Er
zieht seinen Zauberstab hervor, tippt damit sanft auf ein Stück Pergament
und sagt: "Ich schwöre feierlich, dass ich ein Tunichtgut bin."
Und sofort breiten sich von dem Punkt, den George Weasley berührt,
dünne Tintenlinien wie ein Spinnennetz aus. Wörter erblühen auf dem Blatt, in verschnörkelter Schrift, die
verkünden: "Die Karte des
Rumtreibers". Es ist eine
Karte, die jede Einzelheit der Hogwarts-Schule
für Zauberei und des Schlossgeländes zeigt. Doch wirklich erstaunlich sind die
kleinen Tintenpunkte, die sich darauf bewegen, jeder mit einem Namen
in winziger Schrift.
Verblüfft beugt sich der junge Zauberer Harry Potter über die Karte. Ein beschrifteter Punkt oben links zeigt, dass der Schulleiter Professor Dumbledore in seinem Büro auf und ab geht; Mrs Norris, die Katze des Hausmeisters, treibt sich im zweiten Stock herum, und Peeves, der Poltergeist, hüpft gerade im Pokalzimmer auf und ab. Harry Potter wird in den folgenden Schuljahren die Karte noch häufig benutzen, um sich aus dem Schloss zu schleichen.
Vor zwanzig Jahren erschien der erste Band von Joanne K. Rowlings Harry-Potter-Romanen. Mehr
als 450 Millionen Mal haben sich die sieben Bände
bis heute verkauft. Für eine ganze Generation von Lesern ist Harry
Potter die erste prägende Erfahrung mit Literatur: Jeder der Bände schildert eines von Harrys Schul- und Lebensjahren. Harry wird mit seinen Lesern
erwachsen, kommt in die Pubertät, verliebt sich, muss zur Berufsberatung. Mit der Erfindung zahlreicher Zaubersprüche,
magischer Transportmittel und Zaubereiinstitutionen konstruiert J. K.
Rowling eine Parallelgesellschaft, die
zeitweise gesellschaftlich und technologisch von unserer Realität
heimgesucht wird. Das gilt einerseits für das fiktive
Gesellschaftsbild innerhalb der Zaubererwelt, andererseits für viele
von Rowlings Ideen, die, in Zaubersprüche verpackt, einige
Entwicklungen der Digitalisierung vorwegnehmen.
So beschwört ihre Idee der eingangs beschriebenen Karte des Rumtreibers, ein allwissendes Stück Pergament, auf dem alle Räume und Straßen von Hogwarts verzeichnet sind, unangenehm stark eine Version der zukünftigen Google Maps. Die Karte bestimmt den Standort und die Bewegungen aller Personen als kleine, sich bewegende Punkte in Echtzeit.
Eine ungebrochene Heldenfigur
Wer
den Erfolg eines Buches wie der Soziologe Siegfried Kracauer als das "Zeichen
eines geglückten soziologischen Experiments" sehen will, sieht
sich mit gesellschaftlichen Fragen konfrontiert. Die sozialen
Verhältnisse der Leser treten als mögliche Erfolgsursachen vor den
Inhalt des Romans. Erfolgreiche Literatur wird zum Spiegel der
Gesellschaft, weil sie Ideen entwickelt, die sich mit den kulturellen
Leitideen und Weltanschauungen vieler Leser deckt. Zu solchen
Spiegeln wird die Literatur nicht etwa durch einfachen Realismus,
sondern dadurch, dass sie die Tagträume der Menschen abbildet und
mitunter verborgene Gefühle aufgreift.
Bestsellerliteratur ist dabei aus analytischer Perspektive ein Glücksfall. An ihr lässt sich ablesen, welche Themen und Darstellungen gerade ein Lebensgefühl repräsentieren und womöglich auch welche Darstellungen sie ablehnen. Bei Bestsellern ist es nicht mehr wichtig, dass man sie liest, sondern nur, wie man sie liest, welchen Eindruck sie hinterlassen und wie sie in die eigene Lebensrealität implementiert werden. Was sagt also der Erfolg der Romane aus über ihre Leser und die Zeit, in der sie leben?
