Julia Holter – Aviary (Domino/GoodToGo)
Julia Holter hat es mit den Vögeln. Schon auf ihrer letzten Platte überlegte die Songwriterin und Multiinstrumentalistin aus Los Angeles, das Singen ganz ihren Lieblingstieren zu überlassen. "Vielleicht eine Option für das nächste Konzeptalbum", sinnierte man damals in dieser Kolumne. Nun ist Holter fertig mit dem besagten nächsten Konzeptalbum, und sie hat es Aviary genannt, also "Vogelhaus". Das Singen übernimmt sie zwar immer noch selbst – an einigen Stellen jedoch in einem seltsamen Trällerton, der tatsächlich ihre Version von Vogelgezwitscher sein könnte. Wir sagen mal: Tschirp!
Ornithologische
Freudenfeste haben Tradition im zeitgenössischen US-Folk. Schon auf dem letzten
Album der Harfenistin Joanna Newsom übernahmen kriegstreibende Vögel eine
Hauptrolle. Sufjan Stevens soll außerdem einen ganzen Liederkreis zum selben
Thema in der Schublade haben. Newsom und Stevens müsste man aber selbst dann im
Zusammenhang mit Holter erwähnen, wenn es keine Überschneidungen in den
jeweiligen Lufträumen gäbe. Ihre wagemutig komponierten, arrangierten und
getexteten Lieder sind der vielleicht letzte gegenwärtige Fixpunkt für Aviary,
das bisher ambitionierteste und weitschweifigste Album von Julia Holter.
Zwei harte Fakten zur Platte: Sie besteht aus 15 Songs und dauert 90 Minuten. Alles
andere an Aviary ist flüssig, befindet sich im Prozess der Auflösung,
wechselt scheinbar beliebig den Aggregatzustand. Nie zuvor war Holters
Feinglieder-Folk so schwer zu greifen wie hier, nie war man sich beim Hören
sicherer, dass einem gerade Großes durch die Finger rinnt. Es wird Jahre
dauern, die Botschaften und Anspielungen dieser mit Bläsern, Streichern,
Harfen, Keyboards und Percussion beladenen, jedoch stets federleichten Songs zu
entschlüsseln. Oder, um es mit Oswald von Wolkenstein zu sagen: "Zidiwick,
zidiwick, zidiwick / Ziflicgo, ziflicgo, Nachtigall."
Soap&Skin – From Gas To Solid/You Are My Friend (Pias/Rough Trade)
Ein
echter Kindergeburtstag ist dagegen das neue Album der Wiener Songwriterin Anja F. Plaschg. Auch auf From Gas To Solid/You Are My Friend, ihrer dritten
Platte unter dem Pseudonym Soap&Skin, geht es ganz offensichtlich um Übergangszustände
und Zwischenwelten. Hier hat das jedoch mit der Geburt einer Tochter und deren
Spielzeuginstrumenten zu tun, sowie einer Hinwendung zur Welt und deren Schönheit,
die Plaschg am Ende des Albums etwas zu folgerichtig mit einem Cover von Louis
Armstrongs What A Wonderful World besiegelt.
Interessanter ist der Weg dorthin: Die bisher als Nörglerin und Ultrapessimistin geschätzte Plaschg öffnet sich und ihren kammermusikalisch ausgestalteten Piano-Pop für neue Farbtöne, die zumindest ins Hellgraue hineinreichen. Italy ist Urlaubs- und Selbstheilungsmusik, in der die Beerdigungsbläser auf geradezu vergnügte Trommelwirbel treffen. (This Is) Water illustriert eine Rede des schlauen David Foster Wallace als Kurzchoral, an dem es nichts zu verstehen, aber viel zu fühlen gibt. Und überhaupt das Kirchliche: Es spricht aus dem Gestus und der zeremoniellen Strenge dieser Platte – obwohl sie natürlich von einer Kirchgängerin stammt, die schon im Teenageralter zur Abtrünnigen geworden ist.
Georgia Anne Muldrow – Overload (Brainfeeder/Rough Trade)
Der Las Vegas Strip ist ein knapp sieben Kilometer langer Boulevard, der an Casinos,
Hotels, sehr schönen Springbrunnen und einem wirklich hässlichen Nachbau des
Eiffelturms vorbeiführt. Die Reeperbahn auf Steroiden und schlechtem Schnaps,
Stolz und Schande einer ganzen Stadt – zu der die Straße streng genommen gar
nicht gehört. Betrachtet man die Sache geografisch, liegt der Strip nämlich außerhalb der City of Las Vegas.
Betrachtet man sie gesinnungstechnisch und fragt eine Einwohnerin wie Georgia
Anne Muldrow, gilt das sowieso.
