Ein wenig paradox wirkt es schon: Erst wollen wir uns 1989 endgültig vom Schatten der Berliner Mauer befreien. Tausende hämmerten und meißelten verbissen an ihr herum, bevor die großen Kräne und Bagger reinen Tisch in Berlins Mitte machen. Und nun, 2013, sind es wiederum Tausende, die dem wiedergängerischen Knight Rider David Hasselhoff zujubeln, wenn er die Restmauer genau umgekehrt als Symbol der Freiheit besingt. Und der grüne Bezirksbürgermeister Franz Schultz, zuvor eigenhändiger Unterzeichner einer entsprechenden Mauerabrissanordnung, will plötzlich seinerseits das gute Stück vor bedrohlichem Schattenwurf von Neubauten am Spreeufer retten.
Wer denkt, dies sei nur der ganz normale Berliner Wahnsinn, denkt zwar logisch, irrt jedoch. Denn in Berlin ist nichts so, wie es aussieht. Es geht hier nämlich nicht um die Mauer und die Geschichte Berlins, sondern um Berlins Gegenwart und um eine neue Stadtpolitik.
Es sind eben nicht Mauer und Todesstreifen, die hier erhalten geblieben sind, und um deren Bewahrung es ginge. Vielmehr geht es um die sogenannte Hinterlandmauer, hinter der einst der Todesstreifen begann, auf den die eigentliche Mauer folgte. Von der Dramatik dieser tödlichen Grenzlandschaft ist hier jedoch nichts erhalten. Stattdessen grüne Wiese am Spreestrand, geplättelte Uferwege und Steinbänke, Caféterrassen und schwimmende Hostels samt Blick auf die zuckerbäckrige Oberbaumbrücke. Dahinter die East Side Gallery als Open-Air-Kunstgalerie, eigentlich nur eine Wand.
Historisch ein Nicht-Ort
Eine Wand, die uns an das Danach erinnert, an euphorische Vereinigungstage, nicht an das Davor, an vermintes Niemandsland. Dieser Streifen zwischen Spree und East Side Gallery war früher ein Nicht-Ort, nicht begehbar, nicht einsehbar, nicht existent – außer für Grenzer, Schäferhunde und Flüchtlinge. Authentische Mauergeschichte findet sich hier keine mehr.
Weshalb die ganze Aufregung? Weil das Spreeufer und mit ihm die East Side Gallery heute nicht nur ein historischer und symbolischer, sondern vor allem ein zutiefst moralischer Ort ist.
Hier werden Stadtbilder und Stadtinteressen wie auf einer Bühne verhandelt. Denn hier kreuzen sich die stadtpolitischen Dynamiken. Zivilgesellschaftliche Initiativen wie Mediaspree fordern ihr Recht auf Stadt ein, sie wollen planerisch mitbestimmen, städtische Räume sollen Lebensqualität garantieren. Die innerstädtischen Bezirke Berlins sind wieder attraktive Wohnorte, die soziale Teilhabe und kulturelle Vielfalt bieten sollen. Und der Stadtraum wird auf neue Weise kulturalisiert und historisiert, um ihm durch Kunstgalerien und Musikfestivals, durch Events und Erinnerungsorte seine scheinbar verloren gegangene Authentizität und Aura wiederzugeben. Traditionelle Planung von oben scheint nicht mehr hinreichend legitimiert, denn sie steht im Verdacht, die Gentrifizierung städtischer Räume zu fördern.
Kommentare
Wenn das die Zukunft von Berlin entscheidet
dann ist die Zukunft von Berlin schon wieder rum.
Einen Nicht-Ort derart aufzuladen zeigt nur die Leere des Protests.
Auch seh ich da keine Moral, bestenfalls das übliche moralisierende Geschrei von medial überzeichneten Minderheiten selbsternannter Bedeutung und Gentrifizierung ist ohnehin der neue urbane Kampfruf schlechthin, solange bis man selbst "Spießer" wird und schöner wohnen will. Dabei spannt man gar nicht, dass man selbst Teil dieses Prozesses ist (Pionierphase/erste Invasoren) oder will man es nur nicht wahrhaben?
Ich sehe die Leere woanders
Wenn man jetzt alles, was Berlin besonders macht (und ja, dieses hässliche Stück Beton gehört dazu, das finden Sie nämlich weder in New York noch in Paris) abreißt.
Und dann Luxuslofts baut, die sich die fetten Makler für satte 7.14% Provision vergüten lassen, neue seelenlose H&M Tempel aufzieht, Starbucks Filialen und Fastfood Ketten.
Dann endlich ist die Stadt leer. Blutleer.
Die East Side Gallery ist für mich und viele andere Berliner und Berlin-Besucher nicht nur ein Anzugspunkt sonder hat auch eine emotionale Ladung, völlig irrelevant ob es nun die "richtige" Mauer ist oder die unrichtige. Wer von den jungen Berlinern kent denn überhaupt noch die "Richtige"? Es ist ein Relikt aus DDR Zeiten, und jedes noch so schlechte Grafitti hat mehr künstlerischen Gehalt als das x-te Starbucks Emblem.
ich finde es gut und wichtig,
dass sich da jetzt endlich mal ärger zusammenbraut. der ausverkauf berlins kann einfach nicht so weitergehen. das gute, alte berliner mittelmaß in den verwaltungen und geldgier der spekulanten haben weite teile der stadt kurz vors umkippen gebracht.
prenzlauer berg ist längst international ein negativbeispiel für totsanierung/ gentrifizierung. nichts ist mehr übrig vom charme der alten tage. früher cool, heute absolut (!) uncool.
es wäre wünschenswert, berlin zu erhalten und nicht jeden qm für lofts, hotels und shoppingzentren zu verkloppen. dann kommen nämlich auch irgendwann die touristen nicht mehr.
"moralisches Projekt"?
Wann wird den in Deutschland den Opfern des Kommunismus Gedacht? Gar nicht. Sozialismuskritik? Fehlanzeige. Kapitalismuskritik? Absolut erwünscht.
Wenn Linke den Gedenkstein der Opfer des Stalinismus stürmen wollen steht das klein weit unten in allen Tages- und Wochenzeitungen.
Sie dürfen mit FDJ Uniformen im Fernsehn auftauchen.
Um welche Moral geht es den?
Übertrieben
Es ist amüsant, was hier alles reininterpretiert wird. Denn letztlich geht es um nichts anderes als den Bau einer Brücke. Der Bau dieser Brücke wurde per Volksentscheid (!) von den Bürgern mit großer Mehrheit beschlossen. Und - oh Wunder - für eine Brücke ist eine Mauer eher hinderlich. Deshalb soll die Mauer an dieser Stelle entfernt werden. Und der Bezirk hat damit denjenigen beauftragt, der genau daneben baut.
Jetzt kann man sich natürlich darüber streiten, ob die Lücke nun 22 Meter breit sein muss oder nicht, ob der Verkehrsanschluss des Neubaus vielleicht nicht durch diese Lücke, sondern eine andere geführt werden kann. Aber letztlich ändert das nicht dadran, dass es hier um ein Loch für ein Brücke geht, die die Bürger haben wollten.
Übrigens: Für die O2 World wurde eine 40 Meter breite Lücke gerissen. Hat niemanden interessiert. Genauso wenig wie die Vernichtung von drei Clubs, die auf dem O2 World-Gelände beherbergt waren.