Da
wäre die Hauptfigur Harry Potter, der während der gesamten sieben
Bände eigentlich keine böseren Gefühle als ein wenig Eifersucht
und Hass empfindet. Diese ungebrochene Heldenfigur ohne Fehl und
Tadel fügt sich aber in ein homogenes Gesamtbild. Die gesamte
Zaubererwelt funktioniert nur unter Ausschluss des Anderen, die
Fronten zwischen Gut und Böse sind trennscharf gezogen: Harry
Potter, seine Freunde und das magische Zaubereiministerium auf der
einen Seite, gegen Lord Voldemort und seine Todesser auf der anderen
Seite. Dabei könnte man das politische System im magischen
Großbritannien als antidemokratisch bezeichnen, es verneint
die Gewaltenteilung, ernennt den Zaubereiminister ohne demokratische Wahlen, unterstützt eine radikale Rassenideologie und
unterdrückt die einzige Tageszeitung im Land: den Tagespropheten.
"Ich bin Schlammblut und stolz drauf!"
Die
vielen Parallelen zu heutigen Entwicklungen zeigen Gemeinsamkeiten
zwischen Romanwelt und Wirklichkeit auf: J. K. Rowling greift in der
Konzeption der Zauberergemeinschaft auf schon bestehende
gesellschaftliche Mechanismen zurück, wie der rassistische Konflikt
zwischen der magischen Bevölkerung mit "reinen" magischen
Vorfahren und den Zauberern, die nicht als Kind magischer Eltern geboren
wurden, zeigt: Sie werden unter der abwertenden Bezeichnung
"Schlammblüter" diskriminiert. Hermine Granger, Harry Potters
beste Freundin, die von einigen Zauberern als Wesen zweiter Klasse
angesehen wird, betont: "Ich bin Schlammblut und stolz drauf!"
Sie benutzt damit als Selbstbeschreibung einen Begriff, der in
unserer nicht magischen Realität als menschenverachtend gelten würde
und thematisiert damit en passant die Debatte um Political
Correctness (die politisch korrekten Bezeichnungen eines
Schlammblütigen sind "Muggelgeborener" und "Muggelstämmiger").
Während die gegenwärtigen Vertreter der Political Correctness auf die Dimension der Sprache als Machtinstrument hinweisen, sieht Hermine Granger in der korrekten Bezeichnung "muggelstämmig" die Unfähigkeit begründet, die Ursachen des Rassismus in der Zaubererwelt zu überwinden. Sie nennt sich selbst "Schlammblut" und weist damit auf die Realität ihrer Situation als diskriminierte und verfolgte Gruppe innerhalb der Zauberergemeinschaft hin.
Ein magischer Shitstorm
Erzählungen
wie Harry Potter zeigen nicht nur, womit sich eine Gesellschaft
beschäftigt, sondern zeichnen ein Bild von der Zukunft. Insbesondere
Science-Fiction ist ein Mittel, durch das die Gegenwart
vorprogrammiert wird. Da wären zum Beispiel die Werke des Autors
William Gibson. Neben dem Internet, künstlicher Intelligenz und
autonom fahrenden Autos findet sich kaum eine Idee, die sich nicht in
Realität verwandelt hätte. Dabei würde Gibson nicht sagen, dass er
die Zukunft vorhergesagt hätte, sondern dass die vermeintlichen
Vorhersagen lediglich aus einer ungewöhnlich genauen Beschreibung
der Welt entstünden.
Die Frage nach der Genauigkeit der Beschreibung
stellt sich auch bei Rowling. Eingebaut in das real existierende
Großbritannien Ende der neunziger Jahre erschafft sie eine
heterotopisch anmutende Parallelwelt, die gesellschaftliche
Entwicklungen spiegelt und im Feld der Fiktion vorwegnimmt. Magie
ersetzt in diesem Epos beispielsweise die Digitalisierung. In
der Zaubererwelt gibt es keine technischen Geräte; ihre Welt
funktioniert weitgehend analog. Motorisierte Transportmittel werden
durch fliegende Besen, Portschlüssel oder sekundenschnelles
Apparieren ersetzt, ein landesweites Netzwerk von Kaminen erlaubt
Reisen und Kommunikation über weite Distanzen. In der Zaubererwelt
bewegen sich Staturen, Bilder in Fotoalben, Figuren auf Gemälden und
die Bilder auf den Titelseiten des Tagespropheten auf magische Weise,
deswegen werden Instagram, Videos oder Gifs nicht benötigt.
