütter und -Väter haben mindestens eine Erzieherausbildung. Und, was ganz wichtig ist: Sie haben eine Institution drumherum. Da sind die Mitarbeiter der ambulanten Hilfen, die die Elternarbeit übernehmen können. Da sind Kolleginnen und Kollegen, die Rat geben. Im Kinderdorf leben mehrere Familien unter einem Dach, die unterstützen sich gegenseitig. Dieses Netzwerk und die Professionalisierung unterscheidet die Kinderdorf-Familien von den Pflegefamilien.
ZEIT ONLINE: In welchen Situationen werden diese Netzwerke wichtig?
Rebbe: Wenn etwa die leibliche Mutter des von uns betreuten Kindes psychisch erkrankt ist, dann kann es – je nachdem, wie ausgeprägt die Erkrankung ist – nötig sein, sie von ihren Kindern fern zu halten. Sonst macht sie schon durch ihre Anwesenheit alle verrückt. Natürlich soll die Mutter soziale Kontakte zu ihren Kindern pflegen können, aber in solchen Fällen ist eine Begleitung wichtig. Man muss sozusagen eine Firewall um die Kinder herum aufbauen. In solchen Situationen sind Pflegeeltern in der Regel auf sich allein gestellt.
ZEIT ONLINE: Das heißt, im Kinderdorf sind die Kinder womöglich besser aufgehoben?
Rebbe: Wir machen nichts besser als alle anderen. Wir machen es nur anders. Uns geht es um die Frage: Wie lässt sich ein Familiengefühl künstlich herstellen? Da haben wir ein Konzept, das seit 70 Jahren in der ganzen Welt erprobt wird.
ZEIT ONLINE: Wie schafft man denn eine künstliche Familie?
Rebbe: Familie konstituiert sich über Rituale: dass man zusammen isst, Ausflüge macht, Zeit miteinander verbringt. Man weint zusammen, man lacht zusammen – das macht Familie aus. Rituale allein bringen natürlich nichts, wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist. Deswegen ist die Kinderdorf-Mutter oder der Kinderdorf-Vater entscheidend. Diese Person muss vor allem eine Riesenportion Liebe mitbringen – und auch ein gutes Verständnis für den Leidensweg, den die Kinder in der Regel hinter sich haben.
ZEIT ONLINE: Was bedeutet das für den Berufsalltag der SOS-Kinderdorf-Eltern?
Rebbe: Für sie gibt es keine Trennung zwischen Privatleben und Beruf. Sie verpflichten sich für etwa zehn bis 15 Jahre, eine Familie mit sechs Jungen und Mädchen großzuziehen. Während dieser Zeit ist das Kinderdorf ihr Lebensmittelpunkt. Sie wohnen hier mit den Kindern zusammen, helfen bei den Hausaufgaben, fahren sie zum Arzt – wie in einer Familie eben. Nicht selten werden sie auch Mama oder Papa genannt.
ZEIT ONLINE: Welche Situationen bringen SOS-Kinderdorf-Eltern Ihrer Erfahrung nach an ihre Grenzen?
Rebbe: Wenn beispielsweise Kinder ihre Wut und Trauer aufgrund bisheriger schlechter Beziehungserfahrungen an ihnen auslassen. Das ist dann schon schwierig auszuhalten. Supervision und die kollegiale Unterstützung helfen hier, zu unterscheiden: Was hat wirklich mit mir zu tun und was nicht? Denn eigentlich gilt die Wut ja jemand anderem.
ZEIT ONLINE: Haben Sie schon Menschen gefunden, die sich den Job zutrauen?
Rebbe: Ja, zwei von drei Stellen für das Kinderdorf in Dulsberg haben wir schon besetzt. Das ist ein großes Glück, denn es gibt nicht viele Menschen, die diese riesige Verantwortung als Gewinn erleben. Wenn man sich auf dieses Abenteuer einlässt, dann ist das eben auch eine moralische Verpflichtung.
Kommentare
Das klingt sehr vernünftig. Ich wünsche den Kindern und den neuen Eltern gutes Gelingen!
