Deutschland, 70 Jahre nach der letzten Kriegsepoche. Die Klimakatastrophe dräut am Horizont, während die Regierung mit kleinen, zumeist nur rhetorischen Korrekturen den Status quo zu erhalten sucht. Eine bleierne Zeit, über die die Wissenden später einmal sagen werden: Uns haben zu wenige geglaubt, bevor sie selbst zu leiden begannen. In diese Zeit fällt der Hilfeschrei eines freien Denkers – doch das System schlägt mit voller Härte zurück.
So weit der Klappentext eines dystopischen Romans, wie ihn die Gegenwart gerade zu schreiben scheint. Der Stoff ist perfekt. Da ist der Einzelne, der YouTuber Rezo, der sich mit einem dringlichen Anliegen über einen allen zugänglichen Kanal Gehör verschafft. Und da ist ein staatstragender Apparat, da ist die CDU, die alle Kritik diskreditiert, verschleppt, verhöhnt, verschweigt und aussitzt.
Die Frage ist nur: Wessen Unglück beschreibt diese Dystopie? Wird unser Held und Videobotschafter ein Opfer sein? Oder doch eher die Partei, die gerade gegen ihn in die Schlacht zieht wie ein letztes Ritterheer, das im Pfeilhagel einer moderneren Kriegstechnik untergeht? Oder geht sogar ein ganzes System unter? Unser System, dessen 70. Geburtstag wir gerade gefeiert haben?
Um diese letzte Frage einigermaßen beantworten zu können, müssen wir leider die spezifische Komik ausblenden, die im Clash "YouTuber versus CDU" liegt. Natürlich ist das alles lustig anzusehen: wie hüftsteife Christdemokraten die Pfade der tausendfach abgestimmten Kommunikation verlassen müssen und daran grandios scheitern; wie sie täppisch versuchen, in einer medialen Auseinandersetzung zu bestehen, die sie nicht gewinnen können, den Wirrwarr um das mögliche Antwortvideo eines etwas altväterlichen 26-Jährigen eingeschlossen.
Zu groß, zu träge, zu verantwortlich
Aber das Problem ist gar nicht die CDU, sie hat es grad nur. SPD, Grüne, Linke, FDP – manche wären vielleicht eher chaotisch als autoritär, sie alle würden aber genauso scheitern. Das Rezo-Video offenbart ein grundsätzliches Problem der parlamentarischen Demokratie im digitalen Zeitalter. Es offenbart die Unmöglichkeit, dem millionenfach vergrößerten Charisma des Einzelnen aus einer Partei heraus etwas entgegenzusetzen, das zugleich als repräsentativ für diese Partei wahrgenommen wird und Augenhöhe mit dem Individuum herstellt.
Was soll eine Partei in so einer Lage machen? Welche Optionen bleiben ihr denn, außer ein paar quadratische Statements, ein unglückliches Gesprächsangebot und ein skurriles Fakten-PDF?
Erste Möglichkeit: Lieber gar nicht reden, als Unsinn reden. Würde als Arroganz missverstanden.
Zweite Möglichkeit: Die eigene Politik sehr weitgehend infrage stellen. Geht nicht ohne Parteitagsbeschluss.
Dritte Möglichkeit: Sich das smarte Statement eines den Strukturen enthobenen Altmeisters nachträglich zu eigen machen. Ließe die jetzige Führung noch älter aussehen.
Es gäbe gewiss noch viel mehr gut gemeinte Ratschläge. Aber der neuen Macht des Einzelnen in den digitalen Hypezyklen würden auch sie nicht gerecht. Gegen die Einzelnen kann hierzulande langfristig keine demokratische Partei bestehen – so demokratisch diese Einzelnen, im Einzelnen, auch gesinnt sein mögen. Zu groß, zu träge, zu verantwortlich.
Selbst wer Rezos Aussagen wichtig und richtig findet, mag den gesellschaftlichen Zustand, den sein Video sichtbar macht, daher als bedrohlich einschätzen. Denn die nächstliegende systemimmanente Antwort darauf ist überaus gefährlich: Populistische Parteien mit frei agierenden Führerfiguren würden einem solchen Angriff natürlich viel leichter widerstehen. Sie könnten ein Ich gegen das Ich setzen, den Konflikt frei eskalieren lassen – und dann mal gucken, wer am Ende mehr Leute hinter sich versammelt. Man überlege sich gut, ob man diese Form demokratischer Öffentlichkeit wirklich will.
