Die neoklassische Wirtschaftslehre regiert nicht mehr. Zwei ihrer fundamentalen Glaubenssätze wurden durch die Finanzkrise überzeugend widerlegt: Die Ökonomie sei – erstens – ein autonomes Sozialsystem, das eigenen, universellen Gesetzen gehorche und in das der Staat und andere Akteure möglichst nicht intervenieren sollten. Zweitens sorge der Markt für eine optimale, effiziente und in gewisser Hinsicht auch gerechte Organisation von Produktions- und Konsumprozessen.
Das Gegenteil ist richtig: Wirtschaft und Gesellschaft sind nicht zu trennen, und Märkte brauchen Kontrolle. Das Versagen der globalen Finanzwirtschaft und seine Folgen – eine immense Vernichtung von Kapital, steigende Arbeitslosigkeit und Armut – haben das bewiesen. Für eine angemessene Kontrolle zu sorgen ist aber nicht nur Aufgabe des Staats. Die Konsumenten können ebenfalls zur Zähmung der Märkte beitragen. Wir nennen das die "Moralisierung der Märkte". Es ist ein Trend, der schon vor der Finanzkrise bestand, aber durch sie verstärkt wurde. Zugleich kann er zur Lösung der Krise beitragen.
In den wohlhabenden Ländern regt sich schon länger Kritik an der reinen Marktlogik. Nichtregierungsorganisationen, Bürgerinitiativen und Verbraucherschützer stellen dem puren Gewinnstreben der globalisierten Wirtschaft den Schutz nicht-kommerzieller Güter entgegen. Sie verfolgen vielfältige Ziele, kämpfen beispielsweise für einen ökologisch verträglichen Baumwollanbau, fordern eine transnationale Besteuerung von Kapitalflüssen oder kritisieren die staatlichen Rettungsaktionen für die Finanzbranche.
Zwei Entwicklungen haben diesen Trend gesellschaftlichen Engagements befördert, der lange unglücklich als "Postmaterialismus" bezeichnete wurde: Die Industriestaaten haben ein zuvor nie gekanntes Wohlstandsniveau erreicht, und ihre Bürger sind gebildeter als jemals in der Geschichte.
Der steigende Wohlstand hat innerhalb von 100 Jahren grundlegende volkswirtschaftliche Parameter fundamental geändert. Früher gab ein durchschnittlicher OECD-Haushalt etwa 80 Prozent aus, um seine Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Unterkunft) zu decken. Heute sind es nur noch 30 Prozent. Die Realeinkommen stiegen im selben Zeitraum um das Vier- bis Fünffache. Es ist augenscheinlich, dass die Theorien und Konzepte einer Ökonomie, die vor einem gänzlich anderen, heute anachronistischen Hintergrund entstanden sind, einer Revision bedürfen.
Nie zuvor haben Gesellschaften einen solch hohen Wissensstand erreicht wie heute. Wissen und Informationen stehen in umfassendem Maße zur Verfügung. Moderne Wohlstandsgesellschaften sind geprägt durch eine allgemeine Bildung, institutionalisierte Sozialversicherungssysteme, technologischen Fortschritt, veränderte Produktionsprozesse und eine umfassende Medialisierung. Sie unterscheiden sich grundlegend von früheren Gesellschaften, die von Analphabetismus, Armut und individualisierter Ohnmacht beherrscht wurden.
Trotzdem denken wir bis heute vielfach vermittels jener Urteile über den Markt, die vor 100 Jahren gebildet wurden. Die bis heute verbreitete Vorstellung des Marktes – von hilflosen und leicht manipulierbaren Konsumenten bevölkert – muss überarbeitet werden. In Wahrheit besitzt der Konsument die Macht, durch seine Kaufentscheidungen die Marktprozesse zu beeinflussen.
