Es passiert selten, dass man
ein Buch mit komplexen Schamgefühlen liest. Man schämt sich für den Zwiespalt,
der sich in einem selbst auftut, weil man sich überrannt fühlt oder niedergetrampelt, erstarrt und immer wieder unterhalten. Man schämt
sich für seinen eigenen Voyeurismus und erkennt in sich plötzlich einen dieser Gefühlsshowmaster und Emotionseventmanager, die die Welt pausenlos befragen, wie es ihr geht. Und man
schämt sich, weil man sich sicher ist, dass dieses Buch große Literatur ist,
aber es vielleicht gar nicht sein will, sondern möglicherweise
eine Selbsterkundung, auf jeden Fall eine tragische, wahre Geschichte, die nur dem
Autor gehört und nicht dem Leser und nicht dem Jubel der Rezensenten.
Der Autor des Buchs ist Thomas Melle, sein
Buch heißt Die Welt im Rücken, und es erzählt von einem viel größeren
Zwiespalt und einer viel größeren Scham, als man als Leser
vermutlich je empfinden könnte. Es ist die Chronik der bipolaren Störung des im Jahr 1975 geborenen Schriftstellers, eine Geschichte in drei manisch-depressiven Schüben. Sie erzählt von der Zerbrechlichkeit des Daseins, wie jemand zum Gespenst mit einem Körper wird, sie erzählt von flüchtigem Glück und
sich handfest auftürmendem Unglück, von Jahren als "hirnversengter Clown", dem Tage wie aus Milchglas erscheinen
und die Wochen wie Labyrinthe. Schlimmer noch: Er ist dieser Clown und gleichzeitig ist
er es nicht.
Die Krankheit erscheint in diesem Buch als etwas Katastrophisches und Unversöhnliches. Zugleich ist sie eine große Kränkung, die Kränkung, dass Melle eines Tages plötzlich nicht mehr Herr in seinem eigenen Haus ist. Er, der hochbegabte Studienstiftler und genialische Schriftsteller, Autor von Büchern wie Sickster und Raumforderung, Kind aus dem "Haribo-Slum" schwieriger, nach Kohle riechender Verhältnisse, sieht sich als "Opfer des Weltgeistes", dem die Neuronen im Kopf explodieren. Der sich im Kaufhaus plötzlich einen Baseballschläger kaufen will, um damit Berlin-Mitte zu zertrümmern (er kauft am Ende doch nur einen Basketball), der Zugscheiben einschlägt, weil er die permanenten Kollisionen zwischen sich und der Welt nicht erträgt, und im narzisstischen Überschwang glaubt, die Toten der Literatur stünden vor ihm.
Picasso im Berghain
Er
sieht Foucault im Wirtshaus, Thomas Bernhard im McDonald's am Bahnhof in Wuppertal,
und eines Nachts im Berghain trifft er den von ihm so gehassten Picasso, dem er
Rotwein auf die Hose kippt. Er glaubt, er habe Sex mit Madonna gehabt und Björk
singe nur für ihn in der Bar nebenan. "Ich bin eine Tragödie aus Hulk und
Hybris", schreibt Melle. In seinen manischen Schüben und Psychosen ist er
zur Welt selbst aufgebläht, alles steht im Bezug zu ihm, sodass er glaubte, "die
Spatzen vom Dach pfiffen wirklich unsere Namen". Eine Verschwörung der Zeichen:
der endlose Strom der Gesichter auf den Straßen, Artikel im Internet, die
Nachrichten, Reden von Gerhard Schröder, 9/11, sogar tote Diktatoren – alles
spricht zu ihm, lacht ihn aus, alles ist eine Botschaft an ihn, existiert nur seinetwegen.
Die Welt als semiotischer, synästhetischer Terror und zugleich als Disneyland,
das anscheinend nur für ihn erbaut wurde.
