Kurz bevor die Preisverleihung der 68. Berlinale losging, versprach der Jurypräsident, der deutsche Filmemacher Tom Tykwer, Überraschungen für diesen Samstagabend. Er und seine fünf Jurykolleginnen und -kollegen entschieden in diesem Jahr über den Goldenen Bären und seine sieben silbernen Brüder. Und als eine knappe halbe Stunde später dann alle Trophäen verliehen waren, staunten tatsächlich nicht nur die Preisträgerinnen und Preisträger.
Die
wichtigste Auszeichnung, den Goldenen Bären für den besten Film, erhielt der
inszenierte Dokumentarfilm Touch me not. Die junge rumänische
Filmemacherin Adina Pintilie befragt darin Menschen von unterschiedlicher
körperlicher und seelischer Beeinträchtigung nach ihrem Sexualleben. Es ist
erstaunlich und extrem berührend, wie die Darstellerinnen und Darsteller ihr davon erzählen, von
ihrem Selbstverständnis, ihren Ängste und Sehnsüchten. Natürlich ist das Sujet
mutig und bemerkenswert, weil im Kino Bilder von körperlich beeinträchtigten
Menschen leider immer noch ungewöhnlich sind – schockierend sind sie keineswegs.
So ganz vertraute die Filmemacherin ihrem Setting dann allerdings doch nicht, denn sie flicht einen zarten Plot ein und inszeniert ihre Protagonisten und Protagonistinnen in einer künstlichen, ganz in Weiß gehaltenen Welt. Das ist schade. Aber mehr als verzeihlich, denn Touch me not ist Pintilies erster Film. Sie erhielt dafür noch vor der Vergabe der Bären einen hochdotierten Preis für den besten Erstling. Die kleine dreiköpfige Jury dieses Preises urteilte zu Recht: es ist ein wichtiger und wagemutiger Film. Aber ein verdienter Preisträger für den Goldenen Bären? Wohl eher nicht.
Auch
die Vergabe des Silbernen Bären an den erst 23-jährigen Anthony Bajon ist eine streitbare Entscheidung. Er wurde als bester Darsteller in
dem französischen Film Das Gebet (La
Prière)
ausgezeichnet. Der Preis wird seine Karriere sicherlich befördern, was man dem
jungen Talent nur wünschen kann. Aber seine Leistung in dem eher durchschnittlichen Drama um junge Junkies, die mithilfe des Glaubens von ihrer Sucht loskommen, reicht nicht an die von Franz Rogowski in
den Filmen Transit oder In den Gängen heran oder an die von Joaquin Phoenix als querschnittsgelähmter Comiczeichner in
Gus Van Sants Don't Worry, he won't get far on foot.
Der
Regiepreis an den großartigen Filmemacher Wes Anderson war die nächste ungewöhnliche Entscheidung. Dessen
Animationsfilm Isle of Dogs hatte gleich zur Eröffnung begeistert, weil er so viel mehr ist als eine
Kinderabenteuergeschichte mit Hunden. Aber es ist ein Stop-Motion-Film. Der
Cast besteht aus Puppen, denen prominente Schauspielerinnen und Schauspieler später ihre Stimmen
leihen, unter anderem Bill Murray, der
den Preis für den abwesenden Anderson entgegennahm. Die Jury befand
dennoch ausgerechnet: "wegweisende Regie". Das werden gerade Schauspieler als Schlag empfinden.
Den Bären für das beste Drehbuch erhielt der mexikanische Film Museum (Museo), in dem Gael García Bernal als Möchtegernganove mit seinem noch weniger begabten Kumpel (Leonardo Ortizgris) das Nationalmuseum für Anthropologie in Mexiko-Stadt ausrauben will. Der Coup gelingt, wozu der Plot ein wenig gegen die Gesetze der Wahrscheinlichkeit verstößt. Das darf ein Drehbuch sehr gerne, aber was wird hieraus gemacht? Kaum mehr als eine Odyssee der zwei Kleingauner durch Mexiko nach Acapulco und wieder zurück. Das ist an vielen Stellen witzig, ein bisschen gesellschaftskritisch (ohne provokant zu sein) und manchmal interessant gefilmt. Neben so vielen anderen und vielleicht auch raffinierteren Drehbüchern war am Ende auch dieser Preis eine Enttäuschung.
Weltgrößte Jesus-Statue in Polen
Der
Große Preis der Jury ging an die polnische Filmemacherin Małgorzata Szumowska
für ihr Drama Twarz (dt:Das
Gesicht).
Der Film beginnt mit einer großartigen Szene über die Befindlichkeit ihrer
Landsleute: Für ein bisschen mehr Konsumgut machen sich die Kunden eines
Kaufhauses buchstäblich nackig und schlagen einander beinahe die Köpfe ein. Von
dort geht es schnurstracks auf einen Bauernhof nahe der westpolnischen
Kleinstadt Świebodzin, mitten hinein in eine Gemeinschaft bigotter Katholikinnen und Katholiken,
die fest entschlossen ist, die weltgrößte Jesus-Statue zu errichten. Der Held,
Jacek (Mateusz Kościukiewicz), ist herrlich aufmüpfig und findet in Dagmara
(Małgorzata Gorol) eine Partnerin, die sich mit ihm gemeinsam einen Dreck um
Konventionen schert. Doch dann wird Jacek durch einen schweren Unfall
entstellt, eine Gesichtstransplantation ist notwendig, in deren Folge er auch
kaum noch sprechen kann. Hier fällt der Film leider auseinander.