Zwar sei darauf hingewiesen, dass der allgemeine Zuwachs an Wohlstand, so wirkmächtig er sich zeigt, nicht automatisch zu einer gerechten Verteilung des angewachsenen Reichtums führt. Ganz im Gegenteil: In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Wohlfahrtsstaat in den wohlhabenden Ländern geschwächt, und das soziale Klima hat sich deutlich abgekühlt. Der soziale Wandel ging einher mit stagnierenden oder sinkenden Reallöhnen, neuen Arbeitskämpfen, dem Abbau von Sozialleistungen. Dennoch geht es den Bürgern der modernen Marktwirtschaften immer noch so gut wie nie zuvor.
Kommentare
Die Produktion schafft den Konsumenten
"Aber es ist nicht nur der Gegenstand, den die Produktion der Konsumtion schafft. Sie gibt auch der Konsumtion ihre Bestimmtheit, ihren Charakter, ihren finish. Ebenso wie die Konsumtion dem Produkt seinen finish als Produkt gab, gibt die Produktion den finish der Konsumtion. Einmal ist der Gegenstand kein Gegenstand überhaupt, sondern ein bestimmter Gegenstand, der in einer bestimmten, durch die Produktion selbst wieder [zu] vermittelnden Art konsumiert werden muß. Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabel und Messer gegeßnes Fleisch befriedigt, ist ein andrer Hunger, als der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt. Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion, sondern auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion produziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv. Die Produktion schafft also den Konsumenten.
Quelle
Lieber Herr Eich,
es fehlt noch die Quelle: Marx, Karl (1857): Zur Kritik der politischen Ökonomie. Hdschr. Rohfassung. Siehe hier.
Allerdings passt das Zitat hier m. E. nicht besonders gut. Vielleicht wäre es angebracht, zwei Punkte des Artikels kritisierend hervorzuheben:
1. benötigen die Verbraucher, um die ihnen eignende Macht anzuwenden, verlässliche Information über die sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen ihrer Kaufentscheidungen. Die Autoren meinen:"Wissen und Informationen stehen in umfassendem Maße zur Verfügung...." - und sie haben vielleicht sogar recht damit; allerdings gäbe es, würde diese Information ein ökonomisch bedeutender Faktor sein, weder die aufdringliche und überhaupt nicht auf die Eigenschaften der Ware bezogene Art Reklame, wie wir sie ständig erdulden müssen, noch hätten Lobbyverbände großen Einfluss auf breite Politiker- und damit Wählerschichten.
Eher ist zu beobachten, dass die Information selbst in den Medien zum Werbeträger geworden ist. So kann sie den Verbrauchern (noch?) nicht dienen.
2. verwechseln Stehr/Adolf, wie so viele, den Median mit dem arithmetischen Mittel: Wenn "wir" so reich geworden sind, dass wir unsere Grundbedürfnisse locker mit 30 Prozent unseres arithmetisch gemittelten Monats- Nettoeinkommens befriedigen können, so kann das auch bedeuten, dass von 1000 Konsumenten einer ca. 2100mal das Existenzminimum zur Verfügung hat, während die restlichen 999 nach wie vor 80 Prozent ihres Gehalts dafür aufwenden müssen.
Der eine Reiche wird sich jedoch nicht gemäß seinem Anteil am Erwirtschafteten dem Konsum hingeben, sondern eher Anlagemöglichkeiten dafür suchen (und bei zunehmendem Ungleichgewicht der Einkommensverteilung eine Disparität zwischen Kaufkraft und Investment-Möglichkeiten erzeugen, die in eine "Finanzkrise" wie der jetzigen münden kann), und wenn er ein ethisch handelnder Mensch ist, wird er die Anlagemöglichkeiten gemäß aufwändig ermittelter Moral-Rankings auswählen - aber die Macht in Händen der aufgeklärten Verbraucher bleibt eine (wünschenswerte) Illusion.
Das Gegenteil ist richtig:
Das Gegenteil ist richtig: Wirtschaft und Gesellschaft sind nicht zu trennen, und Märkte brauchen Kontrolle. Das Versagen der globalen Finanzwirtschaft und seine Folgen – eine immense Vernichtung von Kapital, steigende Arbeitslosigkeit und Armut – haben das bewiesen. Für eine angemessene Kontrolle zu sorgen ist aber nicht nur Aufgabe des Staats.
