Eigentlich
fallen bei Coldplay nur Luftballons und Konfetti vom Himmel, aber diesmal sind
auch Bomben dabei. Orphans heißt einer der zwei Songs, den die Band aus
London ihrem neuen Album Everyday Life vorausgeschickt hat. Für ihren Sänger
und bisherigen Kalenderspruchtexter Chris Martin ist er ungewöhnlich
spezifisch: Zu lautmalerischer Percussion berichtet das Stück von Luftangriffen alliierter Streitkräfte auf
Damaskus und stellt ihnen die Schönheit der betroffenen Landschaft, Kultur und
Menschen gegenüber. Zwischen blühenden Pfirsichbäumen, leuchtenden Kinderaugen
und gelegentlichen Detonationen entsteht ein Szenario, das ein erfindungsbegabter Reporter nicht
stärker hätte beschreiben können.
Coldplay
sind jetzt also im Kitschkrieg unterwegs. Everyday Life ist ein politisches
Album, ein weit gefasster Versuch, die aktuelle Weltlage mit jenem Mission-Statement in Einklang zu bringen, das die Band schon vor 20 Jahren im ersten
Refrain des ersten Songs auf ihrem ersten Album abgegeben hatte. We live
in a beautiful world, hieß es damals, und diese beautiful world gilt
es nun zu verteidigen gegen Kriegstreiberei und Waffenhandel, Polizeigewalt und
die Konfliktherde im Miteinander der Religionen. Für eine Band, die bisher als
höchste Instanz der gepflegten Poplangeweile galt, ist das ein beachtlicher
Sprung.
Chris Martin und seine Unifreunde haben Coldplay 1996 gegründet. Was als
Gitarrenmusik mit begrenzten Mitteln und unbegrenzt schlabbernden Cordhosen
begann, sollte sich im Lauf der Jahre zur zeitweise größten Band der Welt ausweiten. Noch heute füllen Coldplay Stadien, in denen sich die meisten anderen
Rockgruppen nicht einmal eine Dauerkarte des ansässigen Fußballclubs leisten können.
Ihre Alben erscheinen im Dreijahrestakt und verschieben die Regler nur so
weit zwischen Folk-Bekümmerung und Neonreklamen-Pop, dass Millionen von
Plattenkäufern verborgen bleibt, wie Coldplay immer wieder den gleichen Witz
ohne Pointe erzählen.
Gerade
recht kam dieses Programm auch der vermeintlichen Popelite. Lange vor Ed
Sheeran und Mumford & Sons waren Coldplay die eine Band, die man mit ganzer
Leidenschaft hassen konnte. Auf Basis ihrer Songtitel zwischen heads full of
dreams und skies full of stars entstanden Trinkspiele, von denen
sich zahllose lads full of booze nie wieder erholen sollten. Coldplay
kopierten nacheinander Radiohead, U2 und Avicii, ohne sich jemals nennenswert
zu verändern. Ihre Konzerte absolvierten sie jahrelang im Aufzug spätmittelalterlicher
Weltumsegler – und veranschaulichten damit, welche Folgen ein Ausrüstervertrag
zwischen Marc O’Polo und Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band gehabt hätte.
Und
schließlich der Sänger. Mit gutem Willen kann man Chris Martins Erscheinung als
subversive Performancekunst verstehen, die allen Rockstarklischees der vergangenen
60 Jahre das Gefahrenpotenzial austreibt. Der studierte Altphilologe heiratete
eine berühmte Schauspielerin und gab den gemeinsamen Kindern die Erblast
absurder Rufnamen mit auf den Weg. Er trat ein für vagen
Weltverbesserungsaktivismus und ergänzte seine Persönlichkeit um ebenso vage
Extravaganzen. Er versuchte, mit dem Rauchen anzufangen. Wie seine Songs ist
aber auch Martin immer derselbe geblieben. Ein Starbucks-Cappuccino voll
lebensbejahender Hafermilch, dem ein weiterer Espressoshot sicherlich nicht geschadet
hätte.