Was passiert, wenn Demokraten zu lange zögern?
Dystopien sind nun immer überzeichnete Versionen einer Zukunft, auf welche die Realität viel langsamer zumäandert, als sie uns zunächst erzählen. Und vielleicht wird ja auch alles gut! Vielleicht erkennen sich bald doch wieder alle Wählerinnen im Parteiensystem wieder, vielleicht sehen alle Autofahrer und Vielfliegerinnen ein, dass es ökologisch so nicht weitergeht, vielleicht erlebt auch die digitale Demokratie ein überraschendes Comeback auf großer Ebene und löst über direkte Mitbestimmungsmöglichkeiten alle Legitimitätsprobleme.
Dystopien sind zugleich aber auch viel mehr Gegenwart, als uns ihre Beschwörung der Apokalypse glauben lässt. Rezos Video mag eine Episode bleiben, und noch einige Wahlen mögen für die CDU glimpflich ins Land gehen, obwohl sie Klimapolitik eher mit schönen Worten als mit harten politischen Maßnahmen betreibt. Die Frage wird dann aber sein, als wie demokratietreu sich diejenigen erweisen, die in der Klimapolitik die größte Dringlichkeit sehen. Sind alle bereit, angesichts der wachsenden ökologischen Bedrohungen das Zaudern und Abwägen demokratischer Parteien weiter zu ertragen – und die damit verbundene Form der entseelten Kommunikation? Oder wird eine kritische Masse ein hartes Durchgreifen fordern?
Zusätzlich zu anderen, ohnehin demokratiefeindlich gesinnten Strömungen könnten sie die zweite deutsche Republik ernsthaft – für ein höheres Ziel – infrage stellen. "Die Zerstörung der CDU" heißt Rezos Video, dessen Legitimität im demokratischen Diskurs hier überhaupt nicht zur Debatte steht. Die hilflosen Reaktionen werfen aber die größere Frage auf, was zuerst kaputtgeht, die Umwelt oder die Parteiendemokratie.
Kommentare
Es offenbart die Unmöglichkeit, dem millionenfach vergrößerten Charisma des Einzelnen aus einer Partei heraus etwas entgegenzusetzen...
Es ist eine kleine, an sich bedeutungslose Frucht, die nur dann auf guten Boden fallen und wachsen und unermesslich groß werden kann, wenn andere der Meinung sind, dass es richtig ist, was sie benennt - nicht die Frucht ist das Problem, es ist der Nährboden des vorherigen Verhaltens, das keine andere Meinung als die eigene gelten lässt, und darum am Ende immer scheitern muss.
Respekt!
Für mich erinnert Rezo an den jungen Luther, der die offensichtliche Lüge des Ablasshandels - als einzelner - ans Tor nagelt.
Rezo nagelt es an den Bildschirm.
War die CDU denn früher besser? Man mußte damals immer auf die nächste Zeitung oder die morgige Tagesschau warten, und die CDU kommt jetzt etwas ins schnaufen, und reagiert verstört. Aber sonst hat sich doch nichts geändert. Da wurde nichts zerstört.
Jeglichen Kult um eine Führerfigur empfinde ich als abstoßend, egal ob die nun Donald, Greta oder Rezo heisst.
Wo sehen Sie einen Kult?
Sowohl Greta als auch Rezo haben einfach nur Sachen gesagt, die so in der Wissenschaft Usus sind - und von den politisch Verantwortlichen ignoriert werden.
Sie sind eher das Kind im Märchen von "Des Kaisers neue Kleider"
Hervorragend geschrieben und endlich mal ein Schlaglicht auf einen Faktor geworfen, den es zeitgemäß zu umzugestalten gilt => die Parteidemokratie.
"Wenn der Sturm kommt, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen". Aus meiner Sicht lässt sich zunehmend konstatieren, dass die Parteidemokratie kein geeignetes Mittel mehr ist, um zeitgerecht auf die drängendsten Probleme unserer Welt zu reagieren.
