Eigentlich dachte ich, dass sich mit der Wiedervereinigung und der Einbindung Deutschlands in die Europäische Union die "deutsche Frage" ein für allemal erledigt hätte. Es wäre so schön gewesen. Seit hundert Jahren verströmen "deutsche Fragen" ihren Moder-, Mief- und Verwesungsgeruch. Und nach Frischluft möchte man auch jetzt schreien, wo sich tatsächlich wieder Deutsche um das Deutsche sorgen und um nationale Souveränität und deutsche Grenzen, als wären wir im 19. Jahrhundert.
Die Staatsnation. Ernest Renan hielt sie für den unverzichtbaren Rahmen der Demokratie, aber auch für ein "Gewaltgehäuse", aus dem es kein Entrinnen gebe. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben es einige Deutsche tatsächlich versucht: aus der deutschen Staatsnation auszusteigen. Sie wollten in all dem Nachkriegselend lieber staatenlos sein, als noch länger dieser, so schien es, fluchbeladenen Schicksalsgemeinschaft anzugehören. 1945/46 appellierten sie an die Gerichte in Großbritannien und in den USA, dass der deutsche Staat mit der bedingungslosen politischen Kapitulation untergegangen sei. Es gäbe keine Staatsgewalt und keine Staatsgrenzen mehr, und wo kein Staat sei, da sei auch keine Staatsangehörigkeit.
Auch die teilweise emigrierten Verfassungsjuristen waren sich über den Verbleib des deutschen Nationalstaats nach dem Zusammenbruch 1945 keineswegs einig: Manche vertraten die "Untergangslehre", der zufolge der deutsche Staat vernichtet worden sei und neu begründet werden müsse. Durchsetzen konnten sich jedoch die Anhänger der "Fortbestandslehre", die darauf beharrten, dass der Staat noch lebe, auch wenn er gerade mal nicht handlungsfähig sei. Das fanden schließlich auch die Alliierten, denn ein Heer von Staatenlosen lag nicht in ihrem Interesse. Also wurde eine Konstruktion gebastelt, dass das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 immer noch existiere – und diese Konstruktion, mit einer erst 1990 anerkannten Oder-Neiße-Grenze, ist heute noch Teil des staatsrechtlichen Fundaments der Bundesrepublik Deutschland und stachelt Nazis und Paranoiker jeder Couleur zu allen möglichen Verschwörungstheorien an.
So wie einige Gläubige sich den lieben Gott mit Rauschebart auf einer Wolke schwebend vorstellen, so waren weite Teile des Staatsrechts bis vor gar nicht langer Zeit dem Glauben an eine "Staatspersönlichkeit" verpflichtet, die stirbt oder weiterlebt, unabhängig von den Menschen und den Institutionen. Auch heute noch scheint dieser Glaube wirksam: im Entsetzen darüber, dass Angela Merkel angeblich die Souveränität Deutschlands geopfert habe, weil sie den über die Grenze kommenden Flüchtlingen nicht entgegentrat wie einer feindlichen Armee. Weit über die Reihen Pegidas hinaus geht es den "Besorgten" um die Integrität des Nationalstaats, der nicht als Menschenwerk, sondern wie ein Götze erscheint, zusammengesetzt aus der Dreifaltigkeit Staatsgrenze, Staatsvolk, Staatsgewalt. Dieses Konstrukt lernen die Kinder bis heute in der Schule, als seien es nicht jedes Mal politische Entscheidungen, die darüber bestimmten, wer dazu gehört und wer nicht, was wie abgegrenzt wird und wer welche Macht ausübt.
Schon seit 1918/19 ist deutsche Staatsgewalt kompromittiert: Erst den Bedingungen des Versailler Vertrages unterworfen, dann ein Spielball der nationalsozialistischen Willkür-Herrschaft, dann unter Besatzungsstatuten, die von der Gründung der Bundesrepublik 1949 bis zur Wiedervereinigung 1990 sukzessive nur durch die fortschreitende Einbindung in überstaatliche Strukturen abgelöst werden konnten. Durch diese supranationale Einbindung und den freiwilligen Souveränitätsverzicht kam endlich Heilung, und die Deutschen haben gewaltig davon profitiert, materiell und mit Freiheitsgewinnen aller Art. Wir sind heute ein freieres Land denn je, nicht obwohl, sondern gerade weil der deutsche Staat sich klug selbst beschränkt und mit anderen überstaatlichen Strukturen verflochten hat.
Die Nationalstaatsgläubigen ertragen das schlecht. Sie lassen uns glauben, dass nur der Nationalstaat Demokratie ermögliche. Sie wollen, dass ein supranationales Gebilde wie die EU seinen Institutionen möglichst wenig eigene demokratische Legitimation verschafft. Sie sehen jede Souveränitätsübertragung als ein Opfer, das nur durch die Befriedigung materieller Interessen an anderer Stelle gerechtfertigt werden kann.