Die Entwicklung hin zu einer Gesellschaft der bewegten Bilder scheint sich in beiden Welten zeitgleich ereignet zu haben. Ob die Flut der Bilder den Menschen auf magische Weise erreicht oder in den digitalen Timelines der Social-Media-Kanäle ereilt, ist dabei nur von gradueller Bedeutung. Die Zeitung in der Zaubererwelt wird personalisiert mit Posteulen zugestellt, deswegen hat der Verlag keine Digitalstrategie und keine Paywall. Und würde Harry Potter skypen wollen, bräuchte er bloß eine Handvoll Flohpulver in den Kamin zu werfen, um kniend seinen Kopf an einen anderen Ort zu befördern. Weil es kein Social Media gibt, können sich Zauberer einen Heuler zustellen lassen, der dann wahlweise anfängt zu brennen oder Stinksaft verspritzt und bei ohrenbetäubenden 130 Dezibel seinen Unmut kundtut: ein magischer Shitstorm. In den Büchern beschreibt Rowling eine reale Welt, die sich um ein paar Zentimeter Magie verschoben hat.
Science-Fiction als Kreativmethode
Science-Fiction-Literatur wird gerade dort interessant, wo sie Ideen und
technologische Innovationen fernab ihrer Realisierbarkeit als Systeme
ausdenkt und ihnen so den Weg für eine eventuelle Verwirklichung
ebnet. "Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie
nicht zu unterscheiden", lautet eines der drei Gesetze des
britischen Physikers und Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke. Er
beschreibt Science-Fiction als produktive Kreativmethode. Wenn das
Digitale das Magische ist und andersherum, spricht nichts dagegen,
Harry Potter als Inkubator für die Digitalisierung zu lesen.
Es gibt in den Bänden kaum ein menschliches Bedürfnis, für das sich Rowling keinen innovativen Zauberspruch ausgedacht hat. Jeder der rund 112 Zaubersprüche könnte problemlos als Vorlage für ein digitales Start-up herhalten. Das schnell geflüsterte Lumos wurde bereits durch die schnelle Taschenlampenfunktion des iPhones ersetzt. Der "Muffliato" (engl. muffle = Geräusche dämpfen, unterdrücken) erfüllt die Ohren von jedem in der Nähe mit einem undefinierbaren Brummen und könnte somit als Mittel gegen störende Nachbarn auf der Hausparty zum Einsatz kommen. Der "Imperio-Fluch", mit dem ein Zauberer anderen seinen Willen aufzwingt, funktioniert ähnlich wie ein Hacking-Angriff.
Ein Desiderat der Digitalisierung
Ein
von der Digitalisierung noch zu erfüllender Wunsch wäre Rowlings
Erfindung des Denkariums,
ein steinernes Gefäß, das Erinnerungen und Gedanken in der Form von
Gedankensträngen aufbewahrt und bei Bedarf für sich und für andere
abspielt. Kaum jemand, der in der letzten Zeit nicht von einer
solchen Erfindung geträumt hätte. In Teilen wird dieses Bedürfnis
in der Gegenwart auch schon befriedigt, wenn belastende
Excel-Tabellen in die Cloud und lästige To-dos in digitale Listen
abgelegt werden, damit man sich nicht mehr an sie erinnern muss.
Der tatsächlichen Funktion des "Denkariums", nämlich Erinnerungen teilbar zu machen, kommen diese digitalen Entsprechungen nicht nah genug. Am ehesten vergleichbar ist der Wirkmechanismus noch mit Virtual-Reality-Filmen: Hier bekommt der Zuschauer tatsächlich das Gefühl, wie im "Denkarium", in die Erzählung eintauchen zu können und kommt damit unserer Vorstellung von Erinnerungen als etwas Filmischem sehr nahe. Doch der Film kann bislang nicht die Erinnerung eines tätigen Gehirns abbilden. Das "Denkarium" zeigt eine Erinnerung subjektiv gefärbt, mit allen Gerüchen und in allen Farben, eben so, wie sie vom Erinnernden wahrgenommen wurde. Erinnerungen teilbar zu machen bleibt ein Desiderat der Digitalisierung.
