ZEIT ONLINE: In Ihrem Film Oh boy, der jetzt in acht Kategorien für den deutschen Filmpreis nominiert ist, driftet ein Endzwanziger einen Tag lang durch Berlin. Wieso heißt der Film Oh boy? Ist man mit Ende 20 nicht langsam ein Mann?
Jan Ole Gerster: Sollte man sein. Aber 30 ist das neue 20. Es haben sich erschreckend viele Leute mit der Figur des Niko Fischer identifiziert. Offensichtlich ist es bezeichnend für diese Generation, dass sie an der Fülle von Möglichkeiten, die sie so hat, auch verzweifelt, oder dass ihre Freiheit zu einer Blockade führen kann.
ZEIT ONLINE: Im Film wirft der Vater dieses jungen Mannes seinem Sohn vor, dass er immer alles bekommen habe: Musikstunden, Capoeira-Unterricht... aber sich für nichts je langfristig entschieden hat. Hängt er einer überkommenen Vorstellung an?
Gerster: Meine Eltern konnten mit Begriffen wie Selbstverwirklichung und Selbstsuche nicht viel anfangen. Es herrschte ein ganz lebensnaher Pragmatismus. Da ging es um Karriere, was sich weitestgehend über einen Job, der viel Geld bringt, definierte, und darum, Sicherheiten zu schaffen. Sicherheiten übrigens für die Kinder – also für uns – die jetzt von den Möglichkeiten profitieren.
Aber auch ich habe irgendwann so etwas wie eine Überforderung empfunden. Durch die Medien wird permanent ein Bild kolportiert, wie ein optimales Leben auszusehen habe, das reicht heute noch viel weiter: von "Karriere und Geldverdienen" bis hin zu "auf dem Bauernhof leben und Möbel entwerfen".
Tom Schilling: Vielleicht ist auch eine Menge Scham dabei. Das Leben kann recht hohl sein, wenn man das Gefühl hat, dass man mehr Möglichkeiten hat und in besseren Verhältnissen aufwächst als 98 Prozent der Menschen. Privilegierter als Niko kann man schließlich nicht aufwachsen. Dieses Gefühl wird auch in der Literatur aufgegriffen. Bret Easton Ellis beschreibt die spoiled LA Kids, die an tollen Universitäten studieren und trotzdem, wenn sie über ihr Leben nachdenken, eine gewisse Leere und Traurigkeit empfinden.
ZEIT ONLINE: Schämt sich Ihr Niko Fischer?
Schilling: Durch die Art und Weise, wie er hinguckt, erkennt er, dass die Leute nicht glücklich sind, dass zwar scheinbar alles ganz gut funktioniert, aber unten drunter eine tiefe Unzufriedenheit herrscht. Vielleicht ist es auch eine existenzielle Angst davor, dass das, was man – ungerechtfertigterweise? – hat, schnell weg sein kann. Diese Angst kann bei manchen sogar zu einer gewissen Grundaggression führen.
ZEIT ONLINE: Kennen oder kannten Sie auch dieses Hadern und Zweifeln?
Gerster: Absolut. Das Buch, das ich geschrieben habe, war ein Resultat dieser Phase, in der ich alles in Frage gestellt habe. Mit Anfang 20 dachte ich noch, ich könnte die Welt erklären. Sechs, acht Jahre später war davon nicht mehr viel übrig. Zum Glück habe ich daraus den Film zu einem Zeitpunkt gemacht, zu dem ich das schon ein bisschen ironisch sehen konnte.
ZEIT ONLINE: Waren Sie danach "erwachsener"?
Kommentare
Berliner 30
"Offensichtlich ist es bezeichnend für diese Generation, dass sie an der Fülle von Möglichkeiten, die sie so hat, auch verzweifelt, oder dass ihre Freiheit zu einer Blockade führen kann."
Pauschale Aussagen wie diese ärgern mich, weil sie meistens von Erfahrungen in einem bestimmten Milieu ausgehen. Es mag sein, dass viele aus der kreativen Szene in Berlin diese Blockade und Unentschlossenheit empfinden, aber die Mehrheit der 30-jährigen in Deutschland lebt gar nicht so. Die Mehrheit der 30-jährigen hat einen festen Beruf, schon geheiratet und bekommt derzeit das erste Kind, baut vielleicht ein Haus. Da solche Leute in der "Provinz" leben und Herrn Schilling und Herrn Gerster nicht begegnen, wissen sie aber nichts von ihnen und stellen unverdrossen Generationsdiagnosen auf, ebenso wie es viele Feuilletonautoren tun. Ich versuche derzeit ein Gegen-Projekt aufzubauen, um diese Klischees zu thematisieren: http://gloriousthirty.wordpr…
seit wann
bemisst man Änderungen von Generation von Generation an dem Teil der Bevölkerung, wo sich in 100 Jahren bis auf technische Änderungen sonst nichts ändert?
ich bin jetzt 38 Jahre alt, und auch ich hatte schon das Problem, in meiner Schulzeit allen Sport, alle Musik etc. machen zu können, auf die ich Lust hatte - vielleicht war das in der ehem. DDR sogar noch extremer als in der BRD, da schlicht die Freizeitbeschäftigungen nichts kosteteten.
