Der Film "Systemsprenger" kommt am 19. September ins Kino. Er handelt von der unbändigen und oft aggressiven neunjährigen Benni, die von einem Heim zum nächsten geschoben wird. Obwohl sie unbestreitbar auch viel Charme besitzt, gelingt es niemandem, eine Bindung zu ihr aufzubauen. Immer wieder rastet das Mädchen aus, wobei es nicht nur die Einrichtung, sondern auch sich und andere gefährdet. Die 36-jährige Drehbuchautorin und Regisseurin Nora Fingscheidt gewann mit ihrem Spielfilmdebüt im diesjährigen Wettbewerb der Berlinale gleich den Silbernen Bären für neue Perspektiven der Filmkunst. Im August wurde ihr Film als deutscher Kandidat für die Oscarnominierungen ausgewählt. Fingscheidt recherchierte und drehte für den Film mehrere Jahre in Kinderheimen und Kinderpsychiatrien in ganz Deutschland.
ZEIT ONLINE: Sie haben lange über psychisch extrem auffällige Kinder recherchiert. Welche Erlebnisse haben Sie besonders geprägt?
Nora Fingscheidt: Mir tat sich plötzlich eine ganze Reihe neuer Welten auf: Kinderheime, Kinderpsychiatrien, Schulen für Erziehungshilfe. Ich war in ganz Deutschland unterwegs: in Rosenheim, Berlin, Stuttgart, Ostfriesland. Keine Institution, kein Gespräch ist spurlos an mir vorübergegangen. Jeder einzelne Recherchetag ist in diesen Film geflossen.
ZEIT ONLINE: Wie belastend war diese Zeit?
Fingscheidt: Mein Weltbild hat sich total verfinstert. Irgendwann konnte ich nicht mehr U-Bahn fahren, weil ich überall nur noch Fälle von Kindesmisshandlung gesehen habe. Außerdem war ich zu der Zeit eine junge Mutter, mein Sohn war während der Recherche etwa zwei, drei Jahre alt. Da habe ich gemerkt: Stopp! Jetzt verliere ich die Distanz. Ich unterbrach die Recherchen für ein Jahr und machte einen ganz anderen Film: Ohne diese Welt.
ZEIT ONLINE: Ihren Dokumentarfilm über deutschstämmige Mennoniten in Argentinien, für den Sie 2017 den Max-Ophüls-Preis gewonnen haben.
Fingscheidt: Das ist auch eine total radikale Welt, diese Gemeinschaft lebt ohne Strom, ohne Autos, mit nichts als der Bibel als Schulbuch. Aber das Projekt hat mir geholfen, wieder das große Ganze zu sehen und eben nicht mehr nur die schlimmen Dinge durch meine Schreckensbrille. Als ich dann wiederkam, merkte ich: Jetzt kann ich das Projekt Systemsprenger wieder anfassen.
ZEIT ONLINE: Als "Systemsprenger" bezeichnet man Kinder oder Jugendliche, die sich nicht ins soziale Hilfesystem zu integrieren scheinen. Sie sind äußerst verhaltensauffällig, unberechenbar und oft aggressiv. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Fingscheidt: Während eines Drehs über ein Heim für wohnungslose Frauen. Dort zog eines Tages ein 14-jähriges Mädchen ein. Für mich war es total schockierend, ein so junges Mädchen an diesem Ort zu sehen, aber die Sozialarbeiterin sagte ganz gelassen: "Tja, Systemsprenger. Die dürfen wir immer an ihrem 14. Geburtstag aufnehmen. Dann sind sie durch alle anderen Institutionen durch." Das war der Moment, in dem ich dachte: "System-was-bitte?" Ich fing an, zu recherchieren und wusste: Darüber möchte ich einen Spielfilm machen.
ZEIT ONLINE: Wieso keinen Dokumentarfilm wie bisher?
Fingscheidt: Mein Zugang musste fiktional sein, denn ich wollte das Publikum wirklich mitreißen, emotionalisieren und diese unbändige Energie des Mädchens transportieren.
ZEIT ONLINE: War die 14-Jährige, die Sie damals erlebten, ähnlich aggressiv und unkontrollierbar wie Ihre Hauptfigur Benni im Film?
Fingscheidt: Ja, auf jeden Fall! Auch deshalb wollte ich auf gar keinen Fall einen Dokumentarfilm machen. Ich wollte nicht mit der Kamera in das Leben eines betroffenen Kindes eindringen. Systemsprenger sind ja Extremfälle. Es sind Kinder, die keinen Halt haben. Ich hätte es unverantwortlich gefunden, so viel Aufmerksamkeit auf sie zu richten.
ZEIT ONLINE: Im Film erzählen Sie sehr wenig von Bennis Hintergrund. Nur, dass sie keinerlei Berührung an ihrem Gesicht duldet, weil ihr jemand als Kleinkind die vollen Windeln ins Gesicht gedrückt hat. War das ein Beispiel, von dem man Ihnen erzählt hat?
Kommentare
Ich bin unteranderem in der Waldpädagogik tätig. Kenne also nicht nur viele Kinder sondern auch deren Erzieher. In meiner Rolle als Waldpädagoge habe ich noch keine schlechten Erfahrungen mit Eltern oder Erziehern gemacht, hinsichtlich Verdächtigungen. Ganz anders, bei Praktiken oder Studenten, aber auch bereits ausgelernten Erziehern. Es ist ein Armutszeugnis wenn engagierte junge Männer in der Pädagogik kaum ohne Diskriminierung arbeiten können.
Dabei ist doch schon lange ganz klar, dass die meisten Fälle von Kindesmisshandlung/ Pädophilie in der eigenen Familie geschehen.