Science-Fiction-Literatur hat nichts mit jener Zukunft zu tun, die irgendwann Gegenwart wird. Aber ihre Erzählungen beeinflussen uns. Sie bereiten den Boden für das, was noch kommt. Wenn Science-Fiction eine genaue Beobachtung der Gegenwart ist, bleibt zu fragen, wovon Harry Potter wohl handeln würde, wenn J. K. Rowling heute anfangen würde zu schreiben. Und ob es möglich wäre, ihn als positiven Entwurf der Gesellschaft zu lesen.
Kommentare
Jaja, wer sucht, der wird wohl auch in einem Kinderbuch, dessen Geschichte in einer Zauberwelt spielt, parallelen zur Digitalisierung finden.
Hier wurden Vergleiche gezogen, die meiner Meinung nach, völlig an den Haaren herbeigezogen sind.
Warum an den Haaren herbeigezogen?
Das einzige was eher falsch ist, sind die Bezeichnung Digitalisierung - den darum geht es nicht, sondern um Nachrichten , Kommunikation und Tätigkeiten , die Digitalisierung ist nur ein nützlicher Technischer Aspekt gewesen , der mit groben Mitteln eine leichte Implementierung sehr komplexer Nachrichtenübertragung und Verarbeitung ermöglicht hat. Eine Entwicklung die übrigens dort nicht bleiben wird , weit komplexere Systeme wie Holograme und Quantenkommunikation werden andere Möglichkeiten schaffen.
Ja, kürzlich las ich die Bibel, darin fand ich die erste Idee für das Internet, ferner...
Ich finde diesen Artikel klasse. Parallelen zur heutigen Gesellschaft in Romanen, die fernab von dieser interagieren, zu suchen und finden, ist einfach hervorragend. Ich denke, dass viele Autoren (auch Rowling) ihre eigenen Intentionen der Inhalte ihrer Bücher haben. Selbst wenn Rowling nie auf Digitalisierung oder Rassismus hindeuten wollte, so ist es dennoch interpretierbar und die Parallelen, die der Artikel aufweist, sind kaum zu leugnen.
Aaaaber: Die Karte des Rumtreibers erhält Harry Potter (glaube ich) im dritten Teil, weswegen er sie keine weitere sechs Schuljahre benutzen kann. :-)
Und genau deswegen mochte ich "Gedichtsinterpretationen" etc. in der Schule NIE:
Selbst wenn Rowling nie auf Digitalisierung oder Rassismus hindeuten wollte, so ist es dennoch interpretierbar und die Parallelen, die der Artikel aufweist, sind kaum zu leugnen.
Man projeziert seine eigenen Gedanken in den Text, und behauptet dann: "Die Intention des Autors...." (siehe Ihre Feststellung: . Ich denke, dass viele Autoren (auch Rowling) ihre eigenen Intentionen der Inhalte ihrer Bücher haben)
Imho reiner BS, v.a. wenn der Autor schon seit Jahrhunderten die Welt von 3 Meter unter der Erdoberfläche betrachtet.
Bisschen OT, aber trotzdem: Anstatt Schülern iwelchen Schwachsinn in Texte interpretieren zu lassen, sollte man sie z.B. über Besitzverhältnisse und Abhängikeiten in der deutschen Medienlandschaft aufklären.
Leider gibt es in diesem Artikel einige nur sehr oberflächliche Analysen der Harry Potter Bücher - so ist die Welt keineswegs in Gut und Böse eingeteilt, wie vor allem an der Figur Severus Snape deutlich wird, ebenso wird die Zeitung nicht personalisiert und muss auch wie üblich bezahlt werden.
Der Ansatz des Artikels ist interessant, bleibt dabei aber oberflächlich... Schade, dabei bietet dieses Universum sehr viel Potenzial. Nächstes Mal bitte etwas genauer recherchieren :)
Das Problem ist nur, dass "Harry Potter" an sich in diesem Artikel gar nicht analysiert wurde, sondern was uns die Ideen aus Science-Fiction und Fantasy über unsere eigene Welt sagen können.