Es gibt Erlebnisse, die erst im Nachhinein an Bedeutung gewinnen. Im Herbst 1989 war ich eine junge Reporterin, lebte in Paris und wurde dort von der Tageszeitung Libération mehrmals in die bröckelnde DDR geschickt. Immer nach Leipzig.
Am 9. Oktober 1989 ahnte ich keineswegs, dass dieser Tag der größten Massendemonstration der DDR das Schicksal dieses Staates besiegeln würde. Erst viel später wurde mir klar, dass damals fast keine Kollegen in Leipzig waren. Die ständigen ausländischen Korrespondenten hielten sich in Berlin auf, die Straßen nach Leipzig wurden an diesem Tag für Journalisten gesperrt, um Berichterstattung zu verhindern. Das westdeutsche Fernsehen behalf sich mit versteckt gedrehten Videoaufnahmen des oppositionellen Filmemachers Siegbert Schefke, dem es gelungen war, seine Stasi-Verfolger abzuschütteln.
Ich selbst war aus Frankreich eingereist, mit einem Touristenvisum im westdeutschen Pass, aber nicht als westdeutsche Journalistin aus der Bundesrepublik. So hatte ich erst einmal keinen Schatten. Außer bei der Einreise und im Hotel verschwieg ich aber niemandem, dass ich dienstlich unterwegs war. Notfalls, dachte ich, wirft man mich halt raus. Aus heutiger Sicht war das ziemlich naiv.
Rausgeworfen wurde ich am Morgen des 9. Oktobers tatsächlich – aus meinem gähnend leeren Hotel. Mit der Begründung, wegen irgendeines wichtigen Kongresses sei nun doch kein Platz für mich.
Die Demonstrationen begannen unter großer Anspannung. In der Leipziger Volkszeitung kündigte ein Kommandeur der Betriebskampfgruppen an, man werde konterrevolutionäre Bestrebungen mit Waffengewalt im Keim ersticken. Die Vorbereitungen dafür waren sichtbar, auch wenn erst später Details bekannt wurden: 6.000 Mann mit Wasserwerfern, Lkw mit Sperrschildern und Schützenpanzerwagen standen bereit. Plus 5.000 sogenannte gesellschaftliche Kräfte, also zuverlässige SED-Genossen, die auf die Demonstranten einwirken sollten. Von zusätzlichen Blutkonserven war die Rede, die an Uni-Kliniken und Krankenhäuser geliefert worden seien.
Ich erinnere mich an ein Telefonat mit der Pariser Redaktion, die sich nach den Details dieser Maßnahmen erkundigte. Dort hatte man die blutige Niederschlagung des Aufstands auf dem Tiananmen-Platz in Peking frisch im Gedächtnis. Auf mich wiederum wirkten die Polizisten mit ihren Knüppeln und weißen Schutzschildern nicht so bedrohlich, mein deutscher Erfahrungshorizont mit Demonstrationen beschränkte sich allerdings auf die Proteste gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf.
Die Drohkulisse schreckte die Leipziger aber nicht ab, obwohl sie anders als ich den Ernst der Lage erkannten. Bis zu 70.000 Menschen zogen an diesem Abend auf dem Georgi-Ring um die Innenstadt. Sie skandierten: "Wir bleiben hier", was die bisherige Demonstranten-Parole "Wir wollen raus" ersetzte und eine wichtige Neuausrichtung markierte. Man kämpfte plötzlich nicht mehr für die Ausreise, sondern für eine bessere Zukunft in diesem Land. "Wir sind das Volk" und "Gorbi, Gorbi" riefen die Menschen und sangen die Internationale. Zwischendurch hörte ich auch den Anfang von We shall overcome.
Kommentare
Rückblickend betrachtet.....
geht es mir genauso. Man hat Weltgeschichte am eigenen Leib erlebt und begreift es erst Jahre später.....
Deutschland hat damals die Chance verpasst sich gesellschaftlich weiterzuentwickeln...
Mit harter Westmark wurde die Chance auf einen gesellschaftlichen Wandel erstickt. Die Zeit war noch nicht reif dafür
Der Kapitalismus ist nicht die Endstufe der Entwicklung, man weigert sich nur noch es anzuerkennen.......es ist ein tabu dieser Republik. Das momentane System ist ebenso menschenverachtend, nur auf perfide, versteckte Weise. Das Establishment tut ja auch alles um den bösen Sozialisums zu verteufeln. Er wird kommen, irgendwann
Danke schöner Artikel!
@1 - Heinz Keßler
Und was ist, Ihrer Meinung nach, dann die Endstufe ?
Wir haben doch mittlerweile alles durchprobiert. Das gegenwärtige System ist schlecht, aber von allen mir bekannten Systemen noch das am wenigsten schlechte.
Falls Sie ein besseres kennen, dann wäre ich an Details interessiert.
Auch...
