Mit seinem letzten Film Happy-Go-Lucky überraschte Mike Leigh sein Publikum. So unbeschwert kam dieses Porträt einer überdrehten, aber liebenswerten 30-jährigen Grundschullehrerin daher, dass sich die Anhänger des Regisseurs wunderten, wo denn nun die ausweglosen Schicksale der britischen Arbeiterklasse blieben, mit denen er sich sonst so eindringlich beschäftigt hatte.
Nun hat Leigh zurück zur Düsternis gefunden, auch wenn Another Year zunächst einen anderen Anschein erweckt. Im Zentrum des Films stehen nämlich Tom und Gerri, ein harmonisches Paar um die 60. Die beiden heißen nicht zufällig wie das bekannte Cartoon-Duo, sie bilden den heiteren Mittelpunkt der verlorenen Seelen in ihrer Umgebung: Gerris Arbeitskollegin Mary (Lesley Manville) zum Beispiel, die sich vor Sehnsucht nach einem Mann genau so verzehrt wie nach dem nächsten Glas Wein; und Toms alter Kumpel Ken (Peter Wight), der dasselbe tut und zusätzlich tonnenweise Essen in sich hineinstopft.
Die beiden Unglücklichen sitzen abwechselnd in Tom und Gerris gemütlicher Küche in einem Londoner Vorort, trinken Tee und Wein, lassen sich bekochen und befragen, wie es ihnen denn so gehe. Die Gäste nehmen die ungewohnte Zuwendung gern an und genießen das warme Nest, das das Paar ihnen bietet. Und wenn Mary wieder mal zu viel Wein erwischt hat, schläft sie einfach im ehemaligen Zimmer von Joe, dem erwachsenen Sohn von Tom und Gerri.
Die Konversationen sind geprägt von der liebevoll-schnoddrigen Kumpeligkeit der britischen Middle-Class. Wenn es zu ernst wird, haut Tom (Jim Broadbent) ein paar Kalauer heraus. Und wenn es noch ernster wird, nimmt Gerri (Ruth Sheen), die immerhin Sozialarbeiterin ist, den Gast in den Arm.
Über Frühling, Sommer, Herbst und Winter, über das titelgebende "weitere Jahr" im Leben dieses Paars, zieht sich der ruhige, besinnliche Film. Außer dem Wetter und Tom und Gerris Schrebergarten verändert sich nur eines: Der Sohn Joe (Oliver Maltman) lernt endlich eine Frau kennen. Sie ist – wen wundert's – die ideale Schwiegertochter: lustig wie der Papa und gefühlvoll wie die Mutter.
Another Year ist auf den ersten Blick ein einfacher Film: Ein glückliches Paar bietet den Mühseligen und Beladenen ein Obdach. Man kann das Kino verlassen und lediglich diese Botschaft mitnehmen. Aber je länger man den Film nachhallen lässt, umso mehr Türen öffnet er dem Betrachter. Man kann sich aufregen darüber, dass die Charaktere von Tom und Gerri ohne Tiefe und ohne eigene Konflikte gezeichnet sind. Oder dass sie ihren unglücklichen Freunden nur so lange geduldig ein Obdach bieten, bis der Sohn Joe endlich mit einer Freundin vor der Tür steht und damit die eigentliche Familie komplett ist. Oder aber man verzweifelt an der Unbeweglichkeit von Mary und Ken, die irgendwo zwischen Pubertät und Pensionierung hängen geblieben sind, unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen.
Kommentare
Habe den Film gerade gesehen und muss ein bisschen "reklamieren"
"...sie ihren unglücklichen Freunden nur so lange geduldig ein Obdach bieten, bis (....) die eigentliche Familie komplett ist."
"...Mary und Carl, die sich so ähnlich in ihrer Angst vor der Einsamkeit und ihren Verdrängungsmechanismen sind...."
Frau Ströbele, beide Interpretationen sind für mich nicht nachvollziehbar, zum ersten ist die plötzliche Distanziertheit zu Mary auf deren ekliges Verhalten gegenüber der Freundin des Sohnes zu beziehen und zweitens wird diese Distanz nicht aufrechterhalten. Was Carl angeht, so weiss man eigentlich gar nichts über ihn, ausser dass er soeben Witwer geworden ist, entsprechen geschockt wirkt, und sein Sohn ihn hasst. Parallelen zu Mary sind pure Spekulation.
Ich habe den Film genossen, auf Englisch, die Schauspieler sind grandios, übrigens auch die Musik und die Kamera. Was für ein Jammer, dass es in D immer diese grauenvollen Synchronisationen gibt, als könnten die Leute, die in so einen Film gehen, nicht mindestens Untertitel lesen...
Reklamation und Synchronisation
Kurz zu Ihrer Reklamation. Frau Ströbele bezieht sich bei ihrem Vergleich auf Mary und Ken, nicht auf Carl (dem Bruder von Tom). Finde die Anmerkung zu den beiden sogar sehr treffend.
Meiner Meinung nach ist der Riss zwischen den Arbeitskolleginnen Gerri und Mary doch sehr nachhaltig. Die Beziehung wird nie mehr so wie vor dem Eklat mit der potentiellen "Schwiegertochter". Sie ist ganz alleine in der letzen Einstellung.
Das Thema Synchronisation taucht immer wieder auf.
