"Jedes Kind ist ein Künstler. Das Problem ist nur, wie man Künstler bleibt, wenn man größer wird." Dieser Satz Pablo Picassos stimmt mehr als nur nachdenklich. Er stimmt vor allem traurig. Erscheint das Erwachsenwerden aus dieser Perspektive doch als ein Prozess unvermeidlicher Kreativitätseinbußen, des Ambitionsverlusts, ja der Selbstentfremdung. Die Frage nach dem Schicksal des Kindes, das jeder von uns einmal war, wird so gleichbedeutend mit der Frage, warum aus dem eigenen Leben letztlich nicht das geworden ist, was man sich einst erträumt hatte. Und tatsächlich: Was würde man als Erwachsener heute nicht geben für den Zauber, die utopische Überschüssigkeit, vor allem aber die selig geborgene Selbstvergessenheit, die jedes Vorschulkind, wenn man es nur lässt, täglich spielend verkörpert! Gerade so, als sei es das Natürlichste der Welt.
Doch eignet der Frage nach dem inneren Kind, jenseits der mit ihr verknüpften Verlusterfahrungen, auch eine tief erkenntnistheoretische Dimension. Denn allein als Kind vermag man die Realität mutmaßlich noch so zu erfassen, wie sie wirklich ist: unmittelbar, unverstellt, rein. Fern allen kalten Kalkulierens, sozial aufgesetzter Rollenerwartungen und ideologisch getränkter Leitbegriffe. Bis hin zu der tiefsten und rätselhaftesten Erfahrung, zu der Wesen wie wir fähig sind: Die Rede ist von dem tiefen Staunen darüber, dass überhaupt etwas ist – und nicht vielmehr nichts. Von der spontanen Dankbarkeit, dass es diese Welt schlicht und einfach gibt. Und uns in ihr. Mit anderen Worten also vom Anfang des Philosophierens selbst.
Paradise lost
Man denke nur an die tatsächlich unbändige Erregung eines Zweijährigen, der plötzlich, aus heiterem Himmel – wie aus dem Nichts! –, einen Apfel oder einen Luftballon erblickt, um mit ausgestrecktem Zeigefinger sogleich die gesamte Restwelt auf das Wunder dessen schierer Existenz aufmerksam zu machen: "Da! Da!"
Eine elementarere, ursprünglichere Freude am bloßen Sein und Dasein ist nicht vorstellbar. Was wiederum auf die Frage führt: Wo genau blieb diese Begeisterung im Verlauf des Erwachsenwerdens auf der Strecke? Schließlich ist es ja nicht so, als ob das Wunder der schlichten Existenz von allem, was ist, mehrere Jahrzehnte in die eigene Biografie (oder mehrere Jahrtausende in die Philosophiegeschichte) hinein auch nur einen Deut weniger rätselhaft geworden wäre.
Ein Gutteil der religiösen Weisheitslehren wie auch des
vormodernen Philosophierens zielt deshalb darauf, diese urkindliche Freude am
schlichten Sein im Geiste des Erwachsenen wachzuhalten. Sei es mit dem Ziel
ehrfürchtiger Unterwerfung unter religiöse Dogmen oder aber einer alltäglich
erfahrenen Dankbarkeit. So ist es auch kein Zufall, dass die zentralen
Ursprungserzählungen unserer Kultur letztlich ein und demselben Schema folgen:
Auf die Phase der seligen Aufgehobenheit im Sein (dem Paradies, der
Fruchtblase) folgt ein irritierendes Stadium fragender Bewusstwerdung (des
"Falles" bzw. Nennen- und Sprechenlernens), das schließlich von einer
weitgehend staunensfrei gewordenen Form des Existierens abgelöst wird, die sich
dem Wunder der Schöpfung fortan mit mutmaßlich ganz und gar selbst gesteckten
Zielen nähert. (Brudermord, Revolte, Raub "des Feuers"). Der Verlauf der
gesamten Menschheitsgeschichte wird in diesen Mythen also mit der
entwicklungspsychologischen Reifung eines jeden einzelnen Menschen
parallelisiert.
Vorwärts oder zurück?
Diese Engführung von Welt- und Individualgeschichte regt in
der Regel zu zwei einander entgegengesetzten Wertungen an. Sie prägen unser
Weltempfinden bis heute tief: Nach dem einen Entwicklungsideal gilt es, die
Sehnsucht nach dem einst staunenden Kinde produktiv und emanzipierend zu
überwinden. Nach dem anderen hingegen, die Ahnung für die paradiesische Güte
dieses Zustands der Aufgehobenheit wachzuhalten. Und sei es nur, um ein Gespür
dafür zu bewahren, mit welchen Kosten, Gewalttaten und Verlusten der Prozess
des Erwachsenwerdens unseres Geschlechts notwendig einherging und -geht. Die
erste Linie kann man mit Immanuel Kant oder Ernst Cassirer die progressive oder
auch aufklärerische nennen. Aufklärung bedeutet hier schlicht: "Ausgang des
Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit". Im Sinne eines
bewussten und jedem Vernunftwesen möglichen Überwindens des kindlichen
Weltzugangs, eines befreienden Auszugs des Menschen aus einem mythisch
beschränkten und damit letztlich unfreien Weltverhältnis.
