"Die Begräbnisse kommen / dichter und dichter / wie die Straßenschilder / wenn man sich einer Stadt nähert."
So schrieb Tomas Tranströmer vor zehn Jahren, mit Anfang siebzig, in dem
Gedicht Schnee fällt. Der Tod als etwas, auf das man ein Leben lang
zufährt, das sich schließlich anzukündigen beginnt durch Zeichen und
noch mehr Zeichen – selbst aber namenlos bleibt: eine Stadt. Man
verlässt sie nicht mehr und bleibt auch nicht dort. Man ist endlich
nirgends angekommen. Von nirgendwo kommend. Geht nun alles wieder von
vorn los? "Eine Brücke baut sich langsam/gerade hinaus in den Raum."
Die Aussicht auf Wiederverkörperung überließ Tomas Tranströmer den
Spiritisten und anderen Spekulanten. Prognosen traf er nie, nicht einmal
die Vergangenheit betreffend. Das große Rätsel, En stora gåtan – so
nannte er seinen Gedichtband von 2004, in dem auch Schnee fällt
enthalten ist. Er hat es nicht zu lösen versucht, er hat es vielmehr so
genau als möglich beschrieben, immer genauer, bis er schließlich vor dem
großen Rätsel stand.
Was anderen ein Ausgangspunkt, war Tranströmers
Ziel. Aber wie soll jemand eine Antwort geben, wenn niemand die Frage
kennt? Über den Anblick einer alten Fotografie schrieb er einmal: "Ein
Mann um die dreißig: die kräftigen Augenbrauen, das Gesicht, das mir
geradezu in die Augen blickt und flüstert: 'Hier bin ich.' Aber es gibt
niemand, der sich erinnert, wer 'ich' ist."
Wissen, kennen, beherrschen, sich sicher sein, durchschauen – all das war ihm verdächtig, auch das Großdaherreden als dessen Ausdruck. Er war "überdrüssig aller, die mit Worten, Worten, aber keiner Sprache daherkommen", schrieb er in dem Gedicht Aus dem März ’79. Wie ein Junge seine Sammlung herrlichster, teuerster Dinge – Schmetterlinge, Münzen, Minerale – hütete er die 29 Buchstaben des schwedischen Alphabets, hielt sie gegen das Licht, legte sie in immer wieder neue Reihen, zu dritt, zu fünft, zu zehnt, allein, schloss sie wieder weg, dachte an sie, hielt sie geheim, verschwendete sie nie. Sie gehörten ihm.
Reduziert aufs Maximale
In 60 Jahren poetischer Arbeit seit seiner ersten Veröffentlichung 17
Gedichte von 1954 hat er kaum 500 Seiten mit seinen 29 Buchstaben
ausgefüllt. Das scheint wenig, aber nur, wenn man Wahrheit in
Seitenzahlen und Zeit in Jahren misst. Tatsächlich war jedes Stück – und
jedes Stück davon – ein Fraktal: im Kleinsten das Größte abbildend,
immer tiefer weisend bis hinein ins Molekulare, bis ein Buchstabe eine
Welt enthielt und das Alphabet ein Universum. Hätte er nur ein Gedicht
hinterlassen, es wäre ebenfalls nicht zu wenig gewesen. Geografen
wissen: Je genauer man die Feinheiten eines Küstenverlaufes misst, umso
größer ist die Länge, die man erhält.
Wenn andere schon über keine Sprache verfügten, wenn es überhaupt keine
gemeinsame Sprache gab, dann doch wenigstens die ureigene.
Durch sie vertiefte Tomas Tranströmer sich in Naturbilder ebenso wie in Familiengeschichten, in die Gedanken der Pflanzen ebenso wie in die der jugendlichen Straftäter, die er als Psychologe betreute: "Als der Ausreißer gefasst wurde / hatte er die Taschen / voller Pfifferlinge", heißt es in dem Haiku Aus dem Gefängnis. Ein Leben in einem Tag in Freiheit, ein Leben in elf Wörtern, reduziert aufs Maximale.