ZEIT ONLINE: Herr Mishra, in Ihrem aktuellen Buch Das Zeitalter des Zorns geht es um die Krisen der Gegenwart, um den globalen Terrorismus, den Aufstieg rechtsnationaler Gruppen und Parteien in Europa, Amerika und Asien. Eine zentrale Rolle spielen in ihrer Analyse "entfremdete junge Männer". Wieso?
Pankaj Mishra: Weil sie eine entscheidende demografische Gruppe der modernen Welt sind, heute mehr denn je. Viele Staaten durchlaufen gerade Prozesse der Modernisierung, ob Südafrika, Indien oder Länder im Nahen Osten. Die jungen Männer dort sind teils ausgebildet, um in den Städten in Fabriken oder ähnlichem zu arbeiten. Allerdings verfügen diese Gesellschaften meist weder über das wirtschaftliche Wachstum noch über die politischen Institutionen, um alle diese jungen Männer zu integrieren. Dadurch entsteht ein riesiger Frust, weil massenhaft Ambitionen ins Leere laufen. Es sind genau solche jungen Männer, die traditionell empfänglich sind für nationalistische Bewegungen, militante Anarchisten und Demagogen, die zum Kampf aufrufen.
ZEIT ONLINE: Es handelt sich also um kein neues Phänomen?
Mishra: Nein. Wir haben uns bloß daran gewöhnt, zornige junge Männer, die gewalttätig werden, primär als Phänomen zu deuten, das etwas mit Religion, speziell dem Islam, zu tun hätte. Das ist intellektuell und politisch kontraproduktiv. Man ignoriert damit die lange Geschichte des Terrorismus, in der Religion nie eine entscheidende Rolle gespielt hat. Vielmehr hat das mit jungen Männern in ausweglosen Verhältnissen zu tun, die versuchen, Gefühle von Wut und Machtlosigkeit mit spektakulären Gewaltakten zu überwinden. Dieses Muster kann man bereits im 19. Jahrhundert beobachten: in Russland, Spanien, Italien und den Vereinigten Staaten. Menschen aller Religionen und Nationalitäten haben Terrorismus als Mittel benutzt, um politische Ziele zu erreichen oder um ihre Verachtung für die Gesellschaft, in der sie leben, zu zeigen. Dieser Wunsch nach Zerstörung kommt nicht von außerhalb, sondern ist Teil moderner Gesellschaften.
ZEIT ONLINE: Sind irrationale Gewalt und Gefühle der Verachtung demnach eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Modernisierung präindustrieller Gesellschaften?
Mishra: Wir haben heute vergessen, dass dieser Modernisierungsprozess immer schon extrem gewalttätig war. Nicht bloß im Hinblick auf Kriege, sondern auch strukturell betrachtet: Menschen erlebten damals in Europa einen Prozess der Entwurzelung und Entfremdung von ihren Familien, ihren Gemeinden, von den Dingen, die Individuen psychologischen Halt geben. Heute passiert eben das zum Beispiel in Indien, wo unzählige Leute die Erfahrung machen, in extrem jungem Alter ihr Zuhause zu verlassen, um zum Arbeiten in die Städte zu gehen. Dabei bleibt keine Zeit für charakterliche Entwicklung in einem stabilen Umfeld. Solche Menschen werden in der Folge oft anfällig für das, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als "autoritäre Persönlichkeit" bezeichnen: Leute wie Donald Trump oder der indische Premierminister Narendra Modi, die eine toxische Sprache verwenden und sämtliche Konventionen zerstören. Solche Figuren, die sich als starke Männer inszenieren, können für psychologisch labile Menschen eine Quelle der Kompensation sein.
ZEIT ONLINE: Sie argumentieren, dass wir auch deshalb Probleme haben, die gegenwärtigen Krisen zu verstehen, weil wir zu stark der Vorstellung vom Menschen als rational handelndem Wesen anhängen.
Mishra: In der Tat. Diese Idee vom vernunftbestimmten Menschen wurde von den Philosophen der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert zum ersten Mal systematisch artikuliert. Im 19. Jahrhundert haben viele Denker diese Idee in der Folge stark kritisiert. Dostojewski etwa zeigte, dass Menschen mitnichten so einfach definiert werden können, sondern innerlich gespaltene Wesen voller widersprüchlicher Bedürfnisse und Motivationen sind. Friedrich Nietzsche und später Sigmund Freud haben ebenfalls mit Nachdruck darauf verwiesen. In den letzten 30 Jahren haben wir den Kontakt zu diesem intellektuellen Erbe fast völlig verloren. Die Folgen dieses Vergessens sind katastrophal. Speziell nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 hat sich eine extrem einfältige, ökonomisch geprägte Vorstellung des Menschen etabliert, derzufolge wir allein unserem wirtschaftlichen Eigeninteresse folgen und dadurch einen Beitrag zum Gemeinwesen leisten.
Kommentare
"Oft reagieren solche Gesellschaften damit, dass sie sagen: Unsere Eroberer mögen mehr Macht, Geld und Ressourcen haben, aber wir sind moralisch und kulturell überlegen. "
"ZEIT ONLINE: Wir müssen die Geschichte aus der Sicht der Verlierer betrachten?"
Der Besiegte weint, der Sieger geht zugrunde.