Da braucht es schon ein Mutter-Theresa-Gen, sich auf so etwas einzulassen. Will nicht bezweifeln, das es derartig selbstlose Menschen gibt, doch ich bezweifle ein wenig, ob die beiden gefundenen Kandidaten das wirklich durchhalten werden. Schauen wir mal in 5 Jahren oder so ...
Meinen Sie nicht, dass 70 Jahre Erfahrung eine tragfähige Aussage sind?
'Im Jahr 2018 konnten wir......
fast 31.000 Jugendlichen eine Berufs- oder Weiterbildung ermöglichen....
über 97.000 Familien weltweit mit Kinderbetreuung, Weiterbildungen, Schulgeld oder Mikrokrediten unterstützen....
rund 25.000 Kinder in Kindergärten betreuen....
in 185 Schulen weltweit über 100.000 Kinder und Jugendliche unterrichten...'
https://www.sos-kinderdoerfe…
Ich verstehe diese Neigung nicht, gute Projekte schlecht zu reden.
Also ich unterstütze sie schon ca. 30 Jahre - und meine Erben sind sie auch.
Es gibt nichts besseres, als die Kinder dieser Welt zu fördern, damit sie die Zukunft der Erde gestalten und nicht weiter ruinieren.
Sie beziehen sich auf SOS-Kinderdörfer in anderen Ländern. Ich mich auf das Projekt in Hamburg. Ich habe eben meine Zweifel, dass man es als Erzieher unter den genannten Anforderungen dort 20 Jahre durchhält. Vielleicht, wenn man nur noch 20 Jahre bis zur Rente und das Thema eigene Familie bereits abgehakt hat. Wie dem auch sei ... ich habe meine Zweifel, wünsche dem Projekt aber ein gutes Gelingen!
Aus dem Text:
'Sie verpflichten sich für etwa zehn bis 15 Jahre, eine Familie mit sechs Jungen und Mädchen großzuziehen. '
Mir schien auch, als wären die Bedingungen dort etwas leichter als die für freiberufliche Pflegeeltern. Was letztlich den Kindern zugute kommt.
Wie du vielleicht gelesen hast, sind es im SOS Kinderdorf Menschen mit professionellen pädagogischen Hintergrund, die dort als Pflegeeltern agieren.
Auch sonst leisten Pflegeeltern in Deutschland großartiges! Und ich denke, dass "Mutter-Theresa-Gen" finden sie bei wahrscheinlich niemandem. Familien und Einzelpersonen haben gute Gründe für Engagement als Pflegepersonen. Und diese gehören gewertschätzt! Von allen!
"Da braucht es schon ein Mutter-Theresa-Gen, sich auf so etwas einzulassen."
So in etwa war es von Hermann Gmeiner ja auch gedacht. Die SOS-Mutter kommt als Jungfrau zu vielen Kindern, gelobt ewige Keuschheit und wird in ihrer reinen Verpflichtung geheiligt. Eine Übermutter-Rolle, ähnlich aufgeblasen wie mit reaktionär-katholischen Elementen überfrachtet. Sie verliert sich vollkommen abgeschottet in ihren Auftragskindern, während der immer männliche Dorfvorsteher die Kontakte nach außen hält und auch mal den Beichtvater spielt.
Tatsächlich ist es nicht so lange her, dass es SOS-Kinderdorf-Väter geben kann. Oder verheirate SOS-Mütter. Oder welche mit biologisch eigenen Kindern. Oder auch nur solche, denen freie Tage und ein "Restleben" jenseits der Dorfmauer zustehen.
Wie es diese an Pietismus kaum zu überbietende "Familienkonzeption" geschafft hat, selbst in einer aufgeklärten und zunehmend religionskritischen Gesellschaft, fast nur positiv rezipiert zu werden, ist mir ein Rätsel.
"Wie du vielleicht gelesen hast, sind es im SOS Kinderdorf Menschen mit professionellen pädagogischen Hintergrund, die dort als Pflegeeltern agieren."
Die Ausfallquote in der Heimerziehung ist sehr hoch. Und das trotz der Tatsache, dass die Mitarbeiter einen professionellen pädagogischen Hintergrund haben.
Ist schlicht ein emotionaler Knochenjob.
"Und diese gehören gewertschätzt! Von allen!"
Richtig.