Deshalb ist auch total bescheuert in der U- Bahn oder sonst wo, Angst vor solchen Taten zu haben.
Mir tun die ganzen männlichen Erzieher so leid. Gerade Kinder brauchen doch auch einen männlichen Part beim Aufwachsen. Dieser fehlt so schon oft in der Familie, durch Arbeit oder Trennung. Viele Kolleginnen sehen das aber anders und lassen den Mann nun viele ganz normale Dinge nicht mehr praktizieren. Aus Angst vor den Eltern, dem Gericht und Kontrollen. Dabei bin ich mir sicher, dass es mehr Fälle von Kindermisshandlungen bei weiblichen Erzieherinnen gibt...
Gibt den Männer endlich eine Chance in diesem Berufsfeld frei, gleichberechtigt und voller neuer Ideen zu arbeiten!!!
Entfernt. Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen. Danke, die Redaktion/kn
Gar nicht mal übel.
Kann man sowas nicht Crowdfunden bis Patreon oder ist das zu viel Overhead? Wäre ich jedenfalls dabei, wenn ich von wüsste.
bis = zB
Mich würde es interessieren, wie es dem Mädchen mit ihrer Rolle gegangen ist. Es ist natürlich in dem Alter noch keine professionelle Schauspielerin und bekommt nun Anerkennung und Aufmerksamkeit als "Systemsprenger".
>>>Mich würde es interessieren, wie es dem Mädchen mit ihrer Rolle gegangen ist<<<
Und mich würde interessieren, ob die Anzahl verhaltensauffälliger Kinder zunimmt, oder abnimmt. Und in wie weit die gesellschafltichen Verhältnisse eine Rolle spielen.
Klingt nach einem wichtigen Film, der bestimmt nichts für schwache Nerven ist.
Die Crux des Systems hat sie im Interview schön zusammengefasst:
„Dabei brauchen gerade die Kinder in staatlicher Fürsorge wirkliche, bedingungslose Zuwendung.“
Genau den Gedanken hatte ich auch schon häufiger – und genau das gilt als „unprofessional“ (was im Sinne der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit auch durchaus richtig ist). Was diese Kinder eigentlich bräuchten wäre eine Bezugsperson, die sie die nächsten fünfzehn bis zwanzig Jahre zuwendend begleitet. Stattdessen alle paar Jahre die „nächste Station“ bis das System durchlaufen ist und der nun erwachsene Mensch in die Sozialhilfe, Knast oder Psychiatrie landet.
Elternschaft ist eben nicht so einfach zu professionalisieren.
Staatliche Fürsorge kann nur die schlimmsten Fälle versuchen zu retten. Elterliche Erziehung und Struktur, die ja umfassend und grundlegend ist, kann sie kaum ersetzen.
Ich gehe davon aus, dass genau auch das der Film zeigt. Und zwar in beide Richtungen. Die Mutter die im Film vernachlässigt, ist schon optisch auf einem anderen Dampfer unterwegs, lebt ihre Individualität mit Verantwortungslosigkeit, kann nicht mal offensichtlich Notwendiges bieten.
Aber auch die Überbehütung klingt bereits im Trailer an. In dem Fall bei den Klassenkameraden, die über eine schlechte Leseleistung lachen, eben Schwächere auslachen. Das kommt dann, wenn Eltern das eigene Kind als überlegen sehen. Ja, es ist auch Elternaufgabe Kindern diese Kompetenzen beizubringen.
Der eigentliche Mangel in der Gesellschaft ist der immer mehr fehlende Konsenz bei Erziehungsfragen, eine Struktur die alle auffängt, Bande bietet, ein gemeinsames Verständnis an dem sich jeder entlang hangeln kann. Sonst kommt es zu Kindern die aus Strukturen herausfallen, wenn der individuell abgefahrene eigene Stil versagt.
Ich verstehe den Film daher als Bestandaufnahme mit elterlichem Erziehungsversagen sowohl in die eine als auch in die andere Richtung.
Zustimmung. Bin nicht sicher ob ich das aushalten möchte. Das ist echter Alltagsterror aus dem Reihenhaus ohne Fluchtmöglichkeit: das gibts nicht in Echt. Pustekuchen.
Das Dilemma: jeder verantwortungslose Vollpfosten darf sich ungehindert vermehren. Holen sie einen Hund aus dem Tierheim müssen sie mit Besuchen rechnen ob das Tierchen es auch gut hat bei ihnen.
Bei Kindern, dem wertvollsten was eine Gesellschaft hat? Fehlanzeige.
Klar, Pflegefamilien wären meist besser als staatliche Fürsorge.
Nur braucht man halt auch genug freiwillige, die dies mitmachen.
Ein weiteres Problem ist das System selbst, mit seinen unzähligen Verästelungen und Zuständigekeiten, die dazu führen, dass im Zweifelsfall gerade die Stelle, die kontaktiert wird, sich nicht als zuständig sieht und auch nicht zwingendermaßen an die richtige Stelle weiterverweist. Dadurch wird so manches verschleppt und verschlimmert, was durchaus verhindert oder in den Auswirkungen vermindert werden könnte, wenn nur frühzeitig die passenden Maßnahmen eingeleitete würden.
Ich beobachte das nun schon seit mehr als zwei Jahren bei meinem Neffen, der Asperger ist und unter Depressionen leidet und sich deshalb ein Dreivierteljahr lang weigerte, in die Schule zu gehen. Da sich meine Schwester gerade eben kein Sozialfall ist und sich "kümmert", wurden ihre Bitten um Hilfe lange Zeit weitgehend ignoriert bzw. sie wurde von Pontius zu Pilatus geschickt.