Ich bin keine Neurologin, keine Psychoanalytikerin, keine Logopädin. Ich entnehme kein Nervenwasser und leite keine klinischen Studien, interessiere mich aber für Tics und das Tourettesyndrom. So wie andere sich für Fußball oder Unterwassertiere begeistern, faszinieren mich Phänomene, die nicht beabsichtigt sind und das Unbewusste berühren.
Ausgelöst wurde dieses Interesse durch die Beobachtung einer Fremden in einer Kantine. Die Bewegungen der Frau, die eher schlicht gekleidet und wohl Anfang 40 war, waren so eigenartig, dass man sie auf den ersten Blick für ungeschickt hätte halten können. Aufgefallen war mir zuerst ihr doppelter Hüpfschritt – ein Stolpern wie ein Stepptanz. Für ein Missgeschick etwas zu dick aufgetragen. Elegant und laut, mir gefiel diese Mischung sofort. Zu ihren Bewegungen machte die Frau Geräusche. Ziemlich geschickt und scheinbar zielsicher, aber gleichzeitig seltsam automatisch und willkürlich. Kein Räuspern, Hüsteln, Nasehochziehen. Nichts Ekliges. Mit jeder Bewegung ein Geräusch. Der Transport des Tabletts in Richtung Kasse glich einer Choreographie, die Frau stellte das Tablett ab, schob es ein Stück, hob es an, stellte es wieder ab, alles wieder von vorn. Ich stand direkt hinter ihr. Wenn ich diesen Bewegungsablauf jetzt aufschreibe, sehe ich die Frau direkt vor mir und kann nicht aufhören, sie wie ein animiertes GIF in einen Loop zu schicken.
Auf dem Weg zum Tisch, ich folgte ihr lautlos, ein unauffälliger Rempler gegen ein anderes Tablett, ein kurzes Knirschen, kleine Verzögerungen im Gang, tack, taa-tack, der Biss in den Apfel, grrsch, noch während sie einen Tisch suchte. Dann seufzte sie dreimal kurz hintereinander, bevor sie sich setzte.
Es war, als sei ich in den ersten Kurzfilm von Chantal Akerman gefallen, Saute ma Ville: Ton-Bild-Scheren, Alltagsgeräusche, bizarre Rhythmen der Handlungen, die jederzeit aus dem Ruder laufen konnten. Ich konnte nicht wegschauen, setzte mich in die Nähe der Frau und fühlte mich sofort wie die beste Mitarbeiterin einer Detektei. Die Gesten der Frau wurden überpräzise, ihre Geräusche zur Melodie.
Doch das, was so schön komponiert erschien, war keinesfalls intendiert. Die Frau litt ganz offenkundig unter einer Tic-Störung, die eigenartigen Gesten und Geräusche entschlüpften ihr unbewusst, erfuhr ich bei den ersten Recherchen hinterher zu Hause.
Unter Tics versteht man spontane Geräusche, Wortäußerungen oder Bewegungen, die ohne den Willen des Betroffenen zustande kommen. Eine mir treffend erscheinende Beschreibung dieser komplexen Krankheit steht im Buch Der Tic, sein Wesen und seine Behandlung der französischen Neurologen Henry Meige und Eugene Feindel, dessen Übersetzung im Jahr 1903 auf Deutsch erschienen ist. Darin heißt es: "Es genügt nicht, daß eine Geste in dem Moment, wo sie auftritt, unangebracht ist: es muss vielmehr sicher sein, daß sie im Moment ihrer Ausführung mit keiner Vorstellung im Zusammenhang steht, der sie ihre Entstehung verdankte. Charakterisiert sich die Bewegung außerdem durch allzu häufige Wiederholung, durch beständige Zwecklosigkeit, stürmisches Drängen, Schwierigkeit im Unterdrücken und nachfolgende Befriedigung, dann ist es ein Tic." Meige und Feindel beobachteten, dass Tics häufig in ungleichen Intervallen auftreten und keinem Rhythmus folgen. Tics sind ungeordneter, als es die von mir beobachtete Szene erahnen ließ.
1884 wurde diese mysteriöse neuropsychiatrische Erkrankung von Gilles de la Tourette erstmals ausführlich beschrieben und von der Hysterie und Epilepsie abgegrenzt. Heute kann mithilfe bildgebender Verfahren lokalisiert werden, welche Areale im Gehirn bei einem "Anfall" arbeiten, nämlich die sogenannten Basalganglien, mehrere Kerngebiete des Endhirns unterhalb der Großhirnrinde.
