Meine Bildungskarriere war vorbildlich: Arbeiterkind aus dem Osten, nach dualer Berufsausbildung und Arbeitsleben das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt, sozial engagiert, stiftungsgefördert. Ich lebe das, was man sich für viele wünscht: den Aufstieg aus einer Arbeiterfamilie in den Kreis der akademisch gebildeten Menschen – soziale Durchlässigkeit im Bildungssystem.
Medien, Politik, Gesellschaft – immer wieder wird vermittelt, es sei besser, das Abitur zu machen und dann zu studieren. Ein Studium schütze vor Arbeitslosigkeit. Es biete Arbeitsplatzsicherheit, bessere Verdienstmöglichkeiten und beuge dem
Fachkräftemangel vor. Seit Jahren steigt die Zahl der Abiturienten wie die der Studierenden und Hochschulabsolventen. Doch im Bildungsmantra wird vergessen: Auch in Ausbildungsberufen werden
Fachkräfte geschmiedet, die ein gutes Leben führen und auf dem Arbeitsmarkt benötigt werden. Schließlich sind Verkäufer, Friseure, medizinische
Fachangestellte, Elektriker, Tischler, Bäcker und viele andere das Fundament
der deutschen Wirtschaft. Und vielerorts fehlt es an Fachkräften in diesen Berufen.
Auch ich gehörte dazu. Als ausgebildeter IT-Systemelektroniker führte ich nach meiner Ausbildung ein entspanntes Leben mit einem anspruchsvollen Job. Als Berufsanfänger mit fast 20 Jahren verdiente ich gut anderthalbtausend Euro netto im Monat. Täglich fiel um halb vier die Bürotür ins Schloss. Das Verhältnis von
Arbeit und übrigem Leben stimmte.
Dann bot man mir an, vom Servicetechniker zur Führungskraft zu werden. Dazu hätte ich in die Unternehmenszentrale nach Frankfurt am Main gemusst. Meinen Lebensmittelpunkt für die Karriere nach Frankfurt zu verlegen, kam für mich aber nicht infrage. Stattdessen entschied ich mich, das Abitur nachzuholen und zu studieren. Mich lockte die Aussicht auf ein höheres Gehalt und noch bessere Jobs. Als Akademiker würde ich sicher nie arbeitslos werden, glaubte ich. Dabei hatte ich als Jugendbetriebsrat eh Kündigungsschutz.
Ich kündigte meine sichere Arbeitsstelle und besuchte drei Jahre lang das
Leipzig-Kolleg – laut Selbstbeschreibung "die erste Adresse für den zweiten
Versuch." In dem Institut für Erwachsenenbildung holte mein
Abitur nach – monatlich mit fast 600 Euro vom Staat rückzahlungsfrei finanziert. 2014 nahm ich mein Ingenieursstudium an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in
Leipzig (HTWK) auf. Doch angekommen unter den Akademikern stelle ich fest: Eine Garantie für eine sorglose Erwerbslaufbahn ist ein Studium nicht.
Ein Teil meiner Freunde ist mehr oder weniger fertig mit dem Studium. Nur wenige haben schnell einen Job gefunden. Die meisten anderen – vor allem die medienaffinen und geisteswissenschaftlich ausgebildeten – haben seit Jahren befristete Anstellungen, die kaum mehr Geld bringen als ihr BAföG in den Jahren davor. Und das müssen sie ja auch noch zurückzahlen. Viele haben Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg oder sind enttäuscht, dass ihre Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt nicht benötigt wird. Viele leiden unter der Unsicherheit ihrer Beschäftigungsverhältnisse. Über die Gründung einer Familie denken die meisten gar nicht erst nach.
Auf dem Arbeitsmarkt gebraucht
Und dann gibt es eine Gruppe junger Menschen, die das haben,
wovon ehemalige, gegenwärtige und zukünftige Studenten nur träumen können:
meine Realschulfreunde. Gemeinsam
lernten wir sechs Jahre lang an der Mittelschule in Dippoldiswalde – einer
Kleinstadt zwischen Dresden und der tschechischen Grenze. Die meisten von ihnen haben in ihrem bisherigen Erwerbsleben nur eine einzige Bewerbung geschrieben: im Alter von 15 Jahren für ihre Ausbildungsstelle. Meine früheren Mitschüler stehen seit dem Ende ihrer Ausbildung in Lohn und Brot
– und zwar in unbefristeten Festanstellungen. Die Ängste meiner Kommilitonen kennen sie nicht.
Vier der früheren Realschüler habe ich einen Tag bei der Arbeit begleitet. Ich wollte wissen, wie sie ihre Entscheidung für eine duale Berufsausbildung und gegen das Abitur und ein Studium heute bewerten. Und mit welchem Gefühl sie in die berufliche Zukunft blicken.