Lesen Sie doch mal Berichte über bereits existierende SOS-Kinderdörfer. Davon gibt es auch in Deutschland genug, die seit Jahrzehnten existieren. Da werden Sie sehen, dass die meisten es tatsächlich 10 Jahre und oft deutlich länger durchhalten.
„reaktionär-katholischen Elementen (...) diese an Pietismus kaum zu überbietende“
Den Widerspruch erkennen Sie? Oder haben Sie die Wortbedeutungen noch nicht nachgeschlagen? Da haben Sie sich in Ihrem antireligiösen Furor anscheinend ein wenig vergaloppiert.
„Sie beziehen sich auf SOS-Kinderdörfer in anderen Ländern. Ich mich auf das Projekt in Hamburg.“
Und wo genau soll jetzt der Unterschied liegen?
"Den Widerspruch erkennen Sie? Oder haben Sie die Wortbedeutungen noch nicht nachgeschlagen? Da haben Sie sich in Ihrem antireligiösen Furor anscheinend ein wenig vergaloppiert."
Mir ist bekannt, dass der Pietismus eine protestantische Glaubensausprägung darstellt. Dennoch kann auch ein Katholik wie Gmeiner starke pietistische Tendenzen aufweisen. Ob es gleich "antireligiöser Furor" sein muss, wenn man seine Verwunderung darüber ausspricht, dass die Frömmelei der SOS-Kinderdörfer so gut ankam, ist eine andere Frage.
Wir selbst, (meine Frau und ich) Sozialarbeiter waren über 10 Jahre in einer Familiengruppe mit 6 Kindern tätig, s. h. wohnten mit Ihnen zusammen.
Ich sehe folgende Problempunkte:
- Dauerbelastung, kaum noch eigens Leben
- nur wer sich voll darauf einlassen will, psychisch stabil ist und auch pädagogische Erfahrung hat, ist geeignet
- die eigenen Probleme z. B. unerfüllter Kinderwunsch spielen heftig in den Alltag mit hinein.
- Konkurrenz: eigene - Pflegekinder
- diese Kinder , zumindest in Deutschland sind verhaltensauffällig auf Grund schwerer Tramata.: viele und heftige Konflikte -
- besonders das Verhältnis der leiblichen zur SOS Mutter birgt viel Konfliktstoff: " die will mir mein Kind wegnehmen" - wenn dann noch die Grenzen schwammig sind wird die leibliche Mutter oft mitreden wollen und das Kind gerät in einen Loyalitätskonflikt: egal, was vorher Schlimmes passiert ist, das Kind wird sich immer für die leiblichen Eltern entscheiden. Arbeitet man gegen die leiblichen Eltern ( die ja vorher oft massiv kindliche Bedürfnisse missachteten) hat man als Ersatzeltern das Kind verloren
kurz: es bedarf viel Fingerspitzengefühl - hohe Proffessionalität
auch ist nicht jedes Kind geeignet für so ein Projekt: ein Kind etwa, das selbst sexuell übergriffig wurde - es war eine brutale Machtdemonstration, eine Wiederholung aus der Herkunftsfamilie - musste unsere Familiengruppe verlassen... dann kommt wegen eines unbesetzten Platzes noch ein Finanzierungsdruck dazu
K Klammer
Kritik der SOS Dörfer
Ihre Worte und Sichtweise sind abfällig und massiv, aber die Grundproblematik der SOS Kinderdörfer und ihre problematische Tradition haben Sie durchaus treffend dargestellt
"Verwunderung" ist ja ein schöner Euphemismus an der Stelle...
". Die SOS-Mutter kommt als Jungfrau zu vielen Kindern, gelobt ewige Keuschheit und wird in ihrer reinen Verpflichtung geheiligt. Eine Übermutter-Rolle, ähnlich aufgeblasen wie mit reaktionär-katholischen Elementen überfrachtet. Sie verliert sich vollkommen abgeschottet in ihren Auftragskindern, während der immer männliche Dorfvorsteher die Kontakte nach außen hält und auch mal den Beichtvater spielt."
Von wem reden Sie eigentlich? Mal gucken? SOS-Kinderdörfer weltweit
https://www.sos-kinderdoerfe…
Und was wundert uns jetzt?
