Nitrozellulose, Katzenberger, Primzahlen, Wulff, Bachelor, Grevenbroich, SoundCloud und Bundesliga sind die Themen der schnellsten Nachrichten Deutschlands: Was auf Twitter im Sekundentakt durchläuft, ist mal trivial, mal klug, mal provinziell, mal weltbewegend. Vor allem aber so flüchtig, dass der Leser all dieser Informationen nur schwer habhaft wird.
Weil das Auge immer langsamer ist als das Ohr, haben die Berliner Musiker Anselm Venezian Nehls und Carl Schilde den deutschen Twitterstrom hörbar gemacht. Tweetscapes heißt ihr Projekt, das die beiden 30-jährigen Klangkunststudenten zusammen mit Deutschlandradio Kultur und dem Citec Institut der Uni Bielefeld umgesetzt haben.
Aus beliebigen, unvorhersehbaren Worten sollte Klang werden, eine Sonifikation. Aber wer kann diese ungeheure Übersetzungsarbeit leisten? Nehls hat einen Code programmiert, auf dessen Basis ein Computer alle Twitterdaten umrechnet. Aus der Buchstabenkombination jedes Schlagworts beispielsweise wird ein individueller Zahlenwert, der einen virtuellen Synthesizer steuert. Dieser Synthesizer bedient sich unter Millionen von Samples und Klängen in einem riesigen Soundarchiv, wählt eines aus, bearbeitet es und spielt es aus. Alles automatisch, alles völlig neutral. "Die Katzenberger kann mal laut sein, und genauso kann die Revolution laut sein", sagt der Programmierer.
Aber wo bleibt dann die Kunst? Hört man eine persönliche Note? "Ich habe ganz zu Anfang ein Geschmacksurteil getroffen", sagt Anselm Nehls. "Es ist mein ästhetisches Urteil, dass ich mich für die Granularsynthese entschieden habe und dass mein Klangmaterial aus einem bestimmten Archiv stammt."
Die Verklanglichung nichtmusikalischer Daten ist keine neue Disziplin. Wir kennen sie beispielsweise in Form des Geigerzählers, der elektronischen OP-Instrumente oder der akustischen Einparkhilfe. Klangkünstler und Komponisten haben sich schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der musikalischen Interpretation von Formen, Zahlen oder Bildern befasst – die Filmmusik mag als ein besonders plastisches Beispiel gelten.
Wenn Kunst und Wissenschaft zusammenkommen, müssen Grenzen ausgelotet werden. Sonifikation steht meist im Spannungsfeld zwischen nüchterner Validität und ästhetischem Anspruch. "Es ist eine künstlerische Möglichkeit der Erzeugung von Klangmaterial, dass man einem gegebenen Datensatz folgt", sagt Anselm Venezian Nehls. So hat Alvin Lucier 1993 ein Foto vom Alpenpanorama in Klang übersetzt und Florian Dombois arbeitet seit Jahren an der Verklanglichung von Erdbebendaten.
Am Bielefelder Citec Institut hat man 2003 für das Campusradio eine Wettervorhörsage entwickelt, die Meteorologie mit Klängen erklärte. So kam der Wissenschaftler Thomas Hermann ins Spiel, er begleitet auch Tweetscapes: "Ich achte darauf, wie die Twitternachrichten klanglich umgesetzt werden. Tweetscapes ist eine systematische Verklanglichung, da greift niemand ein. Nur die Daten beeinflussen den Klang. Diese Bedingung muss erfüllt sein, damit man durch das Hören des Klangs etwas über die zugrunde liegenden Informationen lernen kann."
Kommentare
Zwitscher
Danke für den Artikel, ich habe gerade mal reingehört.... Ob die Frage, wo denn dann die Kunst bleibt, abschließend geklärt ist, bleibt wohl Geschmackssache.
Faszinierend und gleichzeitig erschreckend ist das ungemeine Bedürfnis nach Information und Geltung, das soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook hervorrufen.
Wen interessiert es, was ich heute zum Frühstück gegessen habe oder wie meine Meinung zur Trennung prominenter Pärchen ist?
Was wird da befriedigt, wenn solcher Krimskrams gepostet oder gelesen wird?
Macht es unser Leben reicher, wenn wir mehr Informationen ansammeln oder loswerden?
(Und warum gebe ich hier meinen Senf zum Besten?)
Lieber Innehalten als Tweets verwalten.
verwaltungskunst
statistik-oder diagramm musik? oder bürokratiemusik?
Die geographische Position...
... lag aber sehr daneben als ich es eben ausprobiert habe, umgefähr 350 km.
Da haben die Programmierer noch zu tun!
Kunst-Satire???
Liebe Rabea Weihser,
danke für diese Kunst-Satire, ich habe schon lange nicht mehr über einen Artikel so gelacht. Oder war das etwa ernst gemeint?