Mein Treffen mit Franziska Hennig führt mich nach Kehl bei
Straßburg. Die 26-Jährige gelernte Hotelfachfrau ist Servicekraft eines
Buffetschiffes, das auf dem Rhein zwischen Basel und Rotterdam fährt. In meiner
Erinnerung ist Franziska ein ruhiges Mädchen, unauffällig gekleidet und kein Mensch vieler Worte. Die Franziska, die mich am Bahnhof in Kehl abholt, quasselt fröhlich drauf los, dabei haben wir uns seit dem Abschlussball im Juli
2006 nicht mehr gesehen. Auf dem Weg zu ihrem Schiff
erzählt sie mir, dass sie nur eine Nacht hier ist. Vor zwei Stunden angelegt
und morgen Mittag schon wieder weg – ein Glück, dass sie noch Zeit für unser
Treffen gefunden hat.
Kommentare
Das mit der "Karriere" ist ohnehin ein gesellschaftliches Missverständnis. Der Begriff wurde aus der US-Wirtschaft übernommen. Dort heißt das "Career" jeder berufstätige macht das automatisch, denn die Übersetzung des Begriffs müsste eigentlich "Laufbahn" heißen; und ist somit wertneutral.
Unternehmen, die Berufsanfänger mit der Möglichkeit einer Karriere anlocken, ist mit Misstrauen zu begegnen: Das ist ein Argument, um Leute für wenig Geld hart arbeiten zu lassen.... "Schließlich wollten sie doch Karriere bei uns machen".
Außerdem ist es abzusehen, dass Betriebe in Zukunft vermehrt auf Menschen setzen, die sie selbst ausgebildet haben. Denn diese kennt man- notfalls wird eine studienähnliche Fortbildung bezahlt. Im Gegensatz zu Studienabsolventen haben Kandidaten schon gezeigt, dass sie arbeiten(!) können. Und zwar für die Firma; nicht nur für sich selbst!
Ein wohltuender Bericht über einen Bereich unserer Welt, der in vielen akademisch geprägten Diskussionen und Milieus nicht wahrgenommen wird. Dabei begegnen wir alle im Alltag einer Vielzahl von Menschen, die ohne ein Studium eine verantwortungsvolle und anspruchsvolle Tätigkeit ausüben, damit ihren Lebensunterhaltsichern und zufrieden sind.
Das sind weite Bereiche in Handwerk und Industrie, die zum ökonomischen Erfolg unseres Landes erheblich beitragen.
Nur leben diese Menschen in anderen Milieus als die Journalisten und Medien. In scheinbar unterhaltsamen Fernsehsendungen und Filmen, kommt die Berufswelt des Handwerkers, Facharbeiters und der großen Gruppe der nicht-akademischen Arbeitnehmer nicht vor. Folglich entwickeln viele Jugendliche auch kein Bild der dort vorhandenen Möglichkeiten.
Früher gab es in Gewerkschaften z.B. noch Menschen, die aus der dualen Ausbildung kamen, heute werden Akademiker IG-Metall-Vorsitzende. Wir haben eine Teilung zwischen der Alltagsrealität und den sich öffentlich artikulierenden "Eliten". Ein Signal dafür ist die weitgehende Unkenntnis von Lehrern über die nichtakademische Arbeitswelt. Die ständigen Warnungen der OECD vor einem Akademikermangel, weil sich die dort tätigen Forscher an einer akademischen Welt orientieren. Sie nehmen dann wirtschaftlich wenig erfolgreiche Volkswirtschaften als Vorbild und wollen uns deren akademisiertes Bildungssystem als ideal empfehlen.
>>Dabei begegnen wir alle im Alltag einer Vielzahl von Menschen, die ohne ein Studium eine verantwortungsvolle und anspruchsvolle Tätigkeit ausüben, damit ihren Lebensunterhaltsichern und zufrieden sind. [...]<<
Und was ist z.B. mit den Setzern? Die hatten auch eine tolle Ausbildung und ein gutes Einkommen. Dann kamen die Computer.
Das Problem ist nicht, dass es heute Leute gibt, die ein gutes Auskommen ohne Studium haben. Wie sieht es aber in 30 Jahren aus? Viele Ausbildungsberufe werden einfach komplett weg fallen oder rationalisiert.
Absehbar ist das z.B. bei Bank- oder Versicherungskaufläutern. Durch das Internet braucht die in der Zukunft kein Mensch mehr. Die Finanzberatung für den 0815-Kunden wird über das Internet abgewickelt und dabei die Qualität der Beratung sogar noch erhöht. Für den Rest der Kunden wird man jemanden mit Studium benötigen, da es hier kompliziert wird.
Wenn Google sein Selbstfahrsystem auf den Markt wirft, dann werden praktisch nur noch große Firmen selbst Automobile kaufen. Die werden mit ihrer Marktmacht das KFZ-Handwerk rationalisieren. Fehler analysieren kann ein Computer. Teile wechseln kann man auch automatisieren. Bleiben nur noch Handlanger und wenige Computerspezialisten mit abgeschlossenem Studium übrig.
