Warum jammern die eigentlich so? Diese jungen Mütter aus der urbanen Mittelschicht, die das Beste für ihr Kind wollen und deswegen buchstäblich alles für es tun: Sie tragen es tagsüber möglichst dicht und häufig am Körper, lassen es nachts bei sich im Bett schlafen und stillen es zu jeder Zeit – und zwar so lange, wie es das Kind selbst will. Darüber hinaus bemühen sie sich, möglichst jedes Bedürfnis des Kindes zu antizipieren. Attachment Parenting heißt der theoretische Überbau zu diesem Erziehungsideal. Es kommt aus den USA und treibt dort wie hier junge Mütter zunehmend in den Wahnsinn. Was sich, wenn man die Regeln des Attachment Parenting wie Goldstandards auslegt, leicht nachvollziehen lässt. Schließlich kann es Jahre von Tragetuch, Co-Sleeping und Brustgeben bedeuten – pro Kind. Ganz zu schweigen von dem nervenzerreibenden Eingehen auf jeden einzelnen Wunsch des Kindes. Viel schwieriger nachvollziehen lässt sich indes: Warum tun moderne Frauen sich das an?
Im Kern geht es darum, eine bestmögliche Mutter-Kind-Bindung aufzubauen. So eine Bindung ist eine prima Sache. In der Regel bildet sie sich tatsächlich vor allem zur Mutter so stark aus, aber das ist nicht mal entscheidend. Wichtig ist, und darin sind sich alle einig, dass eine gelungene Bindung das Fundament für die gesunde Entwicklung eines Kindes legt. Sie macht es nachweislich ausgeglichener, konzentrierter, lernfähiger und auch als Erwachsenen noch psychisch stabiler. Sie liefert also nichts Geringeres als das Rüstzeug für ein glückliches Leben. "Bindung braucht jedes Kind – egal unter welchen Umständen es lebt", fasst es die deutsche Entwicklungspsychologin Heidi Keller zusammen.
Unsere Gesellschaft tut daher viel, damit diese Bindung von Anfang an wachsen kann. Der Staat garantiert Mutterschutz, bietet Elternzeit und einen Kündigungsschutz in dieser Zeit, Elterngeld, ElterngeldPlus, später das Recht auf Teilzeit. Fast überall gibt es Stillkurse und Mütterberatungen, Familienstätten, Elternsprechstunden. Auch wenn noch immer nicht für jeden Zweijährigen ein Kitaplatz bereitsteht, war es früher ganz bestimmt nicht besser. Gerade aus der Perspektive städtischer Mittelstandsmütter. Nur: Warum klagen sie dann so?
Der eigentliche Zweck von Ratgebern
In unserer westeuropäischen Kultur ist das zunächst durchaus typisch. Weil uns die Selbstverständlichkeit im Umgang mit kleinen Kindern verloren gegangen ist, kommt hier alle paar Jahre ein neuer Ratgeber auf den Markt, der die Debatte um das beste Erziehungsmodell mit einer gegensätzlichen Meinung anheizt. Der Grund ist naheliegend: Hier wird hinterfragt, wie gute Erziehung aussehen kann – spätestens seitdem kaum noch jemand von uns das aus eigener Anschauung in einer großen Familie kennt. Wenn man nicht schon als Sechsjähriger im Alltag kleine Geschwister oder Cousins auf dem Arm herumgetragen hat, fragt man sich mit Ende Zwanzig eben eher hilflos, wie das gehen soll mit dem eigenen Kind.
Hinterfragen ist nichts Schlechtes. Wenn sich nie jemand gefragt hätte, ob Schlagen nicht besser zu unterlassen ist, praktizierten es viele Eltern womöglich heute noch. Doch der eigentliche Zweck der Regalkilometer Erziehungsratgeber besteht gar nicht darin, den Käufern die heute als selbstverständlich erachteten Grundlagen zu vermitteln: gewaltfreies, zugewandtes, bindungsorientiertes, respektvolles Erziehen. Sondern darin, den Eltern ein Geländer an die Hand zu geben, an dem sie sich gleichsam bis zu dem Punkt vorantasten können, an dem sie stehen bleiben und sagen können: Hier fühl ich mich wohl, und das mach ich jetzt gut so. Und genau das ist es dann auch: gut so. Die jungen Eltern entspannen sich und tun endlich das, wozu Erzieher, Kinderärzte und Mütterberaterinnen sowieso raten: der Intuition folgen. Dann vertrauen sie endlich darauf, dass das, was das Kind tut, macht, kann und vor allem, was es noch nicht tut, macht, kann, richtig und normal ist und kein Grund zur Sorge. (Wobei wir selbstredend nicht das Problem aus den Augen verlieren, dass es auch einen geringen, aber signifikanten Prozentsatz an Familien in Risikosituationen, oft am Rand der Gesellschaft gibt, die besondere Zuwendung brauchen. Aber das sind in der Regel nicht jene, die Erziehungsratgeber kaufen oder sich dem Attachment Parenting verschreiben.)