Was ein bitteres Porträt einer erstarrten Gesellschaft hätte werden können, gerät zum Melodram, in dem man keinem der beiden Protagonisten wirklich folgt. Vom Trotz und der Wildheit des Anfangs ist kaum mehr etwas zu spüren – weder in den Figuren noch im Film.
Kommentare
Gute Zusammenfassung!
Die Entscheidungen waren doch sehr überraschend, mir schien, die Jury wollte um jeden Preis den von Tykwer ausgerufenen Wunsch nach "sperrigen" Filmen umsetzen ... aber ob der sperrigste Film der beste ist?
Mich haben die meisten Entscheidungen sehr erstaunt.
(und ja, ich habe die meisten Filme gesehen)
... ich ergänze: die persönliche Vorlieben wurden auf unfaire Weise ausgelebt.
Und so sperrig wie die Filme sind, die wenigsten sind massentauglich bzw. kurz vor der Zumutbarkeitsgrenze - also nicht mal im Sinne eines gemäßigten Arthouse-Anspruchs publikumstauglich.
Denn die Frage eines erfolgreichen Film entscheidet sich letztlich an der Kinokasse - wie immer. Anschauen werde ich mir daher nur "In den Gängen" und "Becoming Astrid", wobei letzterer nicht im Wettbewerb lief - warum wohl?
Die Jury kann die Preise sicherlich begründen. Sind doch schliesslich sämtlich erfahrene und ästhetische Filmexperten.
Schliesslich werden Liedermacher auch zu Literaturnobelpreisträgern auserkoren. Also: So what!
>>Die Jury kann die Preise sicherlich begründen. Sind doch schliesslich sämtlich erfahrene und ästhetische Filmexperten.<<
Die Begründung für den großen Gewinner des Wettbewerbs würde ich dann gerne mal lesen, denn das Konzept ist nun wirlich uralt:
>>Natürlich ist das Sujet mutig und bemerkenswert, weil im Kino Bilder von körperlich beeinträchtigten Menschen leider immer noch ungewöhnlich sind – schockierend sind sie keineswegs.<<
,,Mutig und bemerkenswert``? Ernsthaft? Merkwürdig. Mir kommt es vor, als würde ich das Ausstellen von körperlich behinderten und missgebildeten Menschen um mit ihnen Aufmerksamkeit zu erregen und so Geld zu verdienen schon aus Erzählungen von Zirkusvorstellungen und Jahrmärkten aus einer Zeit lange vor meiner Geburt kennen.
Das scheint wohl immer noch zu funktionieren, solange man nur den Anschein vermittelt, dass dies etwas ganz Neues und auf ein hohen kulturellen Niveau Rangierendes wäre.
Meiner Meinung nach liegt so etwas vom Niveau her noch unter den Big Brother Container (Gibt es diese Sendungen eigentlich noch? Ich habe seit dem Ende der 90er Jahre keinen Fernseher mehr und kenne den heutigen Programminhalt daher nicht.), der ja auch Menschen zu Profitzwecken und damit aus niederen Beweggründen öffentlich ausstellte und es ist mir ein Rätsel, wie so ein uraltes Format um Aufmerksamkeit zu erregen heute tatsächlich einen Goldenen Bären abräumen und stolz in allen Medien präsentiert werden kann. Mit Kreativität oder Kunst hat...
Es wird ja immer gelästert, über diese Filmfestivals... Berlin zu politisch, Cannes zu glamourös, Venedig zu Mainstream. Golden Globes oder gar den Oscar belächelt der gepflegte Filmkritiker und der geschulte Filmclubgänger sowieso. Und schreit auf, wenn mal ein erfolgreicher Film mit einem dieser Preise ausgezeichnet wird.
Die Plots dieser Filme scheinen mir genauso interessant oder uninteressant wie immer. Ein wenig Gesellschaftskritik, ZEITgerechte Genderstudien und ein Regisseur, den wohl (fast) jeder mag, weil seine pastellfarbenen Filme einfach nur gut tun. Ein paar der im Artikel beschrieben Filme werde ich mir ansehen und mir selbst ein Urteil bilden. Am Rande: David Mamet hat angekündigt, ein weinsteininspiriertes Drehbuch zu schreiben. Hollywood hat sich wieder selbst gefunden, früher als es ich mir erwartet habe...
Bei einem Stop Motion Film werden die Stimmen vorher gespielt und aufgenommen und nicht umgekehrt wie Sie es hier beschreiben, das sollten Sie korrigieren
"Bei einem Stop Motion Film werden die Stimmen vorher gespielt und aufgenommen ..."
Warum sollte das so gemacht werden?