1. Synchronisation schafft Arbeitsplätze, und die Sprecherlandschaft in Deutschland ist vielfältig und interessant.
2. Sie ermöglicht es auch bildungsfernen Schichten, die nicht in einem "interkulturellen Friedensschulrahmen" mit bilingualem Background aufwachsen (ich meine nicht die Hauptschule, sondern Schulen wo die Eltern bezahlen...), anspruchsvolle Filme zu gucken und insgesamt an dem Medium Film teilzuhaben. Zusätzlich auch die Muttersprache weiterzuentwickeln können.
3. Es gibt Filme die sind synchronisiert schlechter als das original; es gibt sicher genauso viel wo es umgekehrt ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass es gewisse Veränderungen gibt, ob es zu einer „Verfälschung“ des Originals kommt muss im Einzelfall diskutiert werden.
4. Pluralität: Sie können es sich aussuchen ob Sie ins "Original" gehen, oder in die Synchronfassung. Das ist Luxus.
Problem: Sicher gibt es nicht überall Kinos die OV anbieten.
Ist das harmonische Pärchen mitschuld?
Gut an ihm finde ich dass er wahrscheinlich sehr unterschiedliche Reaktionen auslösen wird.
Da ist ein Paar, welches durch scheinbar nichts aus der Ruhe zu bringen ist. Sie führen eine glückliche Beziehung. Um sie herum, viel Frust, Alkohol und Egozentrismus (der bei Mary ist kaum zu ertragen). Ihnen scheint es zu gelingen sich von den Problemen der anderen sehr gut abzugrenzen und "weise" die zeit vergehen zu lassen. Sie äußern sich nicht konkret, sondern nur nonverbal, zu dem Verhalten der anderen.
Und das ist genau der Punkt: Für mich stellt sich eben auch die Frage, ob die beiden nicht auch eine gewisse Verantwortung für die Personen in ihrem Umfeld tragen. Sie umgeben sich in ihrer Freizeit eben nicht mit Bekannten die auf einer Augenhöhe agieren. Sie sagen eben nicht, "bis hierhin und nicht weiter".
Beispiel: Thema Alkoholkonsum von Mary, wo keiner beiden Position bezieht. Konkret merkt der Zuschauer durch Blicke und Verhalten der beiden, dass sie es nicht für gut befinden. Dennoch lassen sie Mary total dicht den guten Freund und den Sohn durch die Gegend kutschieren. Erst als sie merken dass diese eifersüchtig auf die Freundin ihres Sohnes reagiert, wird sie "verstoßen".
Sicher folgen sie da ihren Instinkten die Kleinfamilie zu schützen, was Gerry auch Mary gegenüber äußert indem sie sagt es geht um ihre Familie.
Das ist meine Wahrnehmung. Denke da gibt es sehr unterschiedliche, da jeder anders aufgewachsen ist. Und genau deshalb ein guter Film.
zwiespältige Gefühle
Ich bin total zwiegespalten, schauspielerisch ist der Film eine Wucht, aber die Geschichte, die erzählt wird, bzw. die Beziehungen, die dargestellt werden, haben mich nur wütend gemacht, teilweise konnte ich es kaum ertragen, weiter zuzuhören/zuzuschauen. Tom und Gerri, die "Gutmenschen", umgeben sich jenseits ihres Sohnes und dessen neuer Freundin ausschließlich mit psychischen Wracks, gebieten weder Marys noch Kens Egozentrik Einhalt, sondern beschränken sich darauf, sich durch vielsagende, stumme Blicke untereinander und durch eindeutig ablehnende Kommentare hinterher, auch im Austausch mit dem Sohn, nachträglich über sie zu erheben. Geht man so mit "guten Freunden" um? Gerri ist angeblich 20 Jahre mit Mary befreundet und lässt diese ungehindert bechern, was das Zeug hält, erst als es um ein potentielles neues Familienmitglied geht, die von Mary abwertend beurteilt wird, spricht sie davon, von dieser "enttäuscht" zu sein und rät ihr, einen Therapeuten aufzusuchen.
Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was Gerris Interesse an der Freundschaft zu Mary ist? Von gleicher Augenhöhe kann jedenfalls keine Rede sein, aber vielleicht ist es ja gerade das, sich überlegen fühlen zu können, angesichts des Elends der "Freundin", was diese Beziehung für Gerri attraktiv sein lässt. Und das finde ich äusserst fragwürdig.
Eindrucksvoller Film, der jedoch Wutgefühle hinterlässt ...
Dem vorhergehenden Kommentar von "imme13" kann ich nur zustimmen, mir ging es genauso. Ich war am Schluss des Films einfach nur wütend auf "Gerri mit der blütenweissen Weste", die behauptet dass Mary sie enttäuscht habe, wobei es doch genau umgekehrt war: Gerri hat Mary komplett fallengelassen, und die einzig wirklich Enttäuschte ist Mary.
Die Kritik von Frau Ströbele finde ich sehr zutreffend, es ist die einzige Filmkritik die ich gefunden habe, die auf diese Problematik eingeht. In den anderen Kritiken werden Gerri und Tom als "Lichtgestalten" definiert, was ich absolut nicht nachvollziehen kann.
Zurück bleibt insgesamt ein eindrucksvoller Film, der mich - wie schon lange kein Film mehr - sehr beschäftigt! Zugleich aber bin ich wütend über die Figur Gerri, die ich im ersten Teil des Films ganz toll fand, die mich aber nach der "Verstoßung" von Mary einfach nur enttäuscht hat, und deren Oberflächlichkeit fast unerträglich wurde.
Die Schauspieler waren alle super, der Film ist beeindruckend, trotzdem möchte ich nach einem Kinobesuch nicht unbedingt Wutgefühle verspüren ...