80 Penisse wurden Sam Levinson aus dem Drehbuch gestrichen.
Eigentlich hatte der Autor der Fernsehserie Euphoria eine männliche
Hommage an den Horrorfilm Carrie und dessen bis heute berüchtigte
Einblicke in das Innenleben einer Mädchenumkleide im Sinn gehabt. Mit Andeutungen von nackter Haut und
Regelblut hatte der Regisseur Brian De Palma vor 43 Jahren Amerikas Moralisten auf den Plan gerufen. Levinson
wollte nun eine Penisparade mit homoerotischem Unterton zeigen – und zog damit
den Ärger der TV-Anstalt HBO auf sich. Am Ende durfte er seine Szene drehen,
musste sich aber auf ein Drittel der geplanten Penisse beschränken.
Der Erfolg von Euphoria war auch durch diese Beschneidung
nicht aufzuhalten. Levinson gelang mit seinem Seriendebüt nicht nur das
Teenanger-Drama des Jahres, er hob das ganze Genre auf neue Levels von
Freizügigkeit, Gewalt, visueller und erzählerischer Strahlkraft. Hauptfigur
seiner Geschichte ist die 17-jährige Rue (gespielt vom bisherigen Disney-Star
Zendaya), die nach einem Sommer in einer Entzugsklinik an ihre Schule
zurückkehrt und so schnell wie möglich an neuen Stoff kommen will. Die
Highschool erlebt sie als Ort, an dem Freundschaft, Kommunikation und Sex
gleichermaßen im Zeichen von psychischer und physischer Gewalt stehen.
Levinson adaptierte mit Euphoria eine gleichnamige
israelische Serie von Daphna Levin und Ron Leshem. Das kurzlebige Original, von
dem im Jahr 2012 nur zehn Folgen gedreht wurden, erweiterte der Sohn des
Regisseurs Barry Levinson (Rain Man) um eigene jugendliche
Drogenerfahrungen. Dafür gab es viel offensichtliche, meist fehlgeleitete
Kritik. Der Guardian bezeichnete Euphoria selbst in einer
wohlwollenden Rezension als "Abrechnung" mit der Generation Z. Der US-amerikanische
Parents Television Council verurteilte die "übertrieben expliziten"
Seriendarstellungen von Sex, Gewalt und Drogenkonsum als Marketingmasche, die
sich gezielt an Kinder und Teenager richte.
Tatsächlich erzählt Levinson Gewichtiges über Sucht,
Depression und Langeweile sowie den Einfluss von Pornografie, Dating-Apps und
Körperbildern auf jugendliche Sexualität. Fast alle Protagonistinnen aus Euphoria
wähnen sich unter sexuellem Erfolgs- und Performancedruck. Lediglich Rue bleibt
gleichgültig und kann gerade deshalb eine Freundschaft zu der neuen Schülerin
Jules (Hunter Schafer) aufbauen. Zwischen den beiden Mädchen entwickelt sich
eine enge Beziehung im Grenzgebiet von platonischer und romantischer Liebe.
Selbst den Drogen möchte Rue für Jules abschwören – um die 17-Jährige im
Konflikt mit einem Mann zu unterstützten, der sie in einem Stundenhotel
vergewaltigt hat.
Nichts jedoch ist so schwierig, wie im Amerika der Opioidära nüchtern zu bleiben. Euphoria beschreibt die nahezu freie Verfügbarkeit von Schmerzmitteln aller Art
in den USA so anschaulich wie kaum eine Serie zuvor. Als der Drogendealer Fez (Angus Cloud mit einem überragenden Schauspieldebüt) den Verkauf an Rue wegen
moralischer Bedenken einstellt, versorgt sich diese in den Schlaf- und
Badezimmern der Eltern ihrer Freundinnen. Eine Rückblende zeigt,
wie Rue als junge Teenagerin zu ersten Erfahrungen mit Oxycontin, Fentanyl und
Co. kam: Ihr Vater lag im Sterben und bekam seine Pillen gar nicht so schnell
herunter, wie der Nachschub auf seinem Nachttisch auftauchte. Rue schluckte einfach, was übrig blieb.
Schmerzmittel und deren Konsumentinnen prägen auch die Inszenierung von
Euphoria. Die unzuverlässige Erzählerin Rue und einige andere Charaktere der
Serie sprechen mit verräterisch pelziger Zunge. Die Kamera (unter anderem von Marcell Rév) entwirft mehrfach gefilterte, oft überbelichtete Bilder,
die man je nach Erfahrungshorizont als verträumt oder verdrogt
bezeichnen könnte. Das Eigenleben jenes Glitzer-Make-ups, mit dem alle Euphoria-Schülerinnen ihre Gesichter bedecken,
verdient eigene filmwissenschaftliche Abhandlungen. Ist es wirklich da? Oder
soll man nur glauben, dass es da ist? Der Effekt ist schwindelerregend. Als
hätte der Kids- und Spring-Breakers-Autor Harmony Korine ein Remake von O.C., California gedreht.
Kommentare
Die Serie ist wunderbar - ich hatte aber nie den Eindruck dass es besonders realistisch zugeht
Realismus ist in der Kunst eh so ein missverständlicher Begriff, dass man ihn in Rezensionen besser komplett weglassen sollte. Hat sich ja hier auch bloß ein mal eingeschlichen.
„Die acht Folgen von "Euphoria"sind auf Sky Go zu sehen.„
Erst jetzt? Ist das ein Witz? Deswegen werde ich Sky Ticket nicht mehr abonnieren. HBO hat die beste Serien, aber das Angebot von Sky Deutschland ist unfassbar schlecht. Als ich Gomorrah gucken wollte, hatte ich noch nicht mal eine Version mit Untertitel..
Ach, all die Beschreibungen von Überschreitungen und Überschreitungen und...; das kleine bescheidene Drama, das, gleich um die Ecke, das tägliche Abenteuer, schwarz-weiß...., aber ach, all die Beschreibungen von Überschreitungen...!
Gibt es alles sicherlich nicht nur in Amerika.