Die Musikerin ist vor einigen Jahren nach Las Vegas gezogen und versteht sich als Teil einer experimentellen Soul-, Rap- und Jazzszene, die abseits von Rampen- und Neonlicht ihr eigenes Ding macht. So gut und zugänglich wie auf Overload klang das noch nie. Es ist Muldrows 17. Album im zwölften Karrierejahr, eine kleinteilige Zusammenstückelung aller denkbaren Stile der sogenannten Black Music, zusammengehalten durch das extrem sinnvolle übergeordnete Thema Zusammenhalt. Muldrow sucht ihn im Kreis ihrer kleinen Familie und in der schwarzen Community ihrer missverstandenen Heimatstadt. Wirft man so großzügig mit Ideen, Sounds und Melodien um sich wie sie, ist das schon mal ein guter Anfang.
Thom Yorke – Suspiria (XL/Beggars/Indigo)
Thom
Yorke macht Horrormusik, das ist schon seit Ende der Achtzigerjahre so. Die
Lieder seiner Band Radiohead handeln von der Chancenlosigkeit des Einzelnen
gegen die Ungerechtigkeit der Restwelt, von Menschen, die unter Gleichgesinnten
vereinsamen, von Technologie, die sich gegen ihre Schöpfer wendet, von
Unternehmen, die ihre Angestellten zertrampeln, von Vampiren, Kannibalen, bösen
Wölfen und Hexen. Manchmal handeln sie auch von der Liebe und davon, wie sie
uns alle retten könnte. Aber niemals wird.
Neu ist hingegen, dass Thom Yorke Horrorfilmmusik macht. Suspiria ist der erste Soundtrack des 50-Jährigen aus Oxford, komponiert für eine Neuauflage des gleichnamigen Films von Dario Argento. Wer sich eine klangliche Entsprechung dieses Satzes vorstellen kann, wird von den 25 Songs und atmosphärischen Düstereinschüben nicht überrascht werden. Entweder hat der Remake-Regisseur Luca Guadagnino sehr genaue Vorstellungen an Yorke übermittelt. Oder der Musiker war ohnehin im Modus der knarzenden Türen und ominös dröhnenden Synthesizer unterwegs. Immer schön aber: wenn sich Yorke für ein richtiges Lied ans Klavier setzt und dem Horror damit Form und Erträglichkeit gibt.
Kommentare
"Immer schön aber: wenn sich Yorke für ein richtiges Lied ans Klavier setzt und dem Horror damit Form und Erträglichkeit gibt."
Sehr schön sogar. Die Instrumentierung in Kombination mit seinem Gesang ist wirklich wunderbar. Allerdings könnte man hier noch anmerken, dass es außer dem hier verlinkten "Suspirium" nur noch drei weitere solche Lieder gibt ("The Balance Of Things", "Has Ended" und "Unmade", plus "Suspirium"-Fortsetzung), von insgesamt 29 Titeln.
Ist es mal wieder soweit, 4 Produktionen aus der laufenden Woche anzupreisen, die alte Hunde hinter dem Ofen hervorlocken sollen. Dann mal sehen, was sich heute ergibt.
- Julia Holter: klingt wie eine Mischung aus Minnie Riperton ("Lovin You"), Laurie Anderson ("Blue Lagoon"), n bischen Sigur Ros und noch was, wo mir grad der Name nicht einfällt. Ganz nett, mir n bischen zu prätentiös vielleicht.
- Soap&Skin: ist mir echt n Tönchen zu dick aufgetragen. Im Grunde nicht schlecht, aber eigentlich hab ich alles schon mal irgendwo anders gehört.
- Georgia Anne Muldrow : Das ist doch dasselbe in Grün, nur daß es diesmal aus dem "Black Music"-Fach des Plattenladens stammt. Nur halt mit Beats und minimalistischer. Auch ok.. aber vom Hocker reißt mich das auch nicht.
- Thom Yorke: Das langweiligste aus dem Quartett. Kann ich nicht viel mit anfangen.
Nettes Dahingeplätschere, mehr kann ich zu den heutigen Neuvorstellungen nicht sagen.
"eine kleinteilige Zusammenstückelung aller denkbaren Stile der sogenannten Black Music"
Der Begriff war eine Erfindung der deutschen Musikindustrie, und wird auch nur im deutschsprachigen Raum so verwendet. Jedenfalls war das mal so, wurde "Black Music" nicht vor einiger Zeit politisch korrekt durch "HipHop & RnB" abgelöst? Ragtime oder Gospel war damit jedenfalls nicht gemeint.
Hier mal ein Beispiel echter Black Music, das neue Album von Azaghal ;)
https://www.youtube.com/w...
Und wieder ein durchhauender Beweis dafür, dass die Kollegen von der PC-Fraktion wirklich jeden noch so absurden Quatsch zu glauben bereit sind, wenn er nur in ihr schmales Weltbild passt. "Erfindung der deutschen Musikindustrie", "wird nur im deutschsprachigen Raum so verwendet", "durch 'Hip-Hop & RnB abgelöst"- wer setzt so einen Vollstuss eigentlich in die Welt? Langsam nervt's.
https://en.wikipedia.org/...
Vogel - Mehrzahl Vögel - wann wird das endlich mal kapiert, oder es müsste heissen singt beim V.....n und das bedeutet was ganz anders
[ ] du kennst Dativ Plural