Die alte Kleiderordnung ist längst passé, im Alltag trägt ein jeder, was
ihm passt, und selbst in Theatern und Konzerthäusern sind Jeans und
bunte Kombinationen durchaus üblich. Lediglich bei den gerade laufenden
großen Festspielen in Salzburg oder in Bayreuth ist die edle Garderobe
noch ungeschriebenes Gesetz.
Während aber die Gleichstellung der Geschlechter überall die schönsten Fortschritte macht, herrscht beim festlichen Auftritt eine fundamentale Ungleichheit. Die Frauen, die man in diesem Fall durchaus Damen nennen darf, tragen fantastische Roben in allen Farben und Formen. Während die Herren sich uniform im dunklen Anzug oder schwarzen Smoking präsentieren, und allenfalls die Wahl des Schlipses erlaubt ihnen kleine Kühnheiten. Man kennt das Bild: Zwischen lauter Pinguinen schweben prächtige Paradiesvögel.
So war es auch bis vor wenigen Tagen in Salzburg, und man müsste das nicht erwähnen, wären nicht mitten in die Festspiele glühende Sahara-Winde eingebrochen. Bei 38 Grad im Schatten hilft selbst der Schatten nichts mehr, der dunkle Anzug wird zum Schweißtuch. Und nichts lässt erwarten, dass es an diesem Wochenende besser wird; die Meteorologen prognostizieren weiter heftige Hitze.
Neid erfüllte deshalb zuletzt den männlichen Besucher, als er die Damen in zarten, luftigen Stoffen erblickte, und zum ersten Mal begriff er die doppelte Bedeutung des Dekolletés: Es dient nicht allein der erotischen Inspiration, sondern auch der leichteren Transpiration.
Voller Bewunderung beobachtete man den Dirigenten Ingo Metzmacher, der
das riesige Orchester, flankiert von Schlagzeug-Truppen, in der
tropischen Nacht zu furiosen Leistungen anstachelte.
Es war die deutschsprachige Erstaufführung der Oper Gawain von Harrison Birtwistle, die auch heute wieder gespielt wird. Dass der Beifall mäßig war, hatte nicht nur mit der Hitze zu tun. Die Lichtkünstler von Raketamedia aus Moskau lassen die steinernen Bögen der Felsenreitschule in Flammen aufgehen, und das ist so realistisch, dass man unwillkürlich nach Fluchtwegen Ausschau hält.
In der Pause floss nicht nur der Champagner in Strömen, sondern auch der
Schweiß, und jetzt geschah das Undenkbare: Die Herren entledigten sich
ihrer Jacken und öffneten die Kragen. Auf einmal wirkte die Szene wie
ein Betriebsausflug.
Zwar wollten alle, die sich auf der Gala-Premiere
zeigten, eine gute Figur machen. Aber vor der guten Figur kam der
Überlebenswille, Not kennt kein Gebot. Und während sonst das Publikum
vor dem Festspielhaus zu flanieren pflegte, um zu sehen und gesehen zu
werden, verzog es sich nun ins Innere, wo es eine Spur weniger heiß war.
Was soll aus den Salzburger Festspielen, die noch bis zum 1. September
dauern, bloß werden? Wird man schon heute Smokings mit kurzen Hosen
tragen? Wird man Saunatücher ausgeben? Oder Christoph Ransmayrs Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis?
Man hört übrigens von
Touristen im Death Valley, die versuchen, Spiegeleier in der Sonne zu
braten. Salzburg ist eine reinliche Stadt, die derlei ungern sähe. Aber
niemand weiß, was da noch passiert.
Kommentare
Große Festivals
... dabei dachte ich jetzt spontan an Hurricane, Wacken und Rock am Ring - und das machte gleich doppelt neugierig, inwiefern man da über eine Kleiderordnung schreiben könnte ;-)
Absolut
Ich hatte den gleichen Gedanken, bin aber einen Schritt weiter gegangen: "Was ist denn seltsam an einem Frack mit Shorts, wenn man auf Wacken ist?"
Der Klimawandel
Bald sitzen sie wahrscheinlich alle nur noch in Badehosen da.
Schönheit und Stil
"Zit: "Zwischen lauter Pinguinen schweben prächtige Paradiesvögel." Hin und wieder können sich die Männer ja mal zurückhalten, damit die Frauen glänzen können. Da nimmt man halt ein paar Perlen, immerhin auch noch glänzend benannt, als Folge des Schwiitzens, in Kauf.
Und Schönheit kommt doch nur in geordneter Umgebung zur Geltung. Das heisst allerdings nicht, dass ein "Kramladen" in dem was entdecken kann, nicht auch seinen Charme hätte.
Vom Anbehalten der Jacke: Ein kurzer Predigttext von John Galt
Wer wahrlich etwas auf die guten Sitten hält zieht sein Jackett auch bei 38 Grad nicht aus. Gesundheitliche Notfälle bilden freilich eine Ausnahme. Aber sofern die betreffenden Herren nicht grade Schwächeanfälle erleiden, sei soviel gesagt: Diese Hemdsärmeligkeit sieht unmöglich aus. Das gilt für den geschäftlichen wie auch den gesellschaftlichen Bereich. Und wenn man schon schwitzt - und das tut man auch im Hemd, dann macht man mit Jackett immer noch eine bessere Figur. Ohne - und am besten noch mit gelockerter Krawatte- wirkt man schlichtweg vollends derangiert.
Es ist eine Frage der Haltung...auch wenn das heutzutage, wo alles praktisch sein muss, kaum mehr jemand versteht. Dass jene unerträgliche Schludrigkeit nun auch schon bei den großen Festspielen Einzug hält, ist bedauerlich. Vielleicht kann man hier cum granu salis einen großen moralischen Bogen zum Werteverfall auch bei den Eliten spannen.^^
Haltung und Stil war Sache unserer Großväter. Heute gibt es Jack Wolfskin Zip-Hosen. Und man schludert hemdsärmelig durchs Festspielhaus. Na ja...Castorf wollte ja auch ursprünglich echten Döner auf der Bühne braten. Fügt sich alles irgendwie auf erschreckende Weise zusammen.
Noch einer der die Verpackung
mit dem Inhalt verwechselt.
Es mag Grenzen geben, aber die Kleiderordnung unserer Großväter hältnicht einmal der Prediger von heute ein. Eins jedenfalls ist klar, eine Predigt bestimmt nicht die anlassbezogen akzeptierte Bekleidung, das regelt die gesellscaftliche Konvention und die verändert sich halt mit der Zeit.
Der Prediger mag irgendwan im Frack wie ein schwarzer Fels in der Brandung der lockerer (und trotzdem angemessen) Gekleideten stehen. Ob er und seine Predigt dadurch gewinnen?