Um Ihnen hier zuzustimmen müste man den Grundgesetz ändern und alle Lobiisten aus der Politik rausschmeisen und zusätzliche masnahmen einführen zum beispiel gegen die ansicht ,wohle eines einzigen zu lasten vieler. Und das Arbeitssystem müsste auch umgeschrieben werden zur besseren Sozial gerechteren verteilung der arbeits leistung system.
"Wie es sein sollte" ...
... führt bekanntlich selten dahin, wo man sich eine Entwicklung hinwünscht. So ist es theoretisch natürlich völlig richtig, dass der Konsument mit seinen Kaufentscheidungen über eine große potentielle Macht verfügt. Faktisch richtig, und das sollte der Kulturwissenschaftler doch wesentlich klarer erkennen, als der gemeine Ökonom, ist doch eher die Tatsache, dass der politisch und wirtschaftlich völlig un- und fehlinformierte Konsument seine Kaufentscheidungen viel weniger einer schön gedachten Moral unterwirft. Vielmehr unterliegt er ganz anderen Einflüssen wie Werbung, wirtschaftliche Not (oder Überfluss), persönlichem Geschmack, Politik, Gesellschaft und seiner Peer-Group.
Der unmündige Käufer hat weder den nötigen Abstand, noch die mentale Kapazität hier regulierend moralisch Einfluss zu nehmen. Insgeamt gesehen sind die ethnischen Fonds, Bürgerinitiativen und Verbraucherschutzorganisationen eher ein Tropfen auf den heißen Stein - wenn auch mehr als wichtig. Gehen wir aber von den realen Verhältnissen aus, so wirkt sich der Bildungsstand der Bürger - das haben wir in den letzten Jahrzehnten und mit dem letzten Crash überdeutlich zu spüren bekommen - im Sinne einer moralischen und allen zugute kommenden Lösung der Krise der Wirtschaftssysteme eher kontraproduktiv aus.
Es ist ein Zeichen der Zeit, dass wir uns alle gern so individuell und unabhängig sehen wollen - daher glauben wir auch an eine grundlegende Wahrheit hinter dem Ruf nach "Verantwortung" seitens Politik und Wirtschaft. Letzten Endes erfahren wir aber in den letzten Jahren, dass dies nichts weiter heißt als ein tiefer Griff in den Geldbeutel, ohne den entsprechenden Ausgleich seitens der Obrigkeiten (Wirtschaft ausdrücklich darin enthalten).
Dass der Konsument heute eher in der Lage ist, ins Marktgeschehen einzugreifen, liegt klar auf der Hand. Dass er dies nicht tun wird, ebenso. "Ökonomisch rationales Verhalten" ist nur seitens der Konzerne und Poilitik hinsichtlich Geld- und Machtgier zu beobachten. Hier liegt die Verantwortung begraben - nicht aufseiten derjenigen, die nicht in der Lage sind Verantwortung zu übernehmen.
So sollte es sein
So sollte der Konsument im Markt sein und am besten auch der Wähler in der Politik.
Fazit aus dem Beitrag: Deshalb liegt die Lösung der gegenwärtige Krise in der Überwindung überkommener Verhaltensweisen der Marktteilnehmer.
Für mich verhält es sich wie mit der Politik. Wir scheinen zu wissen woran es liegt, aber wissen jedoch auch, das der größte Teil der Akteure im jeweiligen System viel zu bequem ist. Worauf soll ich jetzt hoffen?
Nicht Überschätzen
Der Konsument hat im freien Markt eine potentielle grosse Macht. Doch Konsumenten sind auch egoistisch und leicht vergesslich. Wenn das Produkt ihm zusagt dann ist es ganz ganz schwer ihn von der Zweckmäßigkeit irgendwelcher hehren Ideale zu überzeugen.In Einzelfällen kann es es klappen.Aber als "5. Macht" im Staat taugen Konsumenten wenig.