So war ich Kajake, lernte Kontrabass, hatte Gesangsstunden, war im Zirkel "Junge Historiker" an Ausgrabungen beteiligt, etc.
dann macht man irgendwann Abitur, bekommt das Büchlein "Studien- und Berufswahl" 1992/1993 in die Hände mit 100en von Studienangeboten - man kann ja nicht nur Jura, Lehramt, Medizin und Thelogie studieren, sondern Sorbistik, Abwasserwirtschaft oder Bibliothekswesen auch...
woher weiß ich aber bitte mit 19, was das richtige für mich ist? in den Generationen vor mir gab es dafür grundlegende Vorgaben (und die eben bis heute auf dem Lande auch) - nämlich: mach das, was deine Eltern für das richtige halten oder etwas, mit dem man viel Geld verdienen kann.
Die Eltern wissen heute aber nicht mehr, was das richtige für ihre Kinder ist, und womit man viel Geld verdienen kann, weiß man eben heute auch nicht so recht, Ärzte gehören nicht mehr zu den Bestverdienern, Juristen arbeiten oft berufsfremd, etc.
was also tun?
mal schauen, heißt die Devise.
Das betrifft nahezu alle Altersklassen
Nicht nur ist 30 das neue 20, scheinbar ist auch 40 das neue 30, 50 das neue 40, 60 das neue 50 usw.
Ich mache mit Mitte Vierzig Dinge, die meine Eltern in dem Alter sicher nicht mehr gemacht haben. Es ist doch heute zum Glück so, dass wir in einer überwiegend eher altersmäßig schwer zuortbaren Zeit leben. Das hat nicht unbedingt etwas mit Unverbindlichkeit (ich habe einen Beruf, Kinder, eine Wohnung) zu tun, sondern mit dem Ausschöpfen von Möglichkeiten. Warum sollte man sich von einem bestimmten Alter limitieren lassen, wenn man einfach Lust darauf hat, etwas zu tun?
stimmt
Nicht nur ist 30 das neue 20, scheinbar ist auch 40 das neue 30, 50 das neue 40, 60 das neue 50 usw.
...und manchmal, wenn man die Teenies sieht, hat man das gefühl, 15 ist das neue 5 (aber das ist sichert seeehr subjektiv...)
30 ist das neue 20
70 das neue 50
und einmal ist das Leben trotz aller Möglichkeiten plötzlich trotzdem rum.
Hoffentlich hatte man bis dann nicht nur Chancen, sondern hat auch mal welche wahrgenommen, selbst wenn es dann verbindlich wird.
"dass ihre Freiheit zu einer Blockade führen kann"
Ich denke es geht um viel mehr. In mir hat der Film eher das Bewusstsein über die Sinnlosigkeit unseres Karriere- und Konsumwahns erläutert. Für mich war Niko ein moderner Deserteur, einer, der einfach nicht mehr mitmachen will bei dem Wahnsinn.
Erwachsen werden
"Die Mehrheit der 30-jährigen hat einen festen Beruf, schon geheiratet und bekommt derzeit das erste Kind, baut vielleicht ein Haus."
"Obviously this is just as unreliable and unrepresentative of a generation as the articles I criticized above."
Begehen Sie nicht die gleichen Pauschalisierungen und gehen den gleichen Vorurteilen auf den Leim, indem Sie von Ihrem Freundeskreis oder Bekanntenkreis auf eine ganze Generation schließen wollen?
Und überhaupt. Wem nützen denn solche Generationsanalysen außer der pragmatischen Wirtschaft, die diese Informationen heranzieht um ihre Wachstumsmaschinerie neu zu justieren und den vielen Schreiberlingen, die sonst nicht wissen, wofür sie die Verantwortung, die ihre Stelle mit sich bringt, nutzen sollen?
Was bedeutet es überhaupt, dieses Erwachsenwerden?
Und wer hat das Recht zu erklären, wann ein Mensch erwachsen zu sein hat?
Vielleicht ist das Erwachsenwerden nichts anderes als die Suche nach Sinnhaftigkeit und das Streben nach einem selbstbestimmten Platz. In einer Zeit, in der das Tun der Menschen, die Welt mehr und mehr zerstört und diese Tatsache zum ersten Mal von einem Großteil der heranwachsenden "Generation" reflektiert wird, deren Eltern schon überwiegend keine Freunde des Rohrstocks mehr waren, fällt es vielen Menschen vielleicht nur schwer, einen Platz zu finden, den zu besetzen, in ihren Augen sinnvoll erscheint?
Vielleicht ist es ja gar kein so schlimmes Zeichen, wenn junge Menschen "später" erwachsen werden.