Im Jahr 1995
wurde ich zur stellvertretenden Schulsprecherin an meiner Schule gewählt. Ich
fühlte mich geschmeichelt. Was genau ich machen sollte – außer einmal im Jahr
die Fahrt der Schülervertretung in die Xantener Villa Kunterbunt mit zu organisieren, wusste ich
nicht so recht. Doch glücklicherweise habe ich einen Vater, der damals Lehrer war und das
Recht auf Mitbestimmung von Schüler*innen sehr ernst nahm. Er gab mir einige Handbücher
für die Schülervertretungsarbeit mit. Darin stand etwa: "Sich einmischen,
mitreden, mitgestalten und mitentscheiden ist der Kern von Demokratie. Die
Schule ist nicht nur für die Vermittlung von Kenntnissen und Kompetenzen,
sondern auch für die Vermittlung grundlegender Werte verantwortlich. Dazu
gehört vor allem auch die Übernahme von Verantwortung für sich und andere und
die demokratische Teilhabe und Partizipation." Ich lernte, dass die
Selbstverwaltung und Mitbestimmung von Schüler*innen und Studierenden ein
langer Prozess war, eine Errungenschaft der demokratischen Bestrebungen seit
1848, Ähnliches gilt für die Hochschulautonomie, also das Recht der Hochschulen,
trotz öffentlicher Trägerschaft, auch eigenständige Entscheidungen zu
treffen.
Die
Worte beeindruckten mich kaum. Es gab wenig Anlass für mich, die mir
aufgetragenen demokratischen Pflichten auszuüben. Demokratie erschien
uns selbstverständlich. Wir waren viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt, um die
Schule – geschweige denn die Welt – zu verändern. Das Einzige, was damals auf
der Agenda stand, war der Wunsch der Schüler*innen, einen Cola-Automaten im
Aufenthaltsraum aufzustellen, da es nur einen Kiosk gab, der aber nicht die
ganze Zeit geöffnet hatte und der vor allem Milch verkaufte. Statt für eine
gerechtere Schule, setzten wir uns für das Recht auf ungesunde Kapitalistenbrause
ein. Manch ein*e Lehrer*in mag das albern gefunden haben, doch die Schulleitung
nahm nach ein paar Diskussionen unser Anliegen ernst, und schließlich wurde der
Automat aufgestellt.
Die Berliner Alice Salomon Hochschule bildet Menschen – früher ausschließlich Frauen – für soziale Berufe aus. Im April 2016 wandte sich der dortige Allgemeine Studierendenausschuss, kurz Asta, ans Rektorat mit der Bitte, sich das seit 2011 an der Südfassade des Gebäudes groß aufgemalte Gedicht von Eugen Gomringer mit dem Titel avenidas mal genauer anzuschauen. Gomringer hatte 2011 den Alice Salomon Poetik Preis gewonnen und zu diesem Anlass der Hochschule das Gedicht geschenkt. Nun stehen dort (noch) auf Spanisch die Zeilen: "Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer".
Der Asta
befand 2016 in einem offenen Brief, dass das bedeutende Werk aus dem Jahr 1951 ein
altmodisches Frauenbild transportiere, und Mitglieder des Gremiums an sexuelle Belästigung erinnere,
was zu ihrer Hochschule, die sich laut Leitbild als "Hochschule mit
emanzipatorischem Anspruch [die] dem gesellschaftlichen Auftrag Sozialer
Gerechtigkeit und kritischer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen
Entwicklungen verpflichtet", schlichtweg nicht passe. Dabei betonten
sie den Respekt für Eugen Gomringers Werk, das sie nicht angreifen wollen.
Als im August
2017 bekannt wurde, dass der Hochschuldirektor das Anliegen – trotz
gegenteiliger persönlicher Meinung – ernst nahm und Studierende dazu aufrief,
Vorschläge zur Neugestaltung der Fassade einzureichen, begannen Feuilleton,
Lokal- und Boulevardpresse das Anliegen zu kommentieren: Das Gedicht sei
überhaupt nicht sexistisch, es sei große Kunst (was einander im Übrigen nicht
ausschließt), die Forderung der Studierenden überspannt und so weiter. Unbeeindruckt
von der schlechten Presse sowie der scharfen Verurteilung durch die Jury des
Poetik Preises leitete das Hochschulrektorat den partizipativen Prozess ein. Sie
ließ eine Onlineabstimmung der verschiedenen Vorschläge durchführen,
erarbeitete Kompromissvorschläge und gab schließlich die Entscheidung des
Akademischen Senats bekannt: In Zukunft werde die Wand wechselnd mit Gedichten
verschiedener Lyriker*innen bespielt, das Gedicht Gomringers solle auf einer
kleineren Tafel an der Wand stehen bleiben.