Wer heute eine Ausbildung macht, der muss an das Morgen denken. Und da werden noch sehr viele Berufe auf der Strecke bleiben. Wer nicht mit einem Studium hoch einsteigt, der steht dann plötzlich als ungelernter bei der Agentur.
Ich will die Bereiche nicht gegeneinander ausspielen. Es ist aber sicher notwendig, den Blick der Öffentlichkeit auf die Wirklichkeit der dualen Ausbildung und deren Bedeutung zu lenken.
Wäre wünschenswert, aber leider macht der Autor als "freier Journalist und Fotograph" dies nicht, sondern zeigt selektiv ausgewählte Einzelfälle. Ein Akademiker würde eher nach Zahlen schauen. Und da zeigt sich, dass Menschen mit dualer Ausbildung deutlich seltener arbeitslos sind und mehr verdienen als Personen ohne Berufsausbildung. Es zeigt aber auch, dass unter Akademikern die Arbeitslosenquote nur halb so hoch ist wie unter Gesellen und anderen Facharbeitern, während die Gehälter der wissenschaftlich Ausgebildeten fast doppelt so hoch sind. Einen Industriemeister mit einem Irgendwas-mit-Medien-Absolventen nach FH-Abschluss im Osten zu vergleichen, ist so sinnvoll wie einen herausgepickten arbeitslosen Schuster mit einem TU9-Ingenieur, der seit zehn Jahren Karriere macht, aufzuwiegen. Letzterer dürfte auch eher ein Freund von Statistiken sein und sich nicht von Einzelbeispielen blenden lassen.
Was soll ich sagen. Der Artikel trifft es auf den Punkt. Nach einer dreijährigen Ausbildung zum Zerspanungsmechaniker habe ich mich für ein Maschinenbaustudium an der Fachhochschule entschieden. Ich stehe nun nach 3,5 Jahren(inklusive Praktikum USA) kurz vor meinem Bachelor Abschluss. Vom angeblichen Facharbeiter und Ingenieur Mangel bekomme ich nichts mit. Den einzigen Mangel den es gibt, ist der Mangel an Ingenieuren die unterbezahlt eingestellt werden wollen!!
Wenn ich mit meinen ehemaligen Kollegen rede, bereue ich es den Schritt an die FH getan zu haben. Nach vier Jahren als Zerspaner und mit einer Fortbildung zum Techniker, lassen sich sowohl Familie, Beruf, als auch ein Eigenheim ohne Probleme finanzieren. Viele meiner ehemaligen Kollegen haben einen unbefristeten Vertrag, Eigentum etc.
Dieser ganze Hype um ein Studium und um die Vergleichbarkeit mit anderen Ländern ist eine Farce. Ja, in den USA studieren anteilig mehr Personen als hier in Deutschland. Es wird allerdings außen vorgelassen, dass in den USA ein Studium benötigt wird, um einen Job als z.B. Industriekaufmann zu bekommen.
Nicht umsonst wird die Deutsche Duale Ausbildung mittlerweile in den USA eingeführt. Speziell in Kooperation mit dort ansässigen Deutschen Unternehmen. Es ist ein voller Erfolg!
Meinem Sohn werde ich definitiv die Realschule/Ausbildung/Techniker Laufbahn empfehlen.
""Den einzigen Mangel den es gibt, ist der Mangel an Ingenieuren die unterbezahlt eingestellt werden wollen!!""
Unterbezahlt ist nicht unbedingt die richtige Bezeichnung, denn gerade den jungen Ingenieuren fehlt es oft am Verständnis dafür, dass sie erst am Anfang ihrer Laufbahn stehen und eigentlich noch überhaupt nichts wissen. Es ist im Endeffekt genauso wie bei den Junghandwerkern und den alten Hasen. Hier würde doch auch kein Junghandwerker, der für "seine" Arbeit in der Regel sogar noch deutlich mehr Fachwissen mitbringt als der Jungingenieur für "seine" neue Stelle, das Geld eines erfahrenen Handwerkers verlangen (Er würde es ja auch realistischerweise überhaupt nicht bekommen)
Eigentlich müsste er am Anfang sogar deutlich weniger als jeder Techniker/Meister , die ihre Ausbildung in der Abendschule gemacht haben bekommen, da diese über die Jahre Erfahrungen gesammelt haben, die einem Studierten in den meisten Fällen fehlt.
Leider haben gerade die großen Unternehmen die Philosophie, dass man einen Titel haben muss, um in gewisse Ebenen zu kommen. Hier ist dann für die Techniker/Meister Ebene irgendwann einmal Schluß mit dem Aufstieg, obwohl diese eventuell sogar deutlich mehr Können besitzen, als der Ingenieur der über ihnen sitzt.
Dennoch würde ich jedem Jüngeren raten, erst einmal den zweiten Bildungsweg ins Auge zu fassen (Es sei denn sie sind sich wegen dem Studium zu 100% sicher), denn auch dort gibt es Karrieren, die sehr gut bezahlt werden.