So seien die Nächte und Tage verglommen, schreibt Melle: Rasen,
Klauen, Schreien, Redeschwälle. Ständig läuft der Fernseher. Bis er zum ersten Mal zwischen selbsternannten "Königen von
Deutschland" und "Engeln der Verdammten" in der Psychiatrie landet, in einem
zeichenlosen Gefängnis aus Blicken. Dort hilft ihm kein Panzer aus Ironie, keine Kulturtheorie mehr, die
Melle als Student verschlungen hat. Hier hilft ihm kein Foucault, kein Derrida und
auch nicht mehr die Musik von Trent Reznor, die immer wieder im Buch
hervorbricht. Als die einzige Aussicht auf Heilung erscheint Melle die
"verstreichende Zeit", in der er allmählich lernt, dass ein "zerstörerischer Krieg" in ihm tobt. Der
Krieg zweier Ungeheuer: der Manie und der Depression.
Es folgen Einweisungen, Entlassungen, "dickmachende Tabletten", Namen von Menschen, die bleiben werden und sehr viele, die wieder gehen. Melle sitzt irgendwann in seiner verfinsterten Isolation und informiert sich in Selbstmordforen über die angemessene Art, sich umzubringen. "Weg sein" wünscht er sich sehr, "Matsch aber nicht". Im Badezimmer steckt er seinen Kopf in eine Kabelschlaufe, denkt dabei an Stammheim und die RAF, dazu spielt sein Gehirn Fernando von Abba. Er übt den Ernstfall und hofft, sein Therapeut bemerkt später nicht die Abdrücke am Hals.
Das "Verspulte und Danebene"
Dass solche zermürbenden
Selbstausschürfungen und Zeugnisse eine bisweilen zermürbende Lektüre sind, liegt auch
daran, mit welcher Konzentration und verdichteten Selbstwahrnehmung Thomas Melle über seine Krankheit schreibt, seinen "gescheiterten
Bildungsroman", wie er das Buch nennt. Sein Irrsinn, das "Verspulte und Danebene", werden hier niemals Gegenstand einer allegorischen,
gemütsberuhigenden Überhöhung. Das Buch ist so ehrlich und gnadenlos, den vergeblichen Kampf
des Autors mit der Krankheit nicht als heroischen Akt vorzuführen, nicht als pathetische, nachträgliche
Mystifizierung des schwer gelebten Lebens, sondern als hässliche, einsame Angelegenheit. Die Radikalität dieses
Buchs, seine Härte zu sich selbst, ist keine literarische Pose.
Die Sätze, die Melle seinem in Straßen, Nächten, auf Theaterproben, "Kulturfrühstücken" und Psychiatriegemeinschaftsräumen verbrachten, irgendwann zum Existenzminimum und zur "Lachfigur" zersplitterten Leben abringt, haben Beulen und Wunden, oft auch Krallen und Zähne. Seine Beschreibungen der neunziger Jahre, der MTV-Moderatoren mit den "radioaktivstrahlenden Gesichtern", der Supermarktzumutungen und der leergeräumten Augen der Trinker in Berlin sind von einer analytischen Schärfe, der man in der deutschen Literatur selten begegnet. In Die Welt im Rücken wird so gewissermaßen auch das Berlin der ausgehenden neunziger und zu Beginn der nuller Jahre im Vorbeirasen und Vorbeirauschen miterzählt.
Die Leitzordnersprache der Welt
Wenn Melle seine manischen Phasen schildert,
reißt er seine Sprache bis an die Ränder der Selbstwahrnehmung auf, versucht
seine "Empfindungshektik" ebenso zu rekonstruieren wie die Erinnerungslücken,
die die Manie hinterlassen hat. Und in diesem Sinn ist das Buch auch zu
verstehen: Schreiben als Erinnern. Allerdings nicht im Gestus einer
bewältigten Biografie, sondern als ein Schreiben, das den Momenten nachzittert, die der Autor – ironische
Gnade der Krankheit – vergessen hatte, aber nun nicht mehr vergessen will.
Seine Sprache ist wütend, verletzt, sie ist bösartig, dünnhäutig, hochdrehend und dabei beeindruckend kontrolliert.