"Bravo", freut sich mein Schülervertretung-Ich: ein
toller Kompromiss. Das Anliegen der Studierenden hat Gehör gefunden, an der
Fassade wird weiterhin Kunst gezeigt, der Prozess bleibt nachvollziehbar und
Gomringers Gedicht ist trotzdem zu lesen! Toll. Doch scheine ich mit meiner
Begeisterung recht einsam zu sein.
Stattdessen wurde – und wird – der Ton immer schärfer.
So nannte Christoph Hein, Ehrenpräsident des deutschen PEN-Zentrums, schon im September das Anliegen einen "barbarischen Schwachsinn"
und bezeichnete den Asta als "Kulturstürmer". "Zensur" tönt es landauf, landab. Eugen Gomringers Tochter Nora erklärt in mehreren Beiträgen,
dass das Gedicht schlicht falsch interpretiert wurde und ruft auf Instagram zu seiner Verbreitung auf.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) betrachtet das Anliegen als einen Akt der "Kulturbarbarei". Die Welt titelt: "Sprachpolizei: Stoppt die neuen Tugendterroristen!" Die Zeile unterscheidet sich wenig von der Rhetorik des rechtspopulistischen
Mediums Russia Today, das von "Feminismus als Terror" spricht. Der Axel-Springer-Verlag
entschied, den auf seinem Verlagsgebäude befindlichen Schriftzug, der
seit einigen Monaten mit dem #freedeniz-Hashtag an den unrechtmäßig in
der Türkei inhaftierten Welt-Journalisten Deniz Yücel erinnert, durch das
Gedicht avenidas zu ersetzen. Damit insinuiert er eine Parallele zwischen
den Vorgängen an der Hochschule und dem autoritären Vorgehen des türkischen
Präsidenten Erdoğan, der willkürlich kritische Journalist*innen inhaftiert
und Menschenrechte verletzt. Drastische Worte, aufgeregte Taten, alles von
Menschen, die täglich mit Sprache arbeiten und sich ihrer Wirkung bewusst sind.
Kommentare
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". Vielleicht spielt auch eine Portion Klassendünkel eine Rolle. Schließlich handelt es sich hier um eine Hochschule, die Studiengänge der Sozialen Arbeit, Pädagogik und aus dem Gesundheitsbereich anbietet. "
ich mache mir eher sorgen wie die studenten, die nicht mit diesem harmlosen gedicht zurecht kommen, später einmal im berufsleben klarkommen wollen. gerade im bereich soziale arbeit und pädagogik muss man mitunter wesentlich mehr ertragen als einen mann, der frauen bewundert.
Wer sagt denn, dass sie "nicht damit zurechtkommen"? Es gab eine Inititative die sich dafür eingesetzt hat, dass ein anderes Gedicht die Fassade schmückt. Mit Erfolg.
Ich mache mir über Menschen, die bereit sind, an der Gestaltung ihrer Umgebung mitzuarbeiten und zu planen, überhaupt keine Sorgen, dass sie mit irgendetwas "nicht zurechtkommen".
Man muss nicht alles einfach akzeptieren, wie es ist, denn dann ändert sich nie etwas.
Man kann auch ein schlechtes Gedicht hängen lassen. Auch eines, das falsche Menschenbilder transportiert, wenn es denn falsche Menschenbilder gäbe. Man muss es aber auch nicht ewig und in Stein gemauert beibehalten, wenn es keiner mehr mag. Ich finde das Gedicht doof. Aber es ist nicht perfide oder manipulativ oder ekelhaft oder allzu witzig, wie es zum Beispiel jede Werbung ist.
Vielleicht ist es doch eher eine Frage des Gefallens, als der Politik.
Alles ist Politik, alles ist Kunst sind zwei zu sehr totale Ansichten.
Sich über Kunst und die Aussage eines Gedichtes zu streiten ist eine gute Sache. Die Asta sagt sinngemäß "Mir gefällt das Gedicht nicht, wollen wir nicht ein anderes haben?" das ist doch ok. Kunst sollte nicht heilig sein.
Für die Beseitigung wirklicher Misstände wie sexuelle Übergriffe, Nachteile auf dem Karriereweg oder soziale Unterdrückung in bestimmten Kulturkreisen bringen diese symbolischen Feldzüge gegen angeblich strukturelle Überdrückung so gut wie nichts.
Das ist, finde ich, allgemein so. Es werden Themen an erste Stelle genagelt, die absolut nebensächlich sind. Wirklich wichtigen gesellschaftliche Themen werden darunter regelrecht verkleistert.
Und es ist kein privates Gebäude eines Unternehmens, es ist ein öffentliche Schule. Das macht schon noch ein Unterschied.
Aber die koennen nichts anderes als symbolische Feldzuege. Stellen sie sich mal vor, die waeren alle konstruktiv zugange, dann kaeme ja malw as dabei raus, so wird lediglich Schaum geschlagen und bringt damit mehr gegen sich auf als man eigentlich gewinnt, vermutlich ist das sogar Absicht , um sich dann noch besser als Opfer stilisieren zu koennen.