Kommentare
wenn die frau in der mutterrolle aufgeht, steht dem glück doch nichts im wege. :)
Und auch heute und hier zeigt es sich wieder.
Der Kommentar auf Position #1 ist hektisch in die Tasten gehauen.
Die qualitativ hochwertigen Kommentare beginnen dann meistens erst auf Seite drei.
Oder an frühestens fünfter Stelle (#1.5).
Ich wünsche allen Beteiligten eine geistreiche und lehrreiche Diskussion.
Herrlich.
"Viele junge Mütter geben sich selbst für das Wohl ihres Kindes auf. Das ist zwar rückschrittlich, aber es steht ihnen frei."
Dieser Satz entlarft die Boniertheit der Gesellschaft treffend.
Man bemüht sich das Narrativ zu vermeiden, dass das Leben des Individuums nur dann von Erfolg gekrönt ist, wenn es sich selbst verwirklicht, sprich Arbeiten geht. Inwiefern die Lohnabhängigkeit gegenüber einem multinationalen, anynonymen Konzern oder einen kleinen Unternehmen nun sonderlich zur Verwirklichung des eigenen Lebens beitragen soll, erschliesst sich mir nicht?
Das gleichzeitig der Mutter, als Erzieherin eines Kindes und damit der Bewahrerin des Fortbestandes der Menschheit nicht der gebührende Respekt gezollt wird, konnte bislang auch nicht vernünftig begründet werden.
Hm. Habe den Beitrag flott überflogen und bin nicht ganz schlau aus der Zielrichtung geworden.
Ich bin 15 Jahre lang aus einem stressigen Job ausgestiegen, um das Aufwachsen unserer Kinder mitzukriegen. Meine Mutter war Fabrikarbeiterin, die nach 6 Wochen Mutterschaftsurlaub wieder arbeiten ging - ich wurde also mit 6 Wochen in einen Fabrikhort abgegeben. Zeitlebens konnte ich zu meiner Mutter keine große Nähe herstellen. Deshalb wollte ich es anders machen. Für mich ist die Arbeit in einem Unternehmen keine Selbstverwirklichung - es ist fremdbestimmte Arbeit und allenfalls eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Deshalb habe ich es nie verstanden, warum es so erstrebenswert sein soll, sich für ein paar Kröten zu versklaven und seine Kinder Fremden zu überlassen.
Ihr Kommentar trifft genau den Punkt.
Nur wer genug Zeit mit den Kindern verbringt kann eine starke Beziehung aufbauen. Kinder merken ganz genau ob sie Lebensmittelpunkt sind oder unter 'ferner liefen' rangieren.
Der Mensch ist nicht kapitalismuskonform konzipiert sondern folgt seinen eigenen uralten Regeln.
Zentrale Aufgabe einer sinnvollen, modernen Gesellschaft muss deshalb sein, dass Mütter die sich viel Zeit für Ihre Kinder nehmen wollen sich das auch leisten können.
Wenn es rückschrittlich ist das Wohl des Kindes über einen selbst zu stellen, dann ist eigentlich alles über die Zeit gesagt in der wir leben.
Traurig.
Entscheidend ist, wie man das tut.
Ich bin der Meinung, dass es zu den wichtigsten Aufgaben von Eltern überhaupt zählt, ihre Kinder fit zu machen für ein selbstständiges Leben.
Einerseits bedarf es dafür liebevoller, aufmerksamer und natürlich gewaltfreier Erziehung.
Andererseits müssen Kinder aber auch lernen, dass Mama und Papa nicht alles für sie regeln, dass sie sich nicht darauf verlassen können. Sie müssen lernen, dass sie auf die Erfüllung mancher Wünsche auch mal warten müssen und Wutanfälle der falsche Weg sind, um die Wünsche zu erfüllen. Einige Wünsche werden auch gar nicht erfüllt.
Oder sie müssen mal eine Arbeit leisten, die ihnen nicht gefällt. Manchmal ist die Welt auch gefährlich.
Wenn Kinder nur in Watte gepackt werden und man ihnen ,,alles an den Hintern bringt", dann werden sie später schwerlich zu selbstständigen, selbstbewussten Menschen.