Für
das Haltbarkeitsdatum einer zertifiziert größten Band der Welt sind
Massenliebe und Popelitenhass ungefähr gleich gefährlich. Entweder verliert man
sich im Trubel hinter Tor eins, oder man zerreibt sich am Ärger über Tor zwei.
Coldplays größte Leitung ist deshalb, dass es sie immer noch gibt. Geradezu
stoisch lassen die Menschen in England das Schaffen der Band über sich ergehen –
wie die Londoner Mietpreise, die Zeitungen von Rupert Murdoch oder ihre Prime
Minister. Sogar Wohlwollen schlägt Coldplay inzwischen entgegen. Der Guardian
nannte sie kürzlich "die versponnenste aller Popbands". Der NME, dessen
Printversion Coldplay bereits überlebt haben, beteuerte, dass auch Hipster die
Band heimlich verehrten.
Kommentare
schon klar.
coldplay sind eine dieser bands die man als "experte" nicht einfach nur "gut" finden darf.
dafür war das in den letzten jahren alles zu "mainstream" und zu "stadion". zu "fröhlich", zu"glatt".
an dem aktuellen werk ist wenig bis garnichts anders,als an den letzten wie ich finde. genauso "gut" und genauso "hörbar" . natürlich sind chris martin und seine band-kumpels nicht die meister des "geraunten imperfekts" , oder die godfather der experimentellen musik". deswegen verkaufen sie auch millionen ihrer tonträger und packen stadion auf stadion voll. mich stört das nicht. es beeinträchtigt nicht die angenehme, gute unterhaltung die ich empfinde wenn ich das höre.
wenig erstaunlich das kürzlich auf einer geburtstagfeier einer der anwesenden ,tequilla-schwanger bedeutete: "coldplay ist DIE typische "ok-boomer-band". alles muss eben ein label haben. sonst kommen wir nicht mehr klar ob der ganzen komplexität.
vielleicht ist herr gerhardt trotz seines versöhnlichen fazits zum schluss auch nur ein bisschen gepis....d dass nicht alles "alte" immer auch so gut und so überlebensfähig ist wie coldplays musik. wie "spex" zum beispiel, eine musikzeitschrift die er als chefredakteur selbst zu grabe tragen musste, einsehend das man die zeichen der zeit komplett verpennt hatte (online content).
coldplay haben garnichts verpennt finde ich. die machen was sie gut können.und ganz offenbar geht es vielen menschen genauso wie mir.
Word!
Menschen, die einfach ihr Ding durchziehen und auch noch Erfolg haben, sind der größte Feind derer, die der Sache leistungslos ihren Stempel aufdrücken wollen.
Coldplay wird mir persönlich iwann langweilig und eintönig, ein Album ist erst dann "gut", wenn ich es wie S&M, Dark Side of the moon, oder ein cooles Kalkbrenner Set mehrmals hintereinander hören kann.
Aber deren Sound finde ich schon cool, vorallem auch gut abgemischt. Da übersteuert und klirrt kaum was.
Hab das Neue noch nicht gehört, erwarte aber keine Überraschung.
Gestern was von der neuen Coldplay gehört, ... grottenschlecht.
Das Album mal ausnahmsweise blind gekauft. Hätte ich lassen sollen. Ich teile ihre Meinung. Nicht ein interessantes Lied enthalten. Wenn ich das mit dem aktuellen Tool Album vergleiche. Eine halbe Stunde länger und keine zwei Minuten Langeweile. Coldplay hat das kreative Ende scheinbar erreicht.
Der Artikel ist gut geschrieben, das aendert aber nichts daran dass die Musik trotzdem irgendwie ziemlich gut komponiert ist!
Das Problem der Musik-Kritik: eigentlich ist alles längst gesagt. Wenn man sich das Konzert in Jordanien ansieht: es geht schon noch deutlich schlechter.
"um mit Everyday Life endlich ihr Schicksal zu erfüllen"
Ich dachte das hätten sie schon längst - ist die Band doch zuverlässiger Songlieferant für amerikanische/kanadische Krankenhaus und Feuerwehrserien. ;p