Die zweite Linie stärkt eher romantische und konservative
Intuitionen. Wie etwa bei Jean-Jacques Rousseau neigt sie zu einer verklärenden
Seligsprechung ursprünglicher Lebensformen in Form des Kindes und des "edlen
Wilden". Oder aber sie beklagt, wie etwa im Werk Martin Heideggers, eine tief
greifende "Seinsvergessenheit" des modernen Denkens und fordert einen heilenden
Rückgang zum alles schöpfenden Staunen – und damit auch der lauschenden
Ausgesetztheit ans Sein – im Sinne der alten und ältesten Griechen.
Kommentare
"Schließlich ist jeder Mensch – daran lässt sich schwer etwas ändern – als Kind ein Philosoph."
Nein, ist man nicht. Wieder einmal die Verklärung des Kindseins. In einem philosophischen Artikel sollte man solche Verallgemeinerungen und Idealisierungen unterlassen.
Zwar war es nicht primär dieser Satz, aber diese Verklärung des Kindseins, die sich durch den gesamten Text zieht, empfand ich auch als sehr... flach. Und auch verallgemeinernd. ZB meine persönlichen Erfahrungen als Kind spiegeln sich hier so gar nicht wider. Meine kindlich-philosophischen "Ergüsse" waren weniger von Staunen und Freude als von Weltschmerz, Fremdheit/Unverbundenheit, Ohnmacht, und dem Wunsch, zu verschwinden geprägt, und da bin ich zu lange Kind geblieben.
Somkit kann ich mit dieser sehr stereotypen Gleichsetzung Kind=Philosoph im dargelegten Sinn auch nicht viel anfangen.
Weiterhin bliebe dann noch die Frage, ob Philosophie nicht ua auch die Aufgabe hat gewisse Strukturen, Muster, Beziehungen her- und darzustellen und damit auch eine gewisse grobe Verallgemeinerung individueller Erfahrungen, Prozesse, Emotionen und eben Denke einhergehen darf, also gewissermaßen eine "Rasterung"/Schubladiserung auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners. Weil da schon die Frage ist, ob es "völlig ohne" gehen kann. Aber Sie haben schon recht, die Gefahr einer völligen Stereotypsierung ist zu groß, und mE auch ein Kernproblem der meisten Menschen.
"Eine elementarere, ursprünglichere Freude am bloßen Sein und Dasein ist nicht vorstellbar."
Doch. Sie variiert nur. Wir können halt nicht 80 Jahre täglich neu über einen Apfel oder Luftballon staunen. Die Objekte unserer Freude wachsen eben mit uns. Nach dem Apfel ist es irgendwann ein Hund oder eine Katze. Dann der Legokasten, ein Notebook, die Nachbarstochter im Bikini, dann ohne Bikini, ein Moped, Reisen in der Jugendgruppe, eigenes Auto, eigene Wohnung, Familie, eigener Garten, zum ersten Mal Gruppensex, ein Segelkurs, hochwertige Weine, eine hochwertige Stereoanlage, Hobbies oder Enkelkinder oder eine Kreuzfahrt.
Freuen und Staunen kann man sich ein Leben lang bewahren. Das fängt mit kleinen Schritten an. Z. B. morgens die erste Stunde im Büro sich und seinen Interessen widmen. Und nicht gleich auf die Arbeit stürzen.
Vielleicht nicht über einen Apfel oder Luftballon, aber ich kann heute noch wie damals über die Natur staunen, während mich andere Dinge in Ihrer Aufzählung eher kalt lassen.
Sehr gut beschrieben. So sehe ich es auch und dennoch kann man zu einem gewissen Teil Kind bleiben. Das wollte ich und es ist mir gut gelungen, denke ich.
Möp, falschen Knopf gedrückt. Sollte eine Antwort auf #2 werden.
Aha. Ich empfehle Ihnen die Doku von Erwin Wagenhöfer: Alphabet. Dann gibt es auch noch diverse Neurobiologen (Hüther, Spitzer, Davidson...), die wichtiges zu sagen haben, wie lernen funktioniert und wie man den Bedürfnissen von Kindern gerecht wird.
Einer der Hauptpunkte, den ich leider in Ihrem Text nicht lese, ist wohl, dass Kinder reif gemacht werden für den Arbeitsprozess. Dass sie ihre Art des komplexen Denkens verlieren und in die linearität abrutschen. Wenn man dann zurückschaut, dann nur mit den Augen des Verlusts. Klar, man hat ja damals mehr wahrgenommen und alles war neu. Schlussendlich hat man dem Kind im Erwachsenenwerden doch nur den Willen genommen.
Vieles in Ihrem Text verstehe ich nicht. Warum soll ein Kind nicht glücklich sein, sich als Sklave fühlen? Abhängig sein? Jedes Kind ist ein Philosoph??
Es geht doch letztendlich nur um einen Entwicklungsprozess, der mehr oder weniger stümperhaft persönlich als auch gesellschaftlich betrieben wird. Daraus eine Philosphie zu machen, Respekt.