So Philosophen der Antike schon dazu.
Man hat das Trauern verlernt und das ehrliche, offene (öffnende) Weinen sowieso.
Gutes Interview, danke.
Ein sehr empathischer Mensch.
Er gehört genau zu der Kategorie, über die Machtmenschen nur lachen und drüber walzen, wenn sie ihre Ziel verstellt sehen.
Das mit den jungen Muslimen hat Scholl-Latour auch immer gesagt. Nach der Auflösung der Sowjetunion gibt ist in der Region nur noch eine gangbare Alternative zur westlichen Lebensart und das ist die Religion.
Je mehr der Westen auf sein Ding beharrt, seine Soldaten schickt, seine Drohnen bomben lässt, seine Umstürze organisiert, umso tiefer wird der Graben zwischen Orient und Okzident.
Mir bricht das Herz, wenn ich beobachte wie heute in deutschen Großstädten lebende Muslime ihren Töchtern zum 14. Geburtstag einen schwarzen Niqab schenken. Die 14-Jährigen vor 20 Jahren hätten gar nicht gewusst, was das ist, und hätten den Schenkern den Vogel gezeigt, wenn sie es ihnen erklären.
Dann kam 9/11 und G.W. Bush und seine Mannen ergriffen die große Chance zu einen neuen großen Feind beim Schopf. Die zehn Jahre in überwiegender Langweile darbenden Mitstreiter des sogenannten nordatlantischen Verteidigungspakts machten begeistert mit und schalteten von Langeweile auf Attacke.
Seither haben sie wieder Orientierung im Leben. Zu ihrem großen Glück kam ab dem Ukraine-Putsch 2014 der alte und sehr vermisste Spielgrund des Kalten Krieges auch noch dazu. Endlich konnte man dem sich seit Jahren anbiedernden Herrn in Russland die eh schon zu lang verkniffenen Antworten offen und mit vollem Hass entgegen werfen.
"Die größten Fortschritte in diesem Bereich wurden aber im Zuge der beiden Weltkriege gemacht, weil Frauen als Arbeitskraft gebraucht wurden, während die Männer kämpften. " - Woran macht er das fest? Viele der wesentlichen gesetzlichen Änderungen erfolgten in Friedenszeiten und teils deutlich vor bzw. nach den Weltkriegen.
Wer hat in D das Frauenwahlrecht durchgesetzt? Katholische Politiker?
Den großen Durchblick in deutscher Geschichte scheint der Herr nicht zu haben.
Jedes wettbewerbsorientierte System führt zu Verlierern (das können ganze Länder sein oder auch Individuen). Wenn sich diese Verliererrolle verfestigt, entsteht Widerstand gegen das System.
Die philosophische Grundfrage ist für mich, ob das Prinzip Wettbewerb in der Natur verankert ist und wir daher gar nicht anders können - wie der Löwe, der ein besserer Jäger ist sich wahrscheinlicher fortpflanzt und wahrscheinlicher überlebt als der faule Löwe - oder ob wir als kulturell entwickelte Wesen in der Lage sind, das Wettbewerbsprinzip zu überwinden und solidarisch und sozial zu sein. Die Vordenker des Kommunismus sind eher von letzterem ausgegangen, doch der Misserfolg der aus diesen Gedanken entstandenen realen Staaten deutet eher darauf hin, dass sich das Prinzip Wettbewerb wohl doch nicht überwinden lässt.
Wenn der Text hier sagt, wir sollten die Perspektive der "Verlierer" annehmen - dann ist was genau damit gemeint? Dass wir den Terror nicht als Auswuchs einer Religion ansehen, sondern als Folge eines wettbewerbsorientierten Wirtschaftssystems, bei dem bestimmte Länder die Verlierer sind? Ja, das sehe ich auch so. Nur die praktische Konsequenz ist mir nicht klar. Mehr Almosen an Hilfsorganisationen spenden? Doch wieder auf ein weltweit kommunistisches System hinarbeiten, in dem alle gleich an den Ressourcen partizipieren? Und was ist mit den begrenzten Grundstücken am Starnberger See? Wie teilen wir die auf?
Ich denke, im menschlichen Zusammenleben ist sowohl Wettbewerb wie Solidarität angelegt, wobei Solidarität eher in der Gruppe ausgeübt wird (aber nicht nur) und Wettbewerb eher nach Außen (wobei die Gruppen sehr verschieden zugeschnitten sein können: Familie, Firma, Land, Sippe Staat etc.)
Was Herr Pankaj sagt kommt mir ziemlich gut vor. Ich werde das Buch mal lesen. Es könnte ein Beitrag sein, dass verkrustete Denken in Deutschland und Europa aufzubrechen und neu zu beleben. Das ist dann ein gutes Beispiel, dass die Welt Vielfalt braucht, um sich immer wieder aus Denk- (und anderen) Sackgassen zu befreien. In Europa alleine sind wir im Moment zu sehr in Gefahr in einem universellen Einheitsdenken zu erstarren.
"Es könnte ein Beitrag sein, dass verkrustete Denken in Deutschland und Europa aufzubrechen und neu zu beleben."
Mir kam das alles eher wie verkrustetes Denken, wie es westliche Soziologen am laufenden Band produzieren.