...für mich als südwestlicher Westdeutscher (BaWü) war die DDR quasi Ausland. Und während der Umbruchsphase 1989/90 befand ich mich im Gegensatz zur Autorin ganz weit weg. Als studentischer Rucksackreisender hatte ich das ganze zwischen der Türkei und Indonesien in den dortigen Medien (Zeitungen noch) miterleben können, wobei dort, bis auf den Mauerfall selbst natürlich, generell die etwas später, jedoch immer noch parallel aufgetretene Iraq-Kuwait Krise im Vordergrund stand, sowie der Verlauf der Fußball-WM (Wer wurde Weltmeister?). Einzig in Thailand waren die fortschreitenden deutschen Ereignisse Meldungen auf der Titelseite wert. Und irgendwie hat mich das auch nicht so berührt. Während dieser Zeit sprachen mich jedoch viele "Westler", insbesonders aus dem angelsächsischen Raum, Engländer, Australier, auf diese Ereignisse an, mit der Befürchtung einer neuen deutschen "Großmachtstellung", der ich nur mit Hinweisen auf die 1968er Zeit und der ansonsten mir damals schon bewussten (west)deutschen politischen Trägheit auf Grund materiellem Wohlstandes entgegenzuwirken versuchte. Jedenfalls verließ ich Westdeutschland im August 1989 und kam nach Gesamtdeutschland im November 1990 zurück. War schon irgendwie komisch.
Veränderungen
Ich finde, man sollte die Geschehnisse von damals und deren Jahrestage gerade in der heutigen Zeit stärker vergegenwärtigen. Damals hatten viele Menschen den Mut, trotz einem repressivem System welches eindeutig auch gewillt und in der Lage war sich mit Gewalt zu verteidigen, ihre Wünsche zu artikulieren.
Wie die Autorin schon treffend beschreibt, sind die Wünsche nach einer Wiedervereinigung auch erst später artikuliert worden. Und während ihre französischen Kollegen diese Entwicklung viel früher als sie selbst in Betracht gezogen haben, war es für sie als Teil der deutsch-deutschen Realität kaum vorstellbar.
Genau wie sich viele Menschen heute kaum vorstellen können, wie Veränderungen von statten gehen könnten. Fr. Dr. Merkel verstärkt mit ihrer politischen Lethargie die Bequemlichkeit, nichts verändern zu müssen. Dabei gibt es gravierende Herausforderungen, die inzwischen nicht nur die Vereinigung eines Volkes betrifft, sondern globaler Natur.
Die Ereignisse von 1989 sind eine Zäsur und bedeutend gewesen, und es hat eine in der Geschichte einmalige Konstellation gegeben, welche den Erfolg dieser Revolution begünstigt hat. Diese Revolution war jedoch auch kein UFO, was in Leipzig gelandet ist.
Ich habe jedenfalls ein ähnlich leeres Gefühl, wenn ich an die derzeitige Politik denke, wie ich es hatte als Egon Krenz Staatsratsvorsitzender wurde....
Niemand wusste damals wie das ausgeht
die Situation war nicht ungefährlich, die Genossen spürten dass ihre Macht gefährdet war. Am 7. Oktober (Feiertag) sass sicher nicht nur in unserem Betrieb die Kampfgruppe in Einsatzbereitschaft im Speisesaal, wir mussten extra noch Leitungen verlegen damit der Parteisekretär dort das aktuelle Geschehen am Fernseher verfolgen konnte. Seine Aussage 'die Konterrevolution marschiert wieder' nahmen wir nicht so recht ernst, die Drohung vor dem 9. Oktober 'an diesem Montag beenden wir diese Umtriebe!' dann allerdings schon.
Parallel war die Situation in Dresden durch die Provokation der über die DDR geleiteten Züge aus Prag extrem angeheizt, es gab jeden Abend Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und den Staatsorganen auf der Strasse. Beruhigend war die friedliche Demonstration in Leipzig und der Mut der 'Gruppe der 20' in Dresden, die einen friedlichen Weg für Wandel aufzeigten.
An die Linken: ihr hattet eure Chance und habt es grandios vergeigt. Man sperrt nicht die Bevölkerung ein und wirtschaftet sich selbst mit Privilegien und Pöstchen in die Tasche. Dazu kam die unerträgliche öffentliche Heuchelei und das geforderte Verbiegen vor dem Apparat.
Hoffentlich nie wieder.
die Linken ?
An die Linken: ihr hattet eure Chance und habt es grandios vergeigt. Man sperrt nicht die Bevölkerung ein und wirtschaftet sich selbst mit Privilegien und Pöstchen in die Tasche.
Es geht doch weniger um links oder rechts. Eine demokratische Gesellschaftsform entsteht/verändert von innen heraus und aufgrund äusserer Einflüsse. Die Geschichte wird zeigen, ob das Volk die Demokratie als vollkommen ansieht oder nicht. Übrigens, wenn Sie den Aspekt mit dem Wegsperren weglassen, was bleibt dann noch übrig.....?