Die Menschen, die jetzt wieder vom Angst-Syndrom und von "deutschen Fragen" befallen sind, wedeln mit Fahnen und fordern ein kulturell und ethnisch homogenes Land und einen starken Staat, der nicht auf die Welt achtgeben soll, sondern nur auf das Volk, worunter sie nur sich selbst verstehen. Das ist dumm, angesichts der transnationalen Herausforderungen, vor denen Deutsche wie Nicht-Deutsche stehen; und außerdem unangenehm für alle, die die von ihnen vorgebrachten Homogenitätsvorstellungen und Deutschlandbilder zum Gruseln finden. Trotzdem sind die von "deutschen Fragen" befallenen Menschen kein "Pack". Ihre Nationalstaatsgläubigkeit hat etwas Verzweifeltes. Vielleicht wären sie 1945 auch gerne ausgestiegen aus der deutschen Staatsnation, und konnten es nicht?
Kommentare
Sorry aber dieser Artikel ist wirklich die Minuten nicht wert die ich dadurch verloren habe...
Tja Frau Detjen, es gibt halt Menschen in diesem Land die dieses Land gerne so behalten möchten wie es ist, auch wenn das für Sie anscheinend schwer nachzuvollziehen ist.
es gibt halt Menschen in diesem Land die dieses Land gerne so behalten möchten wie es ist, auch wenn das für Sie anscheinend schwer nachzuvollziehen ist.
Malen Sie ein Bild davon oder knipsen Sie es und drucken es aus. Dann gießen Sie es in Harz ein und stellen es sich als Briefbeschwerer auf den Schreibtisch.
Da können Sie dann jeden Tag auf ihr wunderschönes, langsam verstaubendes Traumland schauen, wie es sich nicht verändert und ewig gleich ist. So wie Sie dann auch ewig gleich bleiben werden. Nie Falten oder graue Haare.
Manche Menschen - eigentlich fast alle - haben in diesem Land längst begriffen, daß Dinge sich nun einmal ändern. Ansonsten hätte ich gerne mein Land zurück. Das von 1983 oder so, da gab es noch kein Internet und man mußte so einen Blödsinn nicht lesen. Systeme, die unveränderlich sein wollen, gehen unter. Immer!
Die meisten Menschen, die jetzt rumweinen, haben nichts weiter als kindische Angst davor, daß ihnen irgendwer etwas wegnehmen könnte, schließen dann raffgierig die Arme um ihren materiellen Besitz und schauen sich panikartig um, ob schon einer danach greift.
Armselig.
Entfernt: Mehrfachposting. Die Redaktion/ds
Kommt leider immer häufiger vor. Sollen sich die Griesgrämigen doch über die ärgern, denen dieses Land etwas bedeutet. Ich stehe dazu!
"supranationales Gebilde wie die EU" dazu die Herren aus Karlsruhe ---->
„Die Ermächtigung, supranationale Zuständigkeiten auszuüben, stammt allerdings von den Mitgliedstaaten einer solchen Einrichtung. Sie bleiben deshalb dauerhaft die Herren der Verträge.
................ durchaus weitreichende, aber immer sachlich begrenzte überstaatliche Autonomie. Autonomie kann hier nur.als eine zwar selbständige, aber abgeleitete, das heißt von anderen Rechtssubjekten eingeräumte Herrschaftsgewalt verstanden werden.“
Das mit der EU ist das Einzige im Artikel, womit ich wirklich Probleme habe. Die "Nationalstaatsgläubigen", der Definition der Autorin nach wäre ich dann auch einer. Nicht diese wollen der EU so wenig demokratische Legitimation verschaffen wie möglich, sondern die EU-Strukturen selbst sind das Problem. Wenn ich mit der deutschen Gesetzgebung nicht einverstanden bin, kann ich andere Parteien wählen. Was tue ich denn, wenn ich mit der Arbeit von (aus anderen Ländern entsandten) EU-Kommissaren oder Verordnungen der ganzen Kommission nicht einverstanden bin?
Es fehlt hier einfach die demokratische Kontrolle. Und wenn man nicht glücklich darüber ist, sich Gesetzen und Regeln unterwerfen zu müssen, auf die man keinen wirklichen demokratischen Einfluss ausüben kann, dann macht einen das nicht zum Nationalstaatsgläubigen. Es gab mal Zeiten, da hätte einen das zum "Demokraten" gemacht, nicht mehr und nicht weniger.
Entfernt. Doppelpost. Die Redaktion/th
Entfernt. Themenfern. Die Redaktion/th