Dass in den Kinderdörfern diejenigen leben, die kein Zuhause hatten oder dort geschädigt wurden.
Ja Teufel auch... Da wären wir nie drauf gekommen.
Doch, das gibt es tatsächlich, wie z. B. diese sehenswerte Reportage zeigt:
https://www.daserste.de/info…
nimue14
Ich könnte ein Buch über Heimerziehung, speziell Familiengruppen schreiben, aber lesen Sie meinen Beitrag vielleicht auch mal durch ...
Ich habe Ihren Beitrag gelesen und wollte mich aus Höflichkeit nicht näher äußern.
Wenn man sich mehrere Problem gleichzeitig aufhalst, wie Sie von sich berichten, ist das kein Problem der Organisation. Darunter dürfte die psychische Belastbarkeit, die Sie völlig richtig als Voraussetzung anführen, doch ziemlich leiden.
Ich muss Ihnen da widersprechen. 1982, Isny im Allgäu, Kinderdorf mit verheirateten Eltern, eigenes Kind. Erst informieren, dann meckern.
Das Interview lässt mich etwas verwirrt zurück: mein Bruder und meine Schwägerin betreuen in Hamburg seit etwa fünf Jahren fünf bis sechs Kinder im sogenannten familienanalogen Wohnen, d.h. Kinder, die aus den im Interview genannten Gründen nicht bei ihren Eltern wohnen können. Das Ganze wird finanziert über einen Träger, der wiederum vom Jugendamt finanziert wird. Dort wird nichts „anders“ gemacht als von Herrn Rebbe beschrieben, die Betreuer sind ebenfalls ausgebildete Erzieher oder mehr, die Kinder leben in einer Familie, es gibt Supervisionen und monatliche Berichte, etc etc. Das Einzige, was im SOS-Kinderdorf offenbar anders gemacht wird, ist das Betreuungsverhältnis von 3 Erziehern zu 18 Kindern anstatt 2 zu 5, wie in den staatlichen Einrichtungen. Warum dieser einzige wirkliche Unterschied besser sein soll, erschließt sich mir nicht.
„Warum dieser einzige wirkliche Unterschied besser sein soll, erschließt sich mir nicht.“
Die Darstellung des Herrn Rebbe hat mich ebenfalls irritiert. Seine Arbeit wird doch nicht weniger wert, wenn er darauf verzichtet, andere Konzepte als die schlechtere Alternative darzustellen.
Und natürlich gibt es auch für Pflegefamilien (ich kenne das aus der familiären Bereitschaftspflege) Supervisionen, institutionelle Unterstützung, begleitete Besuchskontakte und vieles mehr. Dass Pflegeeltern „in der Regel auf sich allein gestellt“ sein sollen, kann ich aus meiner Erfahrung heraus ganz und gar nicht bestätigen.
Es sind unterschiedliche Konzepte mit ihren je eigenen Vor- und Nachteilen. Gebraucht werden sie alle.
Eine psychisch kranke Mutter mag anstrengend sein, aber sie kann ja auch bei entsprechender Therapie gesunden. Es klang im Bericht so als sei eine psychische Erkrankung im Vergleich zur körperlichen nicht heilbar. Dies würde ein professioneller Arzt so niemals äußern. Es kann ja ein vorübergehender Schutz vor der Mutter gemeint gewesen sein, aber ich wollte das dringend ergänzen.
Denn psychisch Kranke werden oftmals stigmatisiert, was in der Nazizeit zur Euthanasie führte.
Da nahezu jeder 3. Erwachsene im Alter zwischen 18 und 75 Jahren im Laufe seines Lebens von einer psychischen Krankheit betroffen ist, sollte man diese nicht anders behandeln als andere Erkrankungen.
Zustimmung zwar, es gibt jedoch auch chronifizierte körperliche Erkrankungen, wie es chronifizierte psychische Erkrankungen gibt.
Es gibt zudem körperliche und psychische Krankheiten, die sich als nicht heilbar erweisen.
Sogenannte Persönlichkeitsstörungen zählen z. B. auch zu den psychischen Erkrankungen, doch meist sind diese im engeren Sinn nicht heilbar.