Man könnte zahllose Beispiele dafür anführen.
Und die am Schluss aufgeworfene Frage lässt sich leicht beantworten. Alternativen zu einer Parteidemokratie, mit denen wir (über)leben können, sind für mich vorstellbar, Alternativen zu einem intakten Planeten nicht.
Haben Sie vielleicht auch eine konkrete Vorstellung einer Alternative zur Parteiendemokratie?
Dann wäre ich wirklich interessiert, diese erläutert zu bekommen.
Ja, zum Beispiel, dass es nur noch Direkt-Kandidaten gibt (im Zeitalter des Internet kann sich ja jeder einer breiten Masse vorstellen und braucht dazu kaum Geld)
Und vor allem, es gäbe dann keine Alpha-Tierchen mehr, die alleine damit sie irgendwo oben stehen, alle anderen absägen und weg beißen.
Nennen Sie doch die Alternativen zu den Parteien.
Im Gesetzgebungsorgan bedarf es Mehrheiten, zumindest solange Gesetze formal-demokratisch zu Stande kommen.
Sicher können Sie diese Friktionen dann anders nennen. Faktisch dürfte sich da aber nichts ändern
Nein, leider nicht. Und Danke, dass Sie mich dafür nicht verurteilen. Ich bin weder Monarchist, Anarchist oder sonstwie rückwärtig orientiert. Ich bin aber der Überzeugung, dass es Bedarf für eine Neugestaltung der politischen Strukturen gibt, die ein effizienteres Regieren ermöglichen. Wir versuchen derzeit, die (immer akuteren) globalen Probleme der Zukunft mit Instrumenten aus dem letzten Jahrhundert zu lösen. Diese sind nicht per se schlecht, aber für die bestehenden Dringlichkeiten nicht mehr geeignet. Einen Kohleausstieg bis 2035 auszuhandeln mag demokratisch und der Weg des kleinsten gemeinsamen Nenners sein. Angesichts der Dringlichkeit der Klima-Problematik ist dieser Ansatz jedoch untragbar. Wenn das Haus begonnen hat zu brennen, reicht es nicht, darüber abzustimmen, wie viele Eimer Wasser und wie viele und wie viele Feuerwehrleute möglicherweise benötigt werden.
Aber ich kann Ihnen versichern, dass diese Einzelkandidation sich schnell wieder zu Fraktionen zusammenfinden werden, denn sonst werden Sie kaum eine funktionierende Gesetzgebung hinbekommen.
Führen Sie Ihre Idee doch weiter aus.
Aus jedem Wahlkreis, jedem Sprengel ein Direktkandidat, der von den Einwohnern des Wahlkreises gewählt wird.
Doch da setzt schon der "Wahlkampf" ein. Ich kann mir vorstellen, daß die Interessen in den einzelnen Wahlkreises an die Bundespolitik homogen sind.
Ist dem so, dann haben Sie im Parlament eine "Mehrheitsfriktion", ergo Partei
Ich vermute, er meint den weisen Herrscher, den Einen, die Eine, die die Menschheit ins Licht führt oder das chinesische Modell. Falls ich mit diesen Mutmaßungen daneben liegen sollte - sorry.
Ich stimme ihnen zu. Aber stelleb sie sich mal vor was passiert eine eine Partei die Parteiendemokratie abschaffen möchte und dem Wähler mehr Mitbestimmung durch direkte Demokratie ermöglichen möchte - dieser Partei könnte nachgesagt werden die Demokratie und damit das ganze System abschaffen zu wollen.
Ich empfehle, David van Reybrouks Buch "Gegen Wahlen" zu lesen.
Er schlägt darin eine Demokratie vor, in der normale Bürger per Zufallsverfahren und temporär in das Parlament berufen werden, ähnlich wie Schöffen ans Gericht. Mindestens aber in eine zweite Kammer, die als Korrektiv für das gewählte Parteienparlament dient.
Auf den ersten Blick ein verrückter Vorschlag, der aber nach Lektüre des Buches viel Sinn ergibt. So schafft man eine Gesellschaft, in der potentiell jeder politische Macht ausüben kann und durch die breite Beteiligung zugleich großen Konsens.
Wollen Sie ernsthaft ein Mehrheitswahlrecht? Da hätte bei uns die Union eine riesige Mehrheit, linke Abgeordnete gäbe es ein paar wenige und grüne fast gar nicht.
Schauen Sie sich mal das Konzept der "Liquid Democracy" an, das die Piraten damals ins Gespräch brachten. Ich fand die Grund-Idee sehr interessant und habe es sehr bedauert, dass die Piraten so schnell wieder in der Versenkung verschwanden, weil mir das ein Zukunftsfähiges Konzept (auf lange Sicht) zu sein scheint. Ich glaube, dass wir eines Tages etwas Ähnliches tatsächlich entwickeln und leben werden, aber mal sehen wie lange das noch dauert...
Keine Sorge, ich verurteile niemanden, der eine Kritik äußert, zwar keinen Alternativvorschlag machen kann, aber zu genau diesem Dilemma steht.
Ihr Beispiel mit dem Kohleausstieg, der " Weg des kleinsten gemeinsamen Nenners" ist, zeigt eben einen Nachteil der Demokratie auf - Entscheidungen dauern lange und sind oftmals nur bedingt nachhaltig.
Das ist aber kein Manko der Parteiendemokratie, sondern eines jeglicher Demokratie.
In Beitrag #16.2 wird als Alternative geboten, nur noch Direktkandidaten zu wählen. Macht das die Entscheidungen im Parlament schneller? Mal abgesehen davon, dass auch Parteien Direktkandidaten aufstellen können, werden sich auch die unabhängigen, in ihren Wahlkreisen gewählten Abgeordneten nach den Wünschen ihrer heimischen Wähler richten müssen, um ihrerseits wiedergewählt zu werden.
Das alles hilft nicht gegen das von Ihnen erörterte Problem.
Und wenn die Mehrheit gar keine schnellen und damit zwangsläufig auch schmerzhaften Lösungen will? Dann spielt die Art der Demokratie auch keine Rolle.
Wenn es nach Direktkandidaten ginge, hätte die CDU um die 80% der Sitze im Bundestag. Kann man natürlich machen, aber fänden Sie das wirklich gut?
"Dann wäre ich wirklich interessiert, diese erläutert zu bekommen."
verstehe ich Sie richtig:
die wahren Denker sind Ihrer Meinung nach also nur die, die andere zum Denken auffordern ….. oder wie?
...vor jeder Neuerung stand zunächst die Erkenntnis, dass die Gegenwart der Korrektur bedarf - diese Erkenntnis ist nicht nur legitim, sie ist Antrieb
...........und denken müssten dann alle, Sie leider auch.
Warum so latent aggressiv?
Mir ging es nicht darum, andere zum Denken aufzufordern, sondern erst einmal hinzuhören, was vom anderen noch so kommt. Und mit dem Konstruktiven, was über das bloße Beklagen eines Zustandes hinausgeht, setze ich mich sehr gerne auseinander.
Nur gut, dass der Kommentator, auf den ich geantwortet hatte, das von vornherein verstanden hat - Sie, hoffe ich, jetzt auch.
Entfernt. Bitte verzichten Sie auf überzogene Polemik. Danke, die Redaktion/at
Aleatorik.
Ein großer Teil der Politiker könnte per Zufall ausgewählt werden - das wären dann mal wirklich echte Bürger und nicht nur Juristen oder Lehrer.
Würde dem Prinzip der demokratischen Repräsentation und der Demokratie der Aufklärung gemäß deutlich näherkommen als das, was wir heute haben.
Warum wollen Sie da überhaupt Kandidaten? Es geht doch nur darum Fragen zu lösen, Systeme zu schaffen die Effizient, für alle gleich und verbindlich sind, nach den besten Erkenntnissen zu agieren. Für mich muss da keiner stehen, der einfach ein besserer, vielleicht charismatischer Verkäufer ist. Ich würde wollen, dass jeder Einzelne eine Stimme zu allen Fragen die die Gemeinschaft betr. abgeben kann. Das setzt Bildung, Aufklärung, eine andere Medienlandschaft und wirklich unabhängige Wissenschafftler voraus. Parteien sind für mich eher ein Problem, als die Lösung!