Als Recep Tayyip Erdoğan vor einigen Tagen forderte, Türkinnen sollten mindestens drei Kinder haben, twitterte eine deutsche Spötterin, das habe der türkische Präsident doch bestimmt bei der Alternative für Deutschland (AfD) abgeschrieben. Hat er natürlich nicht. Aber die Argumente, mit denen die AfD für die Drei-Kind-Familie als gesellschaftliches Leitbild wirbt, klingen tatsächlich sehr ähnlich. Es gehe darum, "das Überleben des eigenen Volkes, der eigenen Nation sicherzustellen", sagt beispielsweise Frauke Petry, eine der drei AfD-Parteisprecherinnen und Vorsitzende des Landesverbandes Sachsen. Erdoğan sagt, die Frauen sollten "die türkische Nation unterstützen".
Nun ist in Deutschland glücklicherweise die Neigung, Kinder für die Nation zu zeugen, sehr klein. Dazu sind Erinnerungen an Slogans, die deutsche Frau müsse dem Führer Kinder schenken, immer noch zu präsent. Erst seit einigen Jahren gilt es ja überhaupt als legitim, dass die Regierung sich um eine höhere Geburtenrate bemüht. Vorher standen selbst harmlose familienpolitische Ideen schnell unter dem Verdacht, eine Fortsetzung der rassistischen Bevölkerungspolitik der Nazis zu sein.
Inzwischen heißt es bei allen Parteien, man wolle jungen Erwachsenen helfen, sich Kinderwünsche zu erfüllen. Die konkrete Familienpolitik der vergangenen zehn Jahre zielte aber vor allem auf Eltern mit ein oder zwei Kindern. Es ging vor allem um die sogenannte Vereinbarkeit von Beruf und Familie – zahlreiche Maßnahmen vom Elterngeld bis zum Kitaausbau sollen vor allem Müttern helfen, auch mit Familie berufstätig zu sein. Vor allem die Sozialdemokraten betonen, der Ausbau der Infrastruktur, bessere Kitas und Ganztagsschulen seien wichtiger als zum Beispiel das Kindergeld.
Doch damit Mittelschicht-Eltern sich für das dritte oder vierte Kind entscheiden können, brauchen sie vor allem Geld. Wenn Eltern mehr als zwei Kinder haben, müssen sie meistens mehrere Jahre mit einem Gehalt auskommen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben. Großfamilien brauchen größere Autos, größere Wohnungen, andere Urlaubskonzepte. Auch wenn die Kleinen die Hosen der Geschwister auftragen und wenn die Großen den Kleinen Nachhilfe geben, bleibt das Leben in der Großfamilie teuer. Man muss sich das leisten können. Es ist kein Zufall, dass in Deutschland vor allem Wohlhabende und Hartz-IV-Empfänger viele Kinder haben. Für Dauer-Arbeitslose kann sich kurzfristig der finanzielle Druck ja sogar verringern, wenn sie viele Kinder haben.
In Skandinavien gibt es einen neuen Trend zum dritten oder vierten Kind – bei gut verdienenden Akademikern. Eine große Familie gilt als etwas, was man sich leisten kann und will. In Frankreich unterstützt die Politik solch ein Denken seit Langem mit ihrer Steuerpolitik: Für das dritte Kind gibt es einen viel größeren Rabatt bei der Einkommensteuer als für das erste.
In Deutschland gibt der Staat so viel Geld für Familien aus, dass sich so eine Politik sogar ohne zusätzliche Kosten finanzieren ließe. Man müsste nur den Mut und die Kraft haben, die Ausgaben für Familien etwas sinnvoller zu gestalten.
Das würde am Ende wahrscheinlich auch die Geburtenrate erhöhen. In der öffentlichen Diskussion geht es immer darum, warum jungen Erwachsenen der Mut zu Kindern fehlt, dabei ist der Anteil der Kinderlosen hierzulande gar nicht so viel höher als in anderen Industrieländern. Genauso häufig fehlt der Mut zum dritten oder vierten Kind.
Kommentare
Mittelschichteltern
Mal davon abgesehen, dass ich die Bindestrichkrankheit nicht verstehe, sind es doch gerade die Mittelschichtseltern, die sich drei oder vier Kinder leisten könnten, aber an ihren eigenen Idealen scheitern, weil sie dann ja weniger Geld in die Gesamtheit der Ausbildung ihrer Kinder stecken könnten. Man will schließlich nicht, dass die Kinder sich selbst etwas erarbeiten müssen. Die sollen gut gepolstert ins Leben gehen und nichts soll schwer fallen. Vielleicht hatte ich aber in den letzten Tagen auch zu viel mit Helikoptereltern und Kindern mit unergründlicher Anspruchshaltung zu tun, sodass mein Blick getrübt ist.
ein Leben...
ohne Urlaub in Übersee, Theaterdauerkarte und iPad ist schließlich unerträglich, wo kommen wir denn da hin? Da kann man sich eben gerade so ein Kind leisten, obwohl, Das wars dann nicht nur mit dem Urlaub, sondern auch mit der eigenen Gleichberechtigungsideologie wenn das Kind ganz "unnatürlich die ersten Jahre wie Leim an der Mama klebt.
" ... dass die Regierung sich um eine höhere Geburtenrate bemüht
Eine überaus hübsche Formulierung!
Die sehr schön ausschliesst, WARUM denn "die Regierung" sich um eine höhere Geburtenrate bemüht.
Nicht etwa, weil es Christenpflicht oder ein Gebot des Grundgesetzes ist, hier lebenden Kindern (und deren Eltern) ein abgenehmes, interessantes und sicheres Leben zu bieten.
Sondern weil "die Wirtschaft" es so will. Arbeitskräfte braucht. Steuerzahler.
Schon Kinder nach Nutzwert.
Schlimmer noch!
Die Wirtschaft braucht nämlich einen Überschuss an gut qualifizierten Arbeitskräften, um die Lohnquote weiterhin drücken zu können.
Laut der ETH Zürich ist die Schweiz eines der wenigen Industrieländer, dessen Lohnquote seit 1980 nicht gesunken ist. Hauptursache war ein relativer Arbeitskräftemangel durch den abgeschotteten Arbeitsmarkt.
Und nun fragen wir uns: Hat das der Schweiz oder den Schweizern geschadet? Ist die Schweiz ein riesiger kommunistischer Gulag mit Mauer und Schießbefehl?
Ich stimme Frau Niejahr ausdrücklich zu...
...da alle Prognosen zur Entwicklung der Erdbevölkerung ja eindeutg zeigen, dass wir in einigen Jahrzehnten verschwunden sein werden. Dem gilt es entgegen zu steuern!
Und das Beste ist: Wir Bewohner der ersten Welt haben einen ökologischen Fussabdruck, der 3-9 mal über der carrying capacity liegt. Somit lohnt es sich bei uns erst recht Kinder zu bekommen, das gibt einen wunderbaren Multiplikator-Effekt!
Wer bitte ist WIR?
"...dass wir in einigen Jahrzehnten verschwunden sein werden".
Und wen schließen Sie alles aus dem WIR aus?
" brauchen sie vor allem Geld "
Ich denke, es braucht zunächst Akzeptanz in der Gesellschaft. Nachbarn werden schon bei einem umherspringenden Kind nervös, und überlegen, ob das Jugendamt oder die Feuerwehr zuständig ist, wenn der Geräuschpegel höher ist, als das Zwitschern der Vögel.
In der Türkei stehen Kinder höher im Kurs, als Haus, Auto und sonstige materielle Errungenschaften. Lernt man Jemanden kennen, lautet nicht die Frage hast du Kinder, sondern wieviele?
Und es geht nicht mehr darum, dass die Kinder später ihre Eltern versorgen sollen. Es ist eine lebensbejahende Einstellung, abseits aller rationalen Überlegen.
Das Parteien abseits des demokratischen Spektrums dieses Defizit für ihre Probaganda nutzen, kann man nicht verhindern. Aber man könnte in einer breiten Debatte aufklären; hierzu wäre eine große Koalition nützlich. Aber der Industrie und deren Proteges passt dies vermutlicht nicht so recht in den Kram, denn der flexible Zweibeiner, möglichst ohne "Anhang", ist für die Industrie nach wie vor am lukrativsten.