Und man ahnt, dass sie von einer Angst getragen zu sein
scheint, Halt zu finden in Wörtern und Formulierungen, die nicht nur
die Krankheit einen Moment lang bannen mögen, sondern auch etwas Dauerhaftes zu schaffen suchen, etwas Gültiges im Chaos, das im nächsten Augenblick im Kopf wieder losbrechen könnte.
Und dann gibt es in
diesem Buch viele Sätze, die nicht mehr stark genug sind, um sich
aufzubäumen gegen die Vereinsamung und die Traurigkeit, die Erschöpfung und die
Zerstörungswut: "Ich sitze da und bin ein Gegenstand. Ich gehöre nicht mehr zu
der Klasse der Menschen, sondern zu der der unbelebten Objekte." Am Ende seines
dritten Schubs ist er ohne Wohnung, ohne Konto, umstellt von Bergen von
Schulden und Akten, ein Objekt der Zudringlichkeit der Welt und der Leitzordnersprache
der Bürokratie, die so klingt wie ein schriller Monolog der Vernunft
gegen den Wahnsinn: Stundungsangebote, Leistungserbringungsverträge,
Fallmanagementberichte, Hilfebedarfsanmeldungen, Kostenübernahmeformulare. Stillstellungsmaßnahmen. Und immer so weiter.
Man könne sich kaum ein schambesetzteres Leben vorstellen als das eines manisch-depressiven, schreibt Melle, und von Scham handelt dieses Buch, von Reue und von erdrückender Obdachlosigkeit, in der man weder wirklich drinnen ist noch draußen. "Die Krankheit hat mir meine Heimat genommen. Jetzt ist die Krankheit meine Heimat." Diese Krankheit ist Thomas Melles Lebenstragödie. Dass wir davon in diesem Buch auf diese Weise lesen können, ist ein kräftezehrendes, literarisches Ereignis.
Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Roman Rowohlt Berlin, Berlin 2016. 352 S., 19,95 €
Kommentare
Die bislang beste Rezension des Buches, danke.
Was (offenbar nicht nur) mich etwas wundert an dem Buch:
"... dass Herr Melle seine Bipolarität nicht eigentlich in der sprachlichstilistischen Form dieses Textes wiederkehren lässt, sondern in arg abgezirkelten monopolaren Sätzen." (Quelle: http://liestdochkeiner.tu...)
Was sind "monopolare Sätze"?
Ich müsste das Buch natürlich lesen, aber was mich interessieren würde, ob der Autor nach 3 durchlebten Phasen für sich zu einem "Fazit" gekommen ist und ggf. auch einen Umgang mit dieser Störung gefunden hat.
Denn das letzte Zitat: "Die Krankheit hat mir meine Heimat genommen. Jetzt ist die Krankheit meine Heimat." klingt eher, als wenn er sich mit der Krankheit indentifiziert. Dann ist er wohl noch auf der Suche nach seinem Weg mit dieser Störung einen Umgang zu finden.
Ich möchte nicht "grandiose Literatur" mit Banalitäten ad absurdum führen, aber es gibt Grund zur Annahme, dass bipolare Störung durch das Weglassen von Kohlenhydraten bzw. deren restlose Verbrennung in den Griff zu bekommen ist. Ich finde, das Buch hat erst dann seine Berechtigung, wenn der Autor auch diesen Weg probiert hat. Ich weiß nicht, ob er das getan hat. Aber wenn ich lese, dass er zu "dickmachenden Tabletten" gegriffen hat, gehe ich davon aus, dass er diese von Ärzten bekommen hat. Und die werden ihm die Sache mit den Kohlenhydraten wohl kaum erzählt haben; Ärzte sind nicht dafür bekannt, dies zu tun.
Melle hätte das Buch erst schreiben dürfen, wenn er keine Kohlenhydrate mehr gegessen hätte?! Hallo, aufwachen, er hat es nicht geschrieben, weil er zu viel Weißbrot aß, sondern weil die Niederschrift dieser schweren Erkrankung eine Notwendigkeit für den Autor darstellt. Für so einen Kommentar sollten Sie sich schämen, "coupdoeil!