ZEIT ONLINE: Herr Hien, in den vergangenen Jahren hat die Zahl der Krankschreibungen abgenommen, jedoch sind die Ausfälle aufgrund von psychischen Störungen in den vergangenen Jahren um 20 Prozent gestiegen. Sind Depressionen und Burn-out in der modernen Arbeitsgesellschaft das, was körperlicher Verschleiß früher einmal war?
Wolfgang Hien: Es hat eine Schwerpuntkverlagerung stattgefunden. Jede dritte Frühberentung erfolgt aufgrund von psychischer Erkrankung. Die Arbeitswelt ist ungesund: Druck, Stress, enger Handlungsspielraum, Unsicherheit und Angst nehmen drastisch zu. Es ist wissenschaftlich gut untersucht, dass aus der Kombination von ungünstigen Faktoren der Arbeitssituation und ungünstigen Personenvariablen psychische Erkrankungen wie Depressionen und Burn-out entstehen können. Das führt zu immensen wirtschaftlichen Kosten. Der Bundesverband der Betriebskrankenkassen hat untersucht, dass durch die ungesunden Arbeitsbedingungen im Jahr ein Schaden von 50 bis 100 Millionen Euro entsteht. Von dem Leid des Einzelnen einmal ganz abgesehen.
ZEIT ONLINE: Welche Faktoren müssen zusammenkommen, damit ein Mensch durch seine Arbeit krank wird?
Hien: Psychische Erkrankungen entstehen durch eine Entfremdung und sind nie auf eine monokausale Ursachen zurückzuführen. Wichtig für das Wohlergehen ist, welcher Handlungsspielraum die Arbeit dem Menschen lässt. Wenn jemand einen sehr engen Handlungsspielraum hat, führt das dazu, dass er in einen Prozess der Hilflosigkeit gerät, an dessen Ende eine Depression stehen kann. Der Mensch glaubt nicht mehr, dass er sein Leben kontrollieren und er über seine Belastungen und Leiden vermindern oder bewältigen kann, selbst dann nicht mehr, wenn sich Handlungschancen auftun.
ZEIT ONLINE: Was ist denn ein enger Handlungsspielraum?
Hien: Die klassische Definition orientiert sich an Akkord- und Fließbandarbeit. Der Mensch muss fest vorgegebene Stückzahlen produzieren oder ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge unter hohem Zeitdruck verrichten. Ebenso eng kann der Handlungsspielraum sein, wenn man morgens einen Arbeitsauftrag erhält mit einer sehr knappen Deadline – und der Weg dahin völlig unklar ist, die Zeit- und die Sachressourcen aber fehlen. Kommen dann noch strenge Hierarchien, starke Kontrolle, wenig Mitspracherecht, hohe Arbeitsplatzunsicherheit und viel Kritik, aber wenig Lob hinzu, können solche Arbeitsbedingungen ebenso psychisch krank machen.
ZEIT ONLINE: Woran erkennt man, dass ein Kollege oder Mitarbeiter psychisch erkrankt?
Kommentare
Endlich...
...sagt mal einer laut: "es geht darum, dass wir wieder lernen müssen, aufrecht zu gehen"!
Das System ist krank
Solange die Forderung nach Menschenrechten und einem System das dem Menschen dient von den Medien als pathetisch bezeichnet wird, brauchen wir keine weitere Diskussion über eine etwaige Zukunftsfähigkeit Deutschlands führen.
Auch in diesem Artikel wird, so wie zzt. allgemein üblich, auf eine Systemkritik - ähnlich wie in der Finanzkrise - mit TINA (There is no alternative) geantwortet bzw. sofort das Totschlagargument eines gescheiterten Sozialismus/ Kommunismus auf den Tisch gebracht.
Es gibt längst eine Reihe sinnvoller Ansätze abseits solcher Ideologien. Sie dienen allerdings nicht ausschließlich der Renditemaximierung und werden daher über die Massenmedien kaum verbreitet.
Der beschriebene kranke Arbeitnehmer ist nur eines der Symptome, aber nicht die Ursache des Problems.
Blau-Auge
Aufstehen, Rückrat zeigen.
Nichts leichter als das. Leider zeigen uns wissenschaftliche Befunde anderes. Aufstehen, das machen immer nur ganz wenige, die meisten passen sich an. Sie machen mit, ruinieren lieber sich selbst und stiften Schaden, als für sich einzutreten, aufrecht gehen zu lernen.
Diese Appelle sind sinnlos und wohlfeil. Den aufrchten Gang durch die Institution wollte schon einmal eine Generation antreten. Aber sie waren es die sich veränderten, zu Bettvorlegern wurden. Die Institution war stärker.
Deswegen ist die Aufgabe anspruchsvoller: Welche strukturellen Änderungen muss es geben, dem Menschen ein menschenwürdiges Arbeiten zu ermöglichen. Institutionelle Wirtschaftsethik ist ein wirklich schwieriges Unterfangen. Die Werteforschung von Prof. Wieland zeigt dies. Das sind komplexe Prozesse, die eine Verhaltensänderung ermglichen und nicht so ein einfacher Aufruf.
"Von dem Leid des Einzelnen einmal ganz abgesehen."
sagt Herr Hien.
Dieser Satz, der so oder so ähnlich oft fällt, zeigt, wie kaputt und pervers unsere Welt ist.
Er zeigt ganz und gar unmissverständlich, dass es in dieser Welt nur um das Geld (natürlich der Reichen) geht, und nicht um das Wohl und das Glück der (mehr oder weniger armen) Menschen.
Und das wird immer schlimmer. Die neu gewählte Regierung wird dafür sorgen, allen anderslautenden Lügen zum Trotz.