Kommentare
"Und Tics besitzen sogar poetisches Potenzial." – sagen Sie das mal denen, die massiv unter Tics leiden ...
Nach so einem Vorspann, kann man sich wohl den Artikel komplett schenken.
Für mich war es interessant, *dass* es auch "poetisch" anmutende Tics gibt, weil ich davon noch nie gehört hatte. Dass das nur einen kleinen Bruchteil auch der Sprach-Tics ausmacht und so eine Krankheit für die Betroffenen eine massive Belastung ist, steht auf einem anderen Blatt. Und ja, ich hätte auch lieber einen Artikel von Jessica Thom selbst gelesen.
Jessica Thoms Webseite hat mich aber auch inspiriert. Neben der im Artikel verlinkten Tic-Sammlung findet sich dort auch ein höchst differenzierter, würdigender Blogartikel zum Thema Auswirkung der XR Proteste auf Menschen, die aufgrund einer körperlichen Behinderung auf einen Fahrer angewiesen sind und nicht einfach in die nächste U-Bahn springen können.
https://www.touretteshero.co…
Der Film "Ein Tick anders" ist uebrigens sehr sehenswert. Der wurde damals Leuten mit dem Tourette-Syndrom vorgefuehrt, welche von diesem nahtlos begeistert waren. Gab sogar nen trailer fuer diesen Film, in dem einige von ihm sprachen.
Im Film wirken diese Ticks teils lustig ,teils stressig, und wenn man genau hinschaut, ist die Hauptdarstellerin nicht die einzige mit einem Tick und doch wirkt alles auch ein wenig harmonisch, fast schon poetisch.
Natürlich haben die Dinge, die man nicht kennt, auch seinen Reiz. Aber als ich las, wie die Autorin die betroffene Person "heimlich" weiter beobachtete und ihr nachging, fühlte sich das für mich nicht gut an. Vielleicht hat die betreffende Person es durchaus bemerkt, dass sie beobachtet wird, aber es ist ihr ggf. auch zur Gewohnheit geworden, dass sie Blicke und Beobachter auf sich zieht.
Vielleicht wäre eine Frage an die betreffende Person ehrlicher gewesen, ihr bei der Recherche für einen Bericht als eigene Expertin zur Verfügung zu stehen?
Ich habe das so verstanden, dass besagte Beobachtung für sie eine Art Schlüsselerlebnis war und sie danach begann, sich für Tics zu interessieren. Also dass das schon ein paar Jahre her ist.
Und so gleichzeitig die Schönheit des Unbewussten aufblitzen lässt, das – wie der Psychoanalytiker Jacques Lacan in seinen berühmten Seminaren zu zeigen versuchte – wie eine Sprache strukturiert ist, also durch gesellschaftliche Strukturen wie auch durch eine gewisse Autonomie geprägt ist.
Diesen Satz möge mir bitte einer einmal erklären.
Unbewusste Handlungen (wie Tic's) sind kein reines Zufallsprodukt, daher ist eine Kunstform in ihnen möglich.
In engster Familie, ein Junge (10), durch die Trennung seiner Eltern plötzlich einen Tic entwickelt. Die Mutter schickt ihn durch die Mühle der Psychotherapie, Diagnose Tourette-Syndrom, Schuldzuweisung Vater, der Junge nicht genug vom Vater akzeptiert, etc.
Mit 15 Jahren zum Vater gezogen (abgeschoben), weil Pubertät mit der Mutter eskalierte (also nicht über das normale Maß hinaus), Tic nach 3 Monaten verschwunden, glückliches Ende ohne jede Poesie, Junge studiert und ist verliebt und alles und lebt immernoch beim Vater, heute 25 Jahre alt und seit 10 Jahren ohne Tics.
Tics sind immer ein Drama für die Betroffenen, da gibt es nichts zu relativieren.
In einer Talkshow auf SWR, nachtcafe. Während ein Gast in Aluanzug von seinem abgeschiedenem Leben im Wald erzählt, da er überempfindlich gegen Strahlung sei, macht ein anderer Gast laufend seltsame Geräusche. Als er dran ist, erklärt er, dass es nur auf diesem halbwegs erträglichem Niveau ist, da er vor der Sendung Cannabis konsumierte (legal, er hat eine Ausnahmegenehmigung). Ohne sähe er für sich keine Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Das Drama für die Betroffenen kann man nicht relativieren, aber man kann versuchen, es ihnen erträglicher zu machen und ihnen einen Platz in der Gesellschaft zu geben. Der Versuch einer Entstigmatisierung (so begreife ich den Artikel) gehört dazu.