Ich komme pünktlich um
zehn und sehe Bürgersteige voller Zelte. Einkaufswagen, in denen die spärlichen
Besitztümer der Bewohner*innen aufbewahrt werden. Paletten mit Dosenessen neben
gebrauchten Spritzen. Der Uringeruch beißt in der Nase. In der Regel treiben
die Einladungen des Goethe-Instituts mich in aufgeräumte Tagungszentren,
Galerien oder Theater. Das Thema Obdachlosigkeit, um das es im aktuellen
Projekt in Los Angeles geht, lässt sich abseits der Straße aber nun mal kaum
fassen. Vor einem Zelt, das er mit seinen beiden Pitbulls teilt, empfängt mich
Crushow Herring. Er ist Teilnehmer der Konferenz Worlds of Homelessness und hat mich
eingeladen, ihn hier zu interviewen. Als ich ankomme, fegt er den Bürgersteig,
plaudert mit Nachbar*innen aus den Zelten nebenan. Und ich staune. Über Skid
Row, das als eines der gefährlichsten Viertel von L.A. gilt und für Herring schlicht
freundliche Nachbarschaft zu sein scheint.
Bislang sind sämtliche
Versuche gescheitert, die Zeltstadt in Downtown L.A. mit ihren mehr als 2.000 Bewohner*innen zu
räumen. "Zustände wie in der Dritten Welt",
schrieb der Völkerrechtler Philip Alston vergangenes Jahr in einem UN-Bericht über
das 50 Blocks große Viertel, in dem seit Beginn des 20. Jahrhunderts arme und
marginalisierte Angelenos leben. Stoisch beobachtet Herring den Mann von der
Stadtreinigung, der die gelben Graffiti-Botschaften hinter seinem Zelt
übermalt. "Junkie-Asyl", "Vorort zur Hölle", lauten gemeinhin die
Zuschreibungen von außerhalb des Viertels. Doch Herring kann damit nichts anfangen. Er ist freiwillig hier – und
zwar deutlich öfter als bei seiner Frau und den Kindern in Long Beach.
Eigentlich müsste er nicht mehr in Skid Row leben. Vor knapp 20 Jahren schlug er als erfolgloser Basketballspieler ohne Job und Wohnung hier auf. Dealte, wie so Viele, mit Crack, um über die Runden zu kommen. Der Kontakt zu Sozialarbeiter*innen und Künstler*innen im Viertel aber hat Herrings Leben verändert. Die eigenen Kunstprojekte interessierten irgendwann auch jenseits von Skid Row, das toughe Image des Viertels faszinierte die Galerist*innen. Doch zumindest phasenweise wohnt er noch hier, will jetzt andere unterstützen. "Vielleicht, weil es der einzige Ort war, an dem ich damals willkommen war", sagt er und winkt Menschen zu, von denen manche mehr tot als lebendig an uns vorbeischlurfen. Auch Mitarbeiter*innen von Drogenpräventionsprojekten und der Jobvermittlung grüßen den 42-Jährigen. Menschen vor Kirchen und Suppenküchen, die Sprayer im Park.
Am Abend wird Herring auf
dem Podium des Goethe-Instituts sitzen, am Wochenende ein Musikfestival
moderieren. Er bewegt sich zwischen hippen Galerien und Nachbarschaftstreffen,
organisiert Workshops, schafft Toiletten für die Community mit ran. Fast riecht
seine Geschichte ein bisschen nach Hollywood, aber fürs Kino fehlt Skid Row die
Romantik. Viele hängen schlicht hier fest: Frauen, die sich vor gewalttätigen
Männern verstecken, Abhängige, die fast alles für den nächsten Schuss tun,
Zwangsprostituierte, Traumatisierte. Doch selbst sie scheinen in Skid Row eine
Art Zuhause gefunden zu haben. "In Obdachlosenheimen hat man ein Dach über dem
Kopf, hier gehört man dazu", sagt Herring schlicht.
Stadtplaner*innen
erforschen das Phänomen informeller Strukturen längst mit großem Interesse.
Suchen weltweit nach angemessenem Umgang mit den Konsequenzen städtischer Verarmung.
"Menschen, die sich formellen Wohnraum nicht leisten können, schaffen sich
eigene Lösungen", schreiben Fabian
Frenzel und Niko Rollmann in der taz. Zwar ist Skid
Row bereits die Art von stigmatisiertem Ghetto, vor dem sie tendenziell warnen.
Doch gezwungenermaßen trägt gerade hier die Gemeinschaft. "Friday?", ruft eine
junge Frau Herring im Vorbeigehen zu. "Friday!", antwortet er. Mal wieder eine
Beerdigung.
Kommentare
"Skid Row gilt als eines der gefährlichsten Viertel von Los Angeles. 2.000 Obdachlose leben hier in Zelten. Für Stadtplaner und Soziologinnen eine Herausforderung."
Der Einleitungstext stellt eine erschütternde Missachtung des zur Zeit politisch korrekten Lese-Stolper-Modus dar.
Richtig muss es heißen (wie auch im Rest des Artikels):
Skid Row gilt als eines der gefährlichsten Viertel von Los Angeles*innen. 2.000 Obdachlose leben hier in Zelten. Für Stadtplaner*innen und Soziologen*innen eine Herausforderung.
Ja, sie mögen recht haben. Das Binnen * ist schrecklich, aber eigentlich sollte man sich auf den Inhalt konzentrieren. Zugegebenermaßen wird man dadurch erhelich gestört.
"Wie die Preise innerhalb der letzten zehn Jahre durch ausufernde Immobilienspekulation durch die Decke gingen. Und die Obdachlosenzahlen auch dort steigen – selbst wenn die Zustände längst nicht so dramatisch sind wie in L.A. Und Zeltsiedlungen ohnehin meist reflexartig abgerissen werden."
In Berlin gibt es Zeltsiedlungen, die reflexartig abgerissen werden?
In Berlin gibt es Zeltsiedlungen, die reflexartig abgerissen werden?
Ja.
https://www.tagesspiegel.de/…
"Für Stadtplaner und Soziologinnen eine Herausforderung."
Gut, das das Problem keine Herausforderung für Stadtplanerinnen und Soziologen ist.
Das habe ich jetzt nicht verstanden.
Pardon, Stadtplaner seien männlich, Soziologinnen weiblich?
Dies ganz ohne Arg in den Raum gestellt.
Steht doch schon